[163] In der glücklichen Stimmung, in welcher Pierre von seiner Reise nach dem Süden zurückkehrte, brachte er eine lange gehegte Absicht zur Ausführung: seinen Freund Bolkonski zu besuchen, den er zwei Jahre lang nicht gesehen hatte.[163]
Bogutscharowo lag in einer flachen Gegend, die keine landschaftlichen Vorzüge aufzuweisen hatte; man sah nur Felder und Tannen- und Birkenwaldungen, von denen große Strecken abgehauen waren. Das Herrenhaus stand am Ende des Dorfes, das sich geradlinig an der Landstraße hinzog; vor dem Herrenhaus befand sich ein Teich, der erst vor kurzem ausgegraben und bis zum Rand mit Wasser gefüllt war; die Ufer waren noch nicht mit Gras bewachsen. Nicht weit vom Haus war ringsum junger Wald angepflanzt, aus welchem einige Fichten hervorragten.
Der Herrenhof bestand aus einer Tenne, den Wirtschaftsgebäuden und Ställen, einem Badehaus, einem Seitengebäude und einem großen, noch im Bau begriffenen, steinernen Haus mit halbkreisförmigem Frontispiz. Um das Haus herum war ein Garten neu angelegt. Die Zäune und Tore waren neu und solide; unter einem Schuppendach standen zwei Feuerspritzen und ein grün angestrichenes Wasserfaß; die Wege waren gerade, die Brücken fest und mit Geländern versehen. Alles machte den Eindruck, daß hier ein sorgsamer Wirt waltete. Leute vom Gut, die dem ankommenden Pierre begegneten und bei denen er sich erkundigte, wo der Fürst wohne, zeigten auf das kleine neue Seitengebäude, das dicht am Rand des Teiches stand. Der alte Anton, der ehemals den Fürsten Andrei als Knaben beaufsichtigt hatte, war Pierre beim Aussteigen aus der Kalesche behilflich, sagte ihm, daß der Fürst zu Hause sei, und führte ihn in ein kleines, reinliches Vorzimmer.
Pierre war durch die Einfachheit und Bescheidenheit des kleinen, allerdings sehr sauberen Häuschens überrascht, da er sich erinnerte, in wie glänzender Umgebung er das letztemal seinen Freund in Petersburg getroffen hatte. Schnell trat er in einen kleinen Saal, der noch nach Fichtenholz roch und noch keinen[164] Kalkbewurf hatte, und wollte noch weiter gehen; aber Anton lief ihm auf den Zehen voraus und klopfte an eine Tür.
»Nun, was gibt's?« fragte eine Stimme in scharfem, unfreundlichem Ton.
»Ein Herr ist zu Besuch gekommen«, antwortete Anton.
»Bitte ihn, zu warten!« Es war zu hören, wie ein Stuhl gerückt wurde.
Schnellen Schrittes ging Pierre auf die Tür zu und stieß fast Gesicht gegen Gesicht mit dem recht alt aussehenden Fürsten Andrei zusammen, der mit finsterer Miene heraustrat. Pierre umarmte ihn, schob die Brille in die Höhe und küßte ihn auf die Wangen; dann betrachtete er ihn aus der Nähe.
»Nun, dich hätte ich wahrhaftig nicht erwartet«, sagte Fürst Andrei. »Ich freue mich sehr.«
Pierre antwortete nicht. Erstaunt und ohne die Augen abzuwenden blickte er seinen Freund an; die Veränderung, die mit diesem vorgegangen war, war ihm gar zu überraschend. Fürst Andreis Worte waren freundlich, und es lag ein Lächeln auf seinen Lippen und auf seinem Gesicht; aber sein Blick war erloschen und tot, und Fürst Andrei vermochte trotz seines sichtlichen Bestrebens nicht, ihm einen frohen, heiteren Glanz zu geben. Nicht daß sein Freund mager, blaß und männlicher geworden war, sondern dieser Blick und die Stirnfalte, die auf langes Nachdenken über ein und denselben Gegenstand schließen ließ, das war's, was dem Ankömmling auffallend und fremd erschien, solange er sich noch nicht daran gewöhnt hatte.
Bei diesem Wiedersehen nach einer so langen Trennung konnte, wie das unter solchen Umständen immer der Fall ist, das Gespräch lange Zeit nicht recht in Gang kommen; es bestand nur aus kurzen Fragen und Antworten über Dinge, die, wie sie beide selbst fühlten, eigentlich denn doch ausführlich behandelt werden[165] mußten. Endlich aber begann das Gespräch doch bei den vorher nur mit abgerissenen Worten erwähnten Gegenständen zu verweilen: bei den bisherigen Erlebnissen, bei den Plänen für die Zukunft, bei Pierres Reise und seiner Tätigkeit, bei den Kriegsereignissen usw. Jenes in sich gekehrte Wesen und jene Niedergeschlagenheit, die Pierre im Blick des Fürsten Andrei bemerkt hatte, machten sich jetzt noch stärker im Lächeln geltend, mit dem er seinem Gast zuhörte, namentlich wenn Pierre mit froher Lebhaftigkeit von Vergangenheit oder Zukunft sprach. Es machte den Eindruck, als ob Fürst Andrei sich gern für das, was Pierre erzählte, interessiert hätte, es aber nicht vermöchte. Pierre begann zu fühlen, daß es unangemessen sei, dem Fürsten Andrei gegenüber eine schwärmerische Begeisterung zu zeigen, hochfliegende Pläne darzulegen und Hoffnungen auf eine schöne, glückliche Zukunft zu äußern. Er schämte sich, alle seine neuen freimaurerischen Ideen auszusprechen, namentlich diejenigen, die durch seine letzte Reise in seiner Seele wieder wachgerufen und neu gekräftigt waren. Er beobachtete eine gewisse Zurückhaltung und fürchtete, gar zu kindlich und vertrauensselig zu erscheinen; gleichzeitig aber verspürte er ein unbezwingbares Verlangen, seinem Freund recht bald zu zeigen, daß er jetzt ein ganz anderer, besserer Pierre sei als früher in Petersburg.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel ich in dieser Zeit erlebt habe. Ich erkenne mich selbst kaum wieder.«
»Ja, wir haben uns seitdem beide sehr, sehr verändert«, erwiderte Fürst Andrei.
»Nun, und Sie?« fragte Pierre. »Was haben Sie für Pläne?«
»Pläne?« antwortete Fürst Andrei ironisch. »Was ich für Pläne habe?« Er wiederholte das Wort Pläne, als ob er sich über den Sinn desselben wunderte. »Nun, das siehst du ja; ich baue; im nächsten Jahr will ich ganz hierher übersiedeln.«[166]
Pierre schwieg und betrachtete unverwandt das so alt gewordene Gesicht seines Freundes.
»Nein, der Sinn meiner Frage war ...«, begann er; aber Fürst Andrei unterbrach ihn.
»Was ist von mir zu sagen? Erzähle lieber von dir; erzähle von deiner Reise, von alledem, was du da auf deinen Gütern eingerichