Götter der Germanen

[322] Götter der Germanen. Die germanische Religion entwickelt sich aus der Naturreligion der arischen oder indogermanischen Völker; sie stimmt daher in ihren Grundzügen mit den Religionen der Indier, Perser, Griechen, Italiker, Slaven und Kelten überein, und es ist Aufgabe der vergleichenden Mythologie geworden, nachzuweisen, auf welche Weise sie sich allmählich zu ihren besonderen Formen herangebildet hat. Mit der älteren indogermanischen Mythologie teilt die germanische noch deutlich den Charakter eines von einem Hirtenvolke geübten Lichtkultus. An der Spitze der germanischen Götter standen in den letzten Jahrhunderten vor Christi Geburt die lichten Mächte des Himmels, die tivas, altnordisch tivar, d.h. die Himmlischen, und die vaneis, nordisch vanir, die Glänzenden. »Der Gott des leuchtenden Himmelsgewölbes Tius wird vorzügliche Verehrung genossen haben.« An seiner Seite scheint eine Erdgöttin Fulda gestanden zu haben. Neben ihnen wurde ein leuchtender Sonnengott und ein strahlender Blitzgott, Thunar, verehrt. Diese kämpften mit den finstern Dämonen des Wolkendunkels, der Nacht und des Winters, welche die Frauen, das Gold und die Kühe rauben; die Dämonen werden bald als Riesen, bald als Zwerge, bald als Drachen aufgefasst. Aus der Schar der himmlischen Wasserfrauen und der Jungfrauen der Morgenröte, welche die arische Mythologie kannte, trat als Gesamtverkörperung eine hohe Göttin hervor, welche in der Wolke thronend mit dem Sturme daherfährt, aber auch das Licht der Sonne und Morgenröte spendet. Sie spaltete sich später in die verschiedenen Göttergestalten der Fria, Frigg, Hulda u.a. Die im Blitze, den Sonnenstrahlen, wie in allen Leben der Natur waltenden Seelen des arischen Urvolkes waren bei den Germanen zu Alben, Elben, Elfen geworden; aus den Geistern der Winde, den Maruts der Arier, die zum Teil aus den Seelen dahingeschiedener Menschen bestanden, wurden bei den Germanen die Mârten unter der Benennung des wütenden Heeres. Die Mythologie dieser Periode stand jedoch noch ganz auf[322] dem Boden der Naturanschauung, und die Naturkräfte und Erscheinungen hatten sich noch keineswegs zu abgeschlossenen, individuellen, dem Menschendasein angelehnten Göttergestalten herausgebildet; daher berichtet noch Cäsar: »Die Germanen rechnen zur Zahl der Götter nur die, welche sie sehen und durch deren Segnungen sie offenbar gefördert werden, Sonne, Mond und den Feuergott (Vulcanus, Thunar); von den übrigen haben sie nicht einmal durch Hörensagen vernommen.«

Im Kampfe mit den Römern wurden die germanischen Stämme schnell aus dem Hirtenleben zu einem bewegten Jäger-, Krieger- und Ackerbauleben hinübergeführt; auch die mythologischen Anschauungen wurden dadurch wesentlich verändert. Ein rascheres Denken, erregteres Fühlen, frischeres Handeln führte dahin, in die alten Götter immer mehr geistige und sittliche Gedanken hineinzutragen und dadurch ihr Wesen immer menschlicher, persönlicher, individueller und mannigfaltiger zu gestalten. Der ursprüngliche Sinn vieler mythologischer Bilder ging verloren, und dies gab zur Übertragung himmlischer Vorgänge auf irdische, zu Lokalisierungen aller Art Veranlassung. Aus den Wolkenkühen und Wolkenbergen wurden teilweise irdische Kühe, irdische Berge; der Wohnsitz der Elbe wurde zum teil auf die Erde verlegt, und so rückte die Mythologie im ganzen und grossen dem Menschen in vertrauliche Nähe herab. Tacitus nennt uns bereits eine ganze Anzahl individueller Götter und daneben heilige Haine, welche den religiösen Mittelpunkt einzelner grösserer Stämme bildeten. Gleichwohl war der anthropomorphische Götterbegriff noch keineswegs so stark, dass man plastische Gestalten zu denken und darzustellen gewusst hätte. So ist der Ausspruch des Tacitus zu verstehen: »Die Götter in Tempelwände einzuschliessen oder der Menschengestalt irgend ähnlich zu bilden, das meinen sie, sei unverträglich mit der Grösse der Himmlischen. Wälder und Haine weihen sie ihnen, und mit dem Namen der Gottheit bezeichnen sie jenes Geheimnis, das sie nur im Glauben schauen.« Da die stürmischen Zeiten des Kampfes so ziemlich jedes andere Interesse verschlangen, traten jetzt diejenigen Gottheiten in den Vordergrund, welche einen Bezug auf die neue kriegerische Richtung des germanischen Geistes hatten oder zuliessen. Aus der Schar der im Sturm umfahrenden Seelen hob sich der Sturmgott Wodan hervor als ein vorzugsweise kriegerischer Gott. Ihm wurden vor den andern Göttern Opfer und Gebete dargebracht. Tacitus kennt ihn unter dem Namen Merkur. Von den Sachsen und Franken verbreitete sich der Kult des Wodan als Obergott zu den übrigen germanischen Stämmen, keltische und römische Anschauungen wurden auf ihn übertragen und gaben Veranlassung zur Entstehung germanischer Mythensysteme. Es bildete sich den irdischen Verhältnissen analog ein Götterstaat, an dessen Spitze Wodan als kriegerischer Oberherr stand. Auch die übrigen Götter traten in Beziehung zu Kampf und Krieg, und was sich von älteren Anschauungen in diese neuen Verhältnisse nicht fügen konnte, wurde zurückgedrängt oder vergessen. An die Stelle der älteren Lichtgötter, der Vanen, traten die Asen. Als sich dann, ebenfalls im Gefolge der Kriege mit den Römern, allmählich ein Stand beute- und eroberungssüchtiger Edler von den auf der Scholle sitzenden Hörigen oder Bauern im engeren Sinne abtrennte, spaltete sich analog auch die Mythologie in eine höhere und eine niedere Mythologie; jene baute sich auf zu einem geistiger und plastischer gedachten[323] Götterstaat mit einem grossen und universellen Hintergrund, diese blieb im Gebiete des rohen Naturlebens stehen und bewahrte als Szenerie durchgehend bäuerliche Verhältnisse. Schon fing die germanische Mythologie der höheren Kreise an, im Anschluss an die Göttervorstellungen der antiken Völker, auch ihre Götter bildlich darzustellen und ihnen Tempel und Statuen zu errichten, namentlich da, wo, besonders in Italien, Germanen in römischen Wohnsitzen sich angesiedelt hatten, als das Christentum der Fortbildung der germanischen Religion als einer heidnischen Halt gebot und sie im ganzen und grossen unterdrückte; daher sind von den aus den edleren Kreisen des Volkes hervorgegangenen mythischen Liedern so wenig Bruchstücke erhalten, sie wurden einfach durch die Denkmäler des christlichen Glaubens ersetzt.

Anders stand es mit dem niederen Volke. Von ihm verlangten die christlichen Missionare vorläufig wenig mehr, als äusserliche Beobachtung der kirchlichen Ceremonien. Man leugnete die Existenz der heidnischen Götter nicht, man erklärte sie für Teufel oder für Menschen, welche Vergötterung erlangt hätten. Auch verfuhr die Kirche mit manchen heidnischen Sitten sehr schonend. Gregor der Grosse empfiehlt dem angelsächsischen Abt Mellitus, die Tempel der Heiden nicht zu zerstören, sondern mit Weihwasser zu besprengen und in christliche Kirchen zu verwandeln, damit das Volk an den durch lange Gewohnheit geheiligten Orten desto lieber und eher an den Dienst des wahren Gottes sich gewöhne. Die Opfermahlzeiten von Stieren im Dienste der Götter sollten in Mahlzeiten zu Ehren der heiligen Märtyrer verwandelt werden. An den Festtagen der Heiligen möge das Volk rund um die Kirchen, die einst heidnische Tempel waren, in Zelten aus Baumzweigen sich lagern, in gewohnter Weise Tiere schlachten und verzehren, aber unter Anrufung Gottes, nur nicht mehr der Teufel. So kam es, dass viele heidnische Vorstellungen sich nur unter den schützenden Namen Gottes, der Heiligen oder teuflischer Mächte zu flüchten brauchten, um unangefochten fortbestehen zu dürfen, und dass neben der christlichen Religion die mit den Göttergestalten des Heidentums und mit mannigfachen Gebräuchen des täglichen Lebens eng verbundene bildliche Naturanschauung des Landmannes als ein indifferentes, abgesondertes Gebiet fortleben konnte.

Während auf dem germanischen Festlande die selbständige Mythologie früh dem Christentume wich, vermochte sie sich in Skandinavien noch fünf weitere Jahrhunderte zu erhalten und weiter zu entwickeln. Im zehnten Jahrhundert wurden die Dänen Christen, im Anfang des elften die Norweger und Isländer, in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts erst gänzlich die Schweden. Der kriegerische Aufschwung der Skandinavier unter schwedischen, norwegischen und dänischen Heerkönigen, die Wikinger und Normannenfahrten im achten und neunten Jahrhundert riefen auch in der geistigen Bildung dieser Völker nachhaltige Bewegungen hervor. Als im Ausgang des neunten Jahrhunderts Harald Harfagr (Haarschön) die vielen kleinen Reiche Norwegens unter seine Alleinherrschaft vereinigte, flohen viele Edle und Bauern, den Verlust der Freiheit nicht ertragend, nach Island, den Faröer- und den Orkneys-Inseln. Durch die Armut der Heimat gezwungen, durchstreiften die thatendurstigen Männer auf Kriegs- und Handelsflotten den Ozean. Ihre Wikingerzüge weckten in ihnen so viele neue Anschauungen, dass ihre Mythologie, einst ihr und der Südgermanen[324] gemeinsames Eigentum, sich jetzt vollends zur letzten kriegerisch-menschlichen Gestaltung ausbildete und zugleich einen ausgebildeten Tempeldienst hervorbrachte. Träger und Bildner dieser Mythologie sind vornehmlich die Hofdichter der Skalden. Von ihnen angeregt, wurde an den vielen kleinen Fürstenhöfen des Nordens und überhaupt im Kreise der höheren Stände eine edle Dichtkunst gepflegt, deren Übung in älteren Zeiten allgemein war und den Charakter der Volkspoesie trug. In ihrem Kreise erst wurden die Thaten der Götter, die Gedanken über Ursprung, Dauer und Endschicksale der Welt in ein einheitliches System gebracht, wie es die südgermanische Mythologie noch nicht ausgebildet hatte. Zwar zog sich im neunten und zehnten Jahrhundert die Kenntnis jenes älteren in edeln Kreisen gedichteten Volksliedes fast ganz auf die Insel Island zurück, und die zahlreichen an den nordischen Königshöfen von Island berufenen Skalden sangen dem Geiste der Zeit folgend nicht mehr die alten mythologischen, sondern neue der Gegenwart und der Geschichte angehörige Lieder. Da jedoch auch diese neuen mit gelehrter Kunst gedichteten Lieder ihre Bilder und ausschmückenden Umschreibungen immer noch der Mythologie entnahmen, war man trotz der um das Jahr 1000 in Island durch Beschluss der Volksversammlung eingeführten Annahme des Christentums gezwungen, die alten Volkslieder und Sagen zu pflegen. Dieses thaten später besonders die einheimischen Geistlichen, welche statt des Lateins die Muttersprache und die einheimische Poesie pflegten und bewahrten. So entstand am Ende des 13. Jahrhunderts die Sammlung der alten, im 7., 8. und 9. Jahrhundert gedichteten Volkslieder von den Thaten der Götter und Helden, die man die ältere oder poetische Edda nennt, siehe diesen Artikel.

Über die besonderen Götter der Germanen handeln die Artikel Wodan, Donar, Ziu, Balder, Freia, Fro u.a. Hier mögen im Anschluss an Mannhardt, die Götter der deutschen und nordischen Völker, dem wir überhaupt in diesem Artikel gefolgt sind, einige Anmerkungen über die ersten Naturelemente der germanischen Mythen angefügt werden, sofern diese nicht antropomorphisch den einzelnen Göttergestalten zugeschrieben worden sind.

Wolken und Nebel. Die Atmosphäre erschien dem unbefangenen Auge des Altertums als ein grosses, zusammenhängendes Wasser, ein Meer oder ein Brunnen. Aus dem Luftmeer heben sich Nebel und Wolken ab, deren mannigfaltig wechselnde Gestalt zu den verschiedensten Auflassungen Anlass gab. Die geballten Haufwolken, aus denen der Regen niederrinnt, verglichen sich dem segnenden Euter der Kühe, den Mutterbrüsten der Frauen, und hieraus erzeugte sich die Vorstellung von den Wolken als Frauen oder Kühen des Himmels, deren Milch der Regen ist. Im Donner vermeinte man das Gebrüll der Wolkenkuh zu hören. Auf der nämlichen Anschauung beruhte die Vorstellung von den Wolken als Böcken oder Ziegen, deren Euter beim Regen gemolken werden, daher jetzt noch die lichtweissen oder rötlichgelben Federhaufwolken Schäfchen genannt werden. Auch als Katzen oder Luchse wurden die Wolken gedacht, seltener als Ross, Wagen, Schiff oder Floss des Windes, Gewand, Gebirge, Turm, Baum. Im Nebel dagegen sieht die Phantasie des Volkes bald geisterhafte Frauen, bald ein Gespinst, das um die Gipfel der Berge abgesponnen wird. Nach anderer Anschauung ist der Nebel das Brauen oder Kochen des himmlischen Regenwassers, daher er altnordisch [325] Hexenbräu genannt wird. Auch als Mantel, Hut oder Kappe wird der Nebel angeschaut. Personifiziert wird der Nebel zum Nebelmännlein, oder, wenn er, in den Mantel gehüllt, auf weissem Rosse auf- und abjagend, die ihm Begegnenden verwirrt und in die Irre treibt, zum Bachreiter oder Schimmelreiter.Schneeflocken heissen herabfallende Federn eines Vogels, oder feingemahlenes Mehl.

Der Wind wurde mit dem heulenden Hund oder Wolf verglichen, welcher hungrig den Staub aufwühlt und alles auf seinem Wege zerreisst und verzehrt. Auch dem Eber vergleicht er sich, zumal als Wirbelwind. Bisweilen wurde der im Winde thätige Geist als ein weibliches Wesen, eine Windin, gedacht; der dem grösseren Sturm vorauffahrende Wirbelwind heisst schon im 9. Jahrhundert windisprût, Windsbraut, d.h. die Gemahlin des Windes. Vom Winde, der als Schwein oder Hund, Fruchtbarkeit wirkend, durch das Getreide geht, glaubte man, dass er leibhaftig im Innern der Saatfelder bleibe und in der letzten Garbe, die auf dem Acker geschnitten werde, gegenwärtig sei. Hier erfasste man ihn und führte ihn jubelnd ins Dorf.

Für das Gewitter und seine wechselnden Erscheinungen erschuf die kindliche Phantasie verschiedene Naturbilder. Der Blitz wird als Stab oder Speer, als Keil, Keule oder Hammer, als feuerroter Bart gedacht. Die Zacken des himmlischen Strahles sind Hauer eines Tieres oder Zähne einer Gottheit. Auch als Schlange oder Drache wird der Blitz gedacht. Dass die Blitze, indem sie die Gewitterwolke spalten, die von ihr umhüllte goldene Sonne wieder aufleuchten lassen, gab zu der Sage Veranlassung, dass die himmlischen Schlangen einen wunderbaren Edelstein verfertigen. Derselben Anschauung entspringt die Vorstellung von Schlangen oder Drachen, die über einem reichen Goldhort lagern und ihn bewachen.

Gestirne. Die Sonne wurde als leuchtendes Gold oder als himmlischer Edelstein aufgefasst; als Rad, Schild oder Auge. Geistiger wird die Auffassung von der Sonne, wenn sie eine göttliche Frau, der Mond dagegen ein Mann heisst. Beide waren Gatten, der Mond aber ein kühler Liebhaber, so dass er die Sonne verliess. Sie schlug dem Gatten eine Wette vor: wer zuerst aufwachen würde, solle das Recht haben, bei Tage zu scheinen, dem Trägen gehöre die Nacht. Frühe am Morgen zündete die Sonne der Welt das Licht an und weckte den frostigen Gatten. Seitdem leuchten beide getrennt. Beide reut jedoch die Trennung und deshalb suchen sie sich einander zu nähern. Das ist die Zeit der Sonnenfinsternisse. Dann machen sie sich gegenseitig Vorwürfe, aber keiner behält recht, und so trennen sie sich wieder. Voll Schmerz nimmt der Mond dann ab und schwindet, bis die Hoffnung ihn wieder belebt und vollmacht. Die Mondflecken verursachten die Sage vom Mann im Monde.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 322-326.
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