Wahrscheinlichkeit

[1263] Wahrscheinlichkeit. (Schöne Künste)

Das Wahre ist für die Vorstellungskraft, was das Gute für die Begehrungskraft ist. Wie wir nichts begehren können, als in so fern wir es für gut halten, so können wir auch in die Masse unsrer Vorstellungen nichts aufnehmen, als was wahr scheinet. Darum ist Wahrscheinlichkeit in dem, was die Werke der Kunst uns vorstellen, eine wesentliche Eigenschaft. Es ist nicht genug, daß das, was der Künstler uns sagt, oder vorstellt, wahr, oder in der Natur vorhanden sey, wir müssen es auch für etwas würkliches, oder mögliches, oder glaubwürdiges halten; denn sonst wenden wir gleich die Aufmerksamkeit davon ab, als von einem Gegenstand, den wir weder fassen, noch für würklich halten können.

Darum soll die erste Sorge des Künstlers darauf gerichtet seyn, daß der Gegenstand, den er uns vorzeichnet, wahrscheinlich sey, daß wir ihn für etwas gedenkbares, oder würkliches halten. Diese Wahrscheinlichkeit ist im Grunde nichts anders, als die Möglichkeit, oder Gedenkbarkeit der Sache. Es kann dem Künstler gleichgültig seyn, ob der Gegenstand, den er schildert, in der Natur würklich vorhanden sey, oder nicht; ob das, was er erzählt würklich geschehen sey, oder nicht. Es ist nicht seine Absicht uns von dem, was vorhanden, oder geschehen ist, zu unterrichten; sondern die Vorstellungskraft, oder die Empfindung lebhaft zu rühren. Ist das, was er uns vorstellt, nur gedenkbar, nur möglich, so kann er unbekümmert seyn, ob es auch in der Natur irgendwo vorhanden sey. Ein paar Beyspiehle werden hinlänglich seyn, uns eines mühesamen Beweises, daß in den Künsten, das Mögliche, [1263] die Stelle des Würklichen vertreten könne, zu überheben. Der unmittelbare Zwek des Künstlers ist allemal entweder die Vorstellungskraft, oder die Empfindung lebhaft zu rühren. Hiezu ist das Mögliche eben so schiklich, als das Würkliche. Klopstok will uns einen sehr lebhaften Begriff von der Gemüthslage geben, in der sich Kaiphas, nach einem satanischen Traume befindet, und bedienet sich dazu des Gleichnisses, eines in der Feldschlacht sterbenden Gottesläugners:


– – Wie tief in der Feldschlacht

Sterbend ein Gottesläugner sich wälzt; u.s.f.1


Hier ist es völlig gleichgültig, ob jemals ein solcher Fall würklich vorgekommen sey, oder nicht; genug, daß das Bild gedenkbar und passend ist. Wäre nie ein Atheist in der Welt gewesen, oder wäre nie einer in diesen Umständen umgekommen, so dienet dennoch das Bild, da wir es uns lebhaft vorstellen können, um das Gegenbild mit großer Lebhaftigkeit darin zu erbliken. Zum Zwek des Dichters war Möglichkeit und Würklichkeit völlig einerley. Eben so verhält es sich, wenn Empfindungen zu erweken sind. Ob ein solcher Mann wie Homer den Ulysses schildert, in der Welt vorhanden sey, oder nicht; genug, daß wir uns ihn vorstellen können; die bloße Vorstellung ist hinlänglich, unsre Bewundrung zu erweken.2 Also können durch das blos Mögliche Vorstellungskraft und Empfindung eben so lebhaft, als durch das Würkliche gerührt werden. Das Erdichtete ist so gar ofte weit schiklicher, als das Würkliche; denn ofte ist dieses wegen Mangel einiger Umstände, die darin verborgen bleiben, nicht gedenkbar. Es geschehen bisweilen Dinge, die unmöglich scheinen, da man seinen eigenen Augen nicht traut, wo eine Würkung ohne Ursach scheinet. Dergleichen Dinge, wenn sie auch noch so gewiß wären, nihmt die Vorstellungskraft ungern an. Darauf gründet sich die Vorschrift des Aristoteles, daß der Künstler ofte das erdichtete Wahrscheinliche, dem würklich Wahren, aber Unwahrscheinlichen vorziehen soll.

