Letzte Seufzer

[236] Herr Jesu Christ, mein Trost und Licht,

Zu dir heb' ich mein Angesicht

In meiner Not und Leiden,

Ach Gott! Dein Kind sol itz geschwind

Von dieser Welt abscheiden.

Hie lig' ich, Herr, in deiner Hand

Und warte, wenn des Lebens Band

Sol abgeschnitten werden,

Daß mein Gebein im hölzern Schrein

Werd' hingebracht zur Erden.

In deinen Willen geb' ich mich,

Herr Jesu, hilf mir gnädiglich

Dies Stündlein überwinden;

Bei dir ist Rat, bei dir ist That,

Bei dir ist Trost zu finden.[236]

Herr, gib mir doch zu dieser Frist,

Was meiner Seelen nützlich ist

Zum Leben oder Sterben;

Sol leben ich, so laß du mich

In Sünden nicht verderben.

Und sol ich denn von hinnen gehn,

In jennem Leben dich zu sehn,

Daselbst dir Lob zu singen,

Bin ich bereit, aus dieser Zeit

Mich in dein Reich zu schwingen.

Zwar diesen Leib und dieß Gebein

Laß ich der Würmer Speise sein,

Dieß ist der Lohn der Sünden;

Ich aber weiß, im Paradeis

Werd' ich was Bessers finden.

So bitt' ich nun von Herzen Grund:

Laß meine Seel' in dieser Stund',

O Herr, dir sein befohlen;

Von dir allein, mein Jesulein,

Kan ich Erquickung holen.

Beschütze mich mit deinem Schild',

Indem der Satan, frech und wild,

Mich Armen wil erschrecken;

Sonst weiß ich nicht, o du mein Licht,

Womit ich sol mich decken.

Hier ist kein Rat, denn Menschengunst

Samt aller Hülf' ist gar ümsunst;

Wer hilft doch denn mir Armen?

Wer hält mich nun? Gott muß es thun,

Bei dem ist viel Erbarmen.

Ich darf nicht kommen für Gericht,

Denn meine Werke taugen nicht,

Ich kan mich gar nichts rühmen:

Was ich gethan, steht auf dem Plan,

Es läßt sich nicht verblümen.

Wo sol ich denn nun fliehen hin,

Der ich ein solcher Sünder bin?[237]

Allein zu deiner Güte,

Herr Jesu Christ; ich weiß, du bist

Mein Bruder von Gemüte.

Dein herber Tod hat mich befreit,

Dein Blut gibt mir die Seligkeit,

Du hast mich angenommen

Im Gnadenbund; ich bin gesund

Aus diesem Bande kommen.

Ach du mein allerhöchstes Gut

Hast ja dein rosinfarbes Blut

Auf Golgatha vergossen

Ganz mildiglich, das machet mich

Zu deines Reichs Genossen.

Wolan, so laß mich das Gesicht

Des Menschenwürgers schrecken nicht;

Wenn mein Gesicht verschwindet,

Laß sehend sein mein Herz allein,

Das dich im Glauben findet.

O Jesu, nimm dich meiner an,

Laß, wenn ich nicht mehr reden kan,

Mein Seelichen noch schreien;

Du kanst fürwahr mich aus Gefahr

Des Todes schnell befreien.

Nim diese Seel' in deine Händ'

Und gib mir bald ein seligs End',

Auf daß ich deinen Namen,

Mit Cherubim und Seraphim,

Mög' ewig preisen. Amen.

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 236-238.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon