[212] Dialektik (dialektikê): Unterredungskunst, Methode der Unterredung, begriffliches Verfahren (durch Entwicklung von Sätzen oder Wahrheiten aus Begriffen), logische Bewegung des Denkens von einem Begriff zum anderen mittelst Aufhebung von Widersprüchen. Im schlechten Sinn bedeutet »dialektisch« ein auf Überredung hinzielendes Argumentieren ohne stichhaltige Erfahrungsgrundlagen.
Ein dialektisches Verfahren machte sich schon der Eleate ZENO zu eigen (Diog. L. VIII, 57: Aristotelês en tô Sophistê phêsi prôton Zênôna dialektikên heurein, vgl. IX, 25). Die Sophisten begründen eine Dialektik im schlechten Sinne, die darauf ausgeht, ton hêttô logon kreittô poiein, durch Scheinbeweise, Sophismen (s. d.) den Schein der Wahrheit zu erzeugen (vgl. ARISTOTELES, Rhet. II 24, 1402a 23). Die Unterredungskunst zum Zwecke der Begriffsbestimmung übt SOKRATES aus. Im Zusammen-Denken glaubt er das Wahre, Objective finden zu können: Ephê de kai to dialegesthai onomasthênai ek tou syniontas koinê bouleuesthai dialegontas kata genê ta pragmata (XENOPHON, Memor. IV, 5, 12). Bei den Megarikern artet die Dialektik in Eristik (s. d.) aus. PLATO versteht unter Dialektik die Kunst des logischen, philosophischen Verfahrens, d.h. des Verfahrens, durch Analyse und Synthese der Begriffe, durch Fortgang des Denkens von niederen zu höheren, allgemeineren Begriffen zur Erkenntnis des Seienden, der Wirklichkeit, der Ideen (s. d.) zu gelangen (hê tou dialegesthai dynamis ist die Erkenntnis [gnôsis] peri to on kai to ontôs kai to kata tauton aei pephykos, sie ist makrô alêthestatê, Phileb. 58 A, 57 E).[212] Vom Eros, von der Liebe zum Forschen, ergriffen, sucht der Dialektiker das Wesen der Dinge zu bestimmen (dialektikon kaleis ton logon hekastou lambanonta tês ousias, Republ. 534 B; vgl. Soph. 253 Phaedr. 265, 266, 276 E). ARISTOTELES nennt dialektikê das Beweisverfahren aus überlieferten Sätzen (ex endoxôn, Top. I 1, 100a 27); dialektikôs = auf syllogistische Weise (Top. I 14, 105b 31), auch – sophistisch (De an. I 1, 403a 2); dialektikai protaseis – Wahrscheinlichkeitsurteile (Anal. pr. I 1, 24a 22). Die Stoiker verstehen unter Dialektik teils die Grammatik, teils die Logik und Erkenntnistheorie. Das logikon meros zerfällt in Rhetorik und Dialektik (Diog. L. VII, 41). Letztere, ist die Wiesenschaft tou orthôs dialegesthai peri tôn en erôtêsei kai apokrisei logôn; hothen kai houtôs autên horizontai, epistêmên alêthôn kai psendôn kai oudeterôn (Diog. L. VII, 42 ff.; vgl. PRANTL, G. d. Log. I, 413; L. STEIN, Psychol. d. Stoa II, 101). CICERO spricht über Dialektik im Sinne der Stoa (De orat. II, 38, 157; Brut. 41, 152; Disp. Tusc. V, 25, 72; Acad. II, 28, 91; Top. 2, 6). SENECA: Dialektikê »in duas partes dividitur, in verba et significationes i.e. in res quae dicuntur et vocabula quibus dicuntur« (Ep. 1, 1; vgl. 89, 9). EPIKUR ersetzt die Dialektik durch die »Kanonik« (s. d.).
JOHANNES SCOTUS versteht unter Dialektik die Forschung nach dem Wesen der Dinge durch logisches, speculatives Verfahren. Sie ist »communium animi conceptionum rationabilium diligens investigatrixque disciplina« (Div. nat. I, 27), die »mater artium.« (l.c. V, 4). Sie geht vom Allgemeinen zum Besonderen und gewinnt aus diesem das Allgemeine. »Illa pars philosophiae, quae dicitur dialectica, circa horum. generum divisiones a generalissimis ad specialissima iterumque collectione a specialissimis ad generalissima versatur« (l.c. I, 16). »Inchoat per genera generalissima mediaque genera usque ad formas et species specialissimas« (l.c. V, 4). »Dialecticae proprietas est rerum omnium, quae intelligi possunt, naturas dividere, coniungere, discernere, propriosque locos unicuique distribuere atque ideo a sapientibus vera rerum contemplatio solet appellari« (l.c. I, 46). Die Dialektik ist im Wesen der Dinge gegründet (»in natura rerum ab auctore omnium artium, quae vere artes sunt, condita«, l.c. IV, 4). Nach ABAELARD ist die Dialektik die begriffliche Feststellung der Wahrheit oder Falschheit von Urteilen, »veritatis seu falsitatis discretio« (Dial. p. 435). JOHANN VON SALISBURY erklärt: »Dialctices intentio, ut sermonum vim aperiat et ex eorum praedicatione examinandi veri et statuendi scientiam assequatur« (PRANTL, G. d. Log. II, 236). Nach LAMBERT VON AUXERRE ist Dialektik »ars artium ad principia omnium methodorum viam habens« (l.c. S. 26). Nach THOMAS gibt es eine »dialectica docens« und »dialectica utens« (4 met. 4b).
Gegen die scholastische Wertschätzung des dialektischen Verfahrens wenden sich LUDOVICUS VIVES, NIZOLIUS und besonders PETRUS RAMUS. Ihm ist die Dialektik nichts als Disputierkunst. »Dialectica virtus est disserendi, quod vi nominis intelligitur: dialegesthai enim et disserere unum idemque valent, idque est disputare, disceptare atque omnino ratione uti« (Dial. inst. p. 1). Sie ist »doctrina disserendi« (l.c. p. 6). BOVILLUS nennt die dialektische Denkbewegung »antiparistasis« (s. d.). Nach MELANCHTHON ist die Dialektik »ars et via docendi«, »consistit in definiendo, dividendo et argumentando« (Dial. I, p. 1).
KANT erklärt, die Dialektik sei nur eine »Logik des Scheins« (Kr. d. r. Vern. S. 83), eine »ars sophistica, disputatoria«, die aus einem Mißbrauch der Logik entspringt (Log. S. 11). Denn »da sie uns gar nichts über den Inhalt[213] der Erkenntnis lehret, sondern nur bloß die formalen Bedingungen der Übereinstimmung mit dem Verstande..., so muß die Zumutung, sich derselben als eines Werkzeugs (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse, wenigstens dem Vorgeben nach, auszubreiten und zu erweitern, auf nichts als Geschwätzigkeit hinauslaufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach Belieben anzufechten« (Kr. d. r. Vern. S. 84). K. selbst will unter Dialektik nur »eine Kritik des dialektischen, Scheins« verstanden wissen. Auf dem Gebiete des Erkennens zunächst besteht eine in der Natur des Denkens liegende »transcendentale Dialektik«, die zu einer Verwechselung subjectiver Notwendigkeit mit objectiver Realität führt. Sie »beruht auf ursprünglichen, natürlichen Illusionen, auf einem transcendentalen Schein, dessen Folge es ist, daß in unserer Vernunft... Grundregeln und Maximen ihres Gebrauches liegen, welche gänzlich das Ansehen objectiver Grundsätze haben und wodurch es geschieht, daß die subjective Notwendigkeit einer Verknüpfung unserer Begriffe zugunsten des Verstandes für eine objective Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird« (Krit. d. r. Vern. S. 263). Die »transcendentale Dialektik« als Kritik begründet den »Schein«, ohne ihn zerstören zu können (l.c. S. 263 f.). »Da aller Schein darin besteht, daß der subjective Grund des Urteils für objectiv gehalten wird, so wird eine Selbsterkenntnis der reinen Vernunft in ihrem transcendentalen (überschwenglichen) Gebrauch das einzige Verwahrungsmittel gegen die Verirrungen sein, in welche die Vernunft gerät, wenn sie ihre Bestimmung mißdeutet und dasjenige transcendenterweise aufs Object an sich selbst bezieht, was nur ihr eigenes Subject und die Leitung desselben in allem immanenten Gebrauche angeht« (Proleg. § 40; vgl. § 45). Die transcendentale Dialektik besteht in der Untersuchung der Paralogismen (s. d.), Antinomien (s. d.) und Ideale (s. d.) der reinen Vernunft. Es gibt auch eine Dialektik der praktischen Vernunft, indem diese unter dem Namen des höchsten Gutes (s. d.) ein Unbedingtes sucht (Kr. d. pr. Vern. I. T., 2. B.). So auch in der Urteilskraft, nämlich betreffs der Antinomien des (Geschmacks (s. d.) (Kr. d. Urt. § 55 ff.).
J. G. FICHTES philosophische Methode, nach welcher in Entgegengesetztem das übereinstimmende Merkmal aufgesucht und der Dreischritt: Thesis, Antithesis, Synthesis gemacht wird, ist dialektisch (»synthetisch«, Gr. d. g. Wiss. S. 31; ähnlich HEGEL, S. weiter unten). SCHLEIERMACHER versteht unter Dialektik eine »Kunstlehre des Denkens«, die Kunst des Begründens (Dialekt. S. 8), die philosophische Principienlehre (Metaphysik und Erkenntnistheorie). Dialektik ist die Philosophie, weil das Wissen ein Product des gemeinsamen Denkens ist (l.c. S. 66). Sie ist »die Idee des Wissens unter der isolierten Form des Allgemeinen« (l.c. S. 309, vgl. S. 22, 315). SCHOPENHAUER versteht unter Dialektik »die Kunst des auf gemeinsame Erforschung der Wahrheit, namentlich der philosophischen, gerichteten Gespräches« (W. a. W. u. V. II. Bd., a. 9). SPICKER erklärt: »Unter Dialektik verstehen wir nicht bloß eine Begriffszergliederung, sondern zugleich auch eine Begriffserzeugung. Beides zusammen fassen wir unter den Ausdruck: Begriffsentwicklung. Die zwei Hauptmomente der Dialektik sind also: Analyse und Synthese. In jener wird gezeigt, was ein Begriff ist und was er nicht ist; in dieser, was er sein soll« (K., H. u. B. S. 165). WUNDT versteht unter dialektischen Methoden »alle diejenigen philosophischen Methoden..., bei denen aus gegebenen Begriffen vermittelst einer rein logischen Entwicklung andere Begriffe abgeleitet werden« (Phil. Stud. XIII, 68).[214]
Auf die Wirklichkeit selbst wendet zuerst PROKLUS den Begriff der Dialektik an. Der Weltproceß macht eine triadische Entwicklung durch: aus der Einheit oder Ursache, in der das Erzeugte vermöge seiner Ähnlichkeit verharrt (monê) tritt es heraus infolge seiner Unähnlichkeit (proodos), um dann wieder zu ihr zurückzukehren (epistrophê) (Procli stoicheiôsis theologikê, c. 31 ff.). Später überträgt HEGEL die dialektische Entwicklung, die nach ihm das logische Denken beherrscht, auf das Sein. Die Dialektik ist »die wissenschaftliche Anwendung der in der Natur als Denkens liegenden Gesetzmäßigkeit« (Encykl. § 10) und zugleich diese Gesetzmäßigkeit selbst. Diese besteht in der immanenten Bewegung des. »Begriffs« (s. d.), der infolge des in ihm steckenden »Widerspruchs« (s. d.) sich selbst aufhebt, um wieder zu sich, auf einer höheren Stufe, zurückzukehren. Der Begriff schlägt in sein Gegenteil um, geht mit diesem in einem höheren Begriff zusammen, wodurch der Widerspruch »aufgehoben« wird. »Das dialektische Moment ist das eigene Sich-aufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzte« (Encykl. § 81). So entwickeln sich die Begriffe auseinander »in unaufhaltsamem, reinem, von außen nichts hereinnehmendem Gange« (Log. I, 41). Der Geist ist hierbei nicht productiv, sondern sieht der Selbstentwicklung des Begriffs zu (Rechtsphil. S. 65). Die Dialektik ist »die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt« (Encykl. § 81). Die geistige Entwicklung geht vom An-sich-sein durchs Für-sich-sein zum An- und Für-sich-sein. HILLEBRAND: »Alles, Geistige hat Form und Inhalt... nur in der Dialektik seines eigenen Tuns« (Phil. d. Geist. II, 95). SCHASLER erklärt den dialektischen Proceß als »Fortgang vom abstract Allgemeinen durch die Differenz und Besonderung zum Individuellen, worin der in der Besonderung enthaltene Gegensatz zu einer höheren Einheit aufgehoben, d.h. die abstracte Einheit des Allgemeinen zur concreten erhoben wird« (Kr. Gesch. d. Ästh. S. 8). J. E. ERDMANN überträgt die Dialektik auf die Psychologie (Psychol. Briefe3, 209, 250, 256). BAHNSEN nimmt nur eine »Realdialektik«, eine (antilogische) dialektische Entwicklung des Seins an (s. Widerspruch). R. HAMERLING betrachtet die Seins-Dialektik als logisch, zweckmäßig, er kennt auch eine Dialektik des Denkens und der Anschauung (Atom. d. Will. I, 73 ff.). Im Sinne Hegels lehrt CARNERI (Sittl. u. Darwin. S. 12). Vgl. E. DÜHRING, Natürl. Dialektik 1865.
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