Der Künstler hat demnach, ohne den mühesamen Untersuchungen, die der Philosoph und der Geschichtschreiber nothwendig vornehmen müssen, wenn sie die Wahrheit finden wollen, nöthig zu haben, nur diese einfache Regel zu beobachten: daß alles was er vorstellt, in der Art, wie er vorstellt, würklich gedenkbar sey. Er darf nur darauf Acht haben, daß in den Dingen, die er, als vorhanden vorstellt, nichts wiedersprechendes, und in dem, was er, als geschehen beschreibt, nichts ungegründetes vorkomme. Es ist aber nicht genug, daß die Sachen ihm selbst gedenkbar seyen, sie müssen es auch für die seyn, für die er arbeitet. Deswegen muß in der Darstellung der Sachen keine wesentliche Lüke bleiben. Man kann eine würklich vorhandene, oder eine geschehene Sache, die man selbst gesehen hat, folglich nicht nur als möglich, sondern auch als würklich begreift, so beschreiben, daß es andern unmöglich fällt, sie sich vorzustellen. Dieses geschieht, wenn man aus Unachtsamkeit in der Beschreibung, oder Erzählung einige wesentliche Dinge wegläßt, die man doch dabey gedacht hat; oder wenn die Worte und andere Zeichen, deren man sich bedienet, etwas anderes ausdrüken, als wir haben ausdrüken wollen. Darum ist es nothwendig, daß der Künstler, nachdem er sein Werk entworfen hat, es hernach mit kalter Ueberlegung betrachte, um zu entdeken, ob kein zur Faßlichkeit oder Glaubwürdigkeit nöthiger Umstand übergangen worden, und ob er jedes einzele würklich so ausgedrükt habe, wie er es gedacht hat.

Man sollte denken, daß kein verständiger Mensch, und ein Künstler, muß doch nothwendig ein solcher seyn, etwas vortragen, oder schildern werde, das er selbst nicht begreift, oder das so, wie er es vorträgt, nicht begreiflich ist. Es scheinet demnach ganz unnöthig zu seyn, dem Künstler weitläuftig von der Beobachtung des Wahrscheinlichen zu sagen, das so leicht zu beurtheilen ist. Da es aber auch dem verständigsten Künstler aus mehr, als einer Ursache begegnen kann, daß er unwahrscheinliche Dinge vorträgt, so scheinet es uns wichtig genug, daß wir vier Hauptquellen dieses Fehlers anzeigen.

1. In der Hize der Arbeit versäumet man gar ofte, gewisse Dinge zu bemerken, wodurch eine Sache unmöglich, oder unwahrscheinlich wird, und man glaubt etwas zu begreiffen, das andere nicht annehmen können; weil ihnen Zweifel dagegen entstehen, die der Künstler in der Hize der Einbildungskraft, übersehen hat. Wir finden beym Plautus gar ofte, daß Sclaven ihre Herren auf eine völlig unwahrscheinliche Art betrügen; und es ist uns unmöglich die Aufführung dieser Leuthe zu begreiffen. Denn da es ihnen nothwendig das Leben kosten müßte, wenn der Betrug an den Tag käme, dabey [1264] aber nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, oder Vermuthung vorhanden ist, daß er verborgen bleiben könne, so läßt sich auch nicht gedenken, daß diese Leuthe sich so unbesonnen der augenscheinlichen Gefahr gehenkt oder gekreuziget zu werden, blos stellen sollten, wie doch würklich geschieht. Der Dichter hatte schon einen außerordentlichen Fall, wodurch der Betrug verborgen bleiben sollte, sich vorgestellt, und die ganze Intrige kam ihm so comisch und so sehr unterhaltend vor, daß er versäumt hat, die Ueberlegung zu machen, daß der Sclave ganz unnatürliche und unglaubliche Dinge thue. Kein Mensch wird so unsinnig seyn, einen andern, dessen Gewalt man unterworfen ist, auf das ärgste zu beleidigen, in Hoffnung, daß ein Wetterstrahl ihn tödten werde, ehe er Zeit habe, die Beleidigung zu rächen. Und doch handeln die Sclaven in den Comödien des Plautus nicht selten so; und dadurch wird die ganze Verwiklung ofte völlig unwahr. Eben so unwahrscheinlich ist es, daß jemand sich in eine gefährliche Unternehmung einlasse, der nur ein plözlicher, höchst ungewöhnlicher Zufall, einen guten Ausgang geben könnte. Darum merkt Daubignac wol an, daß ein plözlicher Tod durch einen Schlagfluß, oder Wetterstral, so möglich auch der Fall ist, ein schlechtes Mittel wäre, die Verwiklung des Drama aufzulösen. Aber in der Hize der Arbeit denkt der Dichter nicht allemal an diese Bedenklichkeiten. Eben so ist es gar nicht ungewöhnlich, daß Mahler solche Fehler gegen die Perspektiv begehen, dadurch ihre Vorstellung völlig unmöglich wird. Sie haben in der Hize der Arbeit vergessen, die Wahrheit der Zeichnung in Rüksicht auf die Perspektiv zu untersuchen. Deswegen ist kaltes Prüfen eines entworfenen Planes eine nothwendige Sache.

2. Ofte verwechselt man die Zeichen, wodurch man seine Gedanken ausdrükt, glaubt etwas auszudrüken, das man würklich sehr klar und bestimmt denkt, und drükt doch etwas anders aus: Ich erinnere mich, daß einem sonst ganz verständigen Manne, bey einer im Frühjahre lang anhaltenden Dürre, die Worte entfuhren: Wenn uns doch der Himmel bald mit einem warmen, trokenen Regen erfreuen wollte! Er dachte etwas Würkliches und Wahres; sagte aber etwas Unmögliches und Ungereimtes. Dieses kann auch jedem Künstler in der Wärme der Empfindung begegnen. Darum ist es nicht genug, daß unsre Gedanken, oder Vorstellungen der Wahrheit gemäß seyen; wir müssen auch versichert seyn, daß wir gerade das ausgedrükt haben, was wir dachten. Und der Künstler hat sorgfältig zu untersuchen, ob auch andre bey Betrachtung seines Werks das denken, oder empfinden werden, was er dabey gedacht und empfunden hat.

3. Der Künstler drükt nie alles aus, was er sich bey der Sache vorstellt. Geschiehet es, daß er etwas wesentliches, oder etwas, wodurch die ganze Vorstellung begreiflich wird, wegläßt, so hat er etwas wahres gedacht, und stellt uns etwas, das wir nicht annehmen, nicht für wahr halten können, vor. Ofte wird eine ganze Handlung durch einen einzigen kleinen Umstand wahrscheinlich; wird dieser aus Versehen, weggelassen, so verwerffen wir die ganze Erzählung davon, als etwas falsches. Darum muß der Künstler sorgfältig untersuchen, ob er auch von allem, was er bey Schilderung der Sache gedacht hat, nichts Wesentliches weggelassen habe. Was wir leichte von selbst zur Wahrscheinlichkeit hinzudenken können, kann er ohne Bedenken weglassen; aber wo ein nicht zu errathender Umstand, zur Glaubwürdigkeit der Sache nothwendig ist, da muß er ausdrüklich angeführt werden. Ein in den Sitten und in der Staatsverfassung der Römer unerfahrner Leser des Livius, oder Tacitus, wird manche wahrhafte Erzählung dieser Geschichtschreiber, als unglaublich verwerfen. Diese Männer schrieben für Leser, denen das, was zur Glaubwürdigkeit solcher Erzählungen nothwendig ist, völlig bekannt war; darum hatten sie nicht nöthig, dieser Dinge zu erwähnen.

Dinge, die an sich, wenn man Zeit und Ort und andre Nebenumstände nicht in Betrachtung ziehet, unglaublich sind, werden ganz begreiflich, wenn man jene zufällige Dinge dabey vor Augen hat. Nun geht es nicht allemal an, dieser Dinge da, wo sie zur Glaubwürdigkeit nothwendig sind, zu erwähnen; und in diesem Falle müssen sie vorher, an einem schiklichen Orte ausdrüklich angeführt, oder doch durch Winke angedeutet werden. Ist etwas ausserordentliches, das ein Mensch thut, aus den Umständen der Sache selbst unbegreiflich, so kann der Grund in etwas das vorhergegangen ist, oder in dem ganz besondern und seltenen Charakter der Person liegen. In solchen Fällen muß man vorher, ehe der Sach' erwähnt wird, auf eine [1265] schikliche Weise, das was zur Begreiflichkeit der Sache dienet, irgendwo einmischen, und so die Glaubwürdigkeit der Sache vorbereiten. In einem Trauerspiehl retten sich zwey Personen durch Schwimmen aus einem Schiffbruch; die eine frägt die andere, ob sie auch ihre Schäze gerettet habe: ja; antwortet sie, da sie nur in Juweelen bestehen, so hab ich sie in Busen gestekt. Durch Erwähnung der Juweelen wollte der Dichter die Rettung des Schazes begreiflich machen. Aber er hätte dieses Umstandes eher, an einem schiklichern Orte und überhaupt auf eine natürliche Weise erwähnen sollen. Denn so, wie er es hier thut, ist die Sache völlig unnatürlich.

Wenn die Erzählung oder Vorstellung einer Handlung in völliger Wahrscheinlichkeit erscheinen soll, so muß man die Veranlassung, die Charaktere der Personen, das Interesse jeder derselben, und überhaupt alles, was als würkende Ursach dabey seyn kann, genau kennen. Der epische Dichter kann uns gar leicht und schiklich von allen diesen Dingen unterrichten, aber dem dramatischen wird dieses ofte sehr schweer. Daher entstehen die wichtigsten Fehler gegen die Wahrscheinlichkeit. Es ist höchst anstößig, wenn Personen, die in wichtigen Angelegenheiten handeln, Reden in den Mund gelegt werden, die blos für den Zuschauer dienen. Denn sie führen den offenbaresten Wiederspruch mit sich; wir sollen einen Menschen für den Orestes, oder Agamemnon halten, und seine Reden verrathen einen Schauspiehler! Man lasse lieber den Zuschauer in einigem Zweifel über die Gründe und Ursachen dessen, was er sieht oder hört, als daß man auf eine so sehr unschikliche Weise, die Zweifel hebt. Man muß sich durch die Sorge wahrscheinlich zu seyn, nicht zu der größten Unwahrscheinlichkeit verleiten lassen. Der Dichter muß dem Zuschauer zutrauen, daß er verschiedenes von selbst einsehen und begreiffen werde. Verschiedene dramatische Dichter beweisen darin eine so übertriebene Sorgfalt, daß sie gar oft, wenn eine neue Scene bevorsteht, auf die unnatürlichste Weise uns durch die handelnden Personen sagen lassen, wer der sey, der nun erscheinen wird.

4. Mangel an Erfahrung und Kenntnis der Welt, ist auch eine der Quellen des Unwahrscheinlichen. Eine blos philosophische, oder psychologische Kenntnis des Menschen, ist nicht hinreichend Personen von allerley Stand und Lebensart nach ihrer besondern Art zu denken und zu handeln, natürlich zu schildern. Keine Theorie ist dazu hinreichend. Nur durch langen Umgang mit solchen Menschen gelanget man dazu. Jeder Stand, jedes Land, jedes Zeitalter hat seine eigene Begriffe, Vorurtheile, Maximen und Handlungsart; Wer sie nicht genau kennt, muß nothwendig in manchem Stük unwahrscheinlich werden.

1Meßias IV. Ges.
2S. Täuschung
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1263-1266.
Lizenz:
Faksimiles:
1263 | 1264 | 1265 | 1266
Kategorien:

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon