Genius

[182] Genius war nach dem Glauben der alten Römer ein übermenschliches Wesen, welches einen Menschen durch das Leben begleiten und in innigem Zusammenhang mit dem geistigen Dasein desselben stehen sollte. Jeder Mensch hatte nach dieser Vorstellung seinen eigenen Genius. Dieser Genius wurde von dem Vater der Götter und Menschen, dem Jupiter, abgeleitet und daher dem Genius Jovialis göttliche Verehrung erwiesen. Die Frauen leiteten ihren Schutzgeist von der Juno ab und hatten daher Junonen, wie die Männer Genien. Später wurde Genius mit Dämon (s.d.) gleichbedeutend genommen. Man spricht nicht nur von Genien der Menschen, sondern braucht das Wort in jeder Beziehung als gleichbedeutend mit Schutzgeist. Da man die außerordentlichen Leistungen einzelner geistvoller Männer sich durch überirdischen Einfluß, durch Beistand eines Genius erklärte, so entstand das Wort Genie mit seiner eigenthümlichen Bedeutung. Man bezeichnet nämlich mit Genie, Genialität die Kraft des Geistes, alles Einzelne in seinem wahren Zusammenhange mit dem Ganzen (dem Allgemeinen) aufzufassen. Da das Einzelne aber nur durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen seine wahre Bedeutung erhält, durch denselben den ihm sonst anhaftenden Schein der Zufälligkeit verliert und als tüchtig in seiner Art, als vollendet erscheint, so wird der mit Genie begabte Geist nicht nur die Gegenstände selbst nach ihrer tiefen Bedeutsamkeit erfassen, sondern es werden auch alle seine Äußerungen das Gepräge der Vollendung tragen. Der mit Genie begabte Mensch wird häufig selbst ein Genie, richtiger ein genialer Mensch genannt. Solche Menschen sind es, welche die Zeit, in der sie wirken, am mächtigsten fördern, indem sie entweder schreibend und sprechend, eine richtige Erkenntniß der Dinge, der Zeitverhältnisse, der bestehenden Lebensbedingungen verbreiten und dadurch ihren Zeitgenossen ein Bewußtsein über ihre Gegenwart bis in die tiefsten Herzensangelegenheiten verschaffen, auf welchem eine neue Entwickelungsstufe des geistigen Daseins erwachsen kann; oder handelnd, die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigen und diese dem erhabenen Ziele näher bringen, welches die große Menge nur ahnet und dem sie in einem dunkeln Drange zugetrieben wird. Jean Paul nennt das Genie daher schön und richtig: den Wecker der schlafenden Jahrhunderte. Die Merkzeichen des wahren Genies sind Ruhe, Besonnenheit, Sicherheit; aber keineswegs bloße Behendigkeit des Geistes, geistreiche Einfälle, Gedankenblitze, angeborene Geschicklichkeit für gewisse Leistungen. Die letzte ist das Eigenthümliche des Talents (s.d.). Am wenigsten verdient den Namen des Genies das fahrige Wesen, welches über die wichtigsten Interessen des Geistes, über Sitte und Religion abspricht und sich geltend zu machen sucht, indem es dieselben verletzt; weil es aber scheinbar eine Sicherheit in sich selbst zeigt, welche ähnlich der Sicherheit ist, mit der das wahre Genie die Thaten des Weltgeistes verrichtet, so wird es zuweilen mit Genie verwechselt. Indem aber derartige Menschen in ihrer Unsittlichkeit, wie es nicht anders kommen kann, zu Grunde gehen, so gibt man ihnen den Titel: der verdorbenen Genies. Das wahre Genie wird durch sich niemals verdorben. Künstler, Dichter, Philosophen und Staatsmänner sind es namentlich, welche des Genies bedürfen, weil ihre Leistungen im Interesse des Allgemeinen geschehen müssen, wenn sie überhaupt bedeutend sein sollen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 182.
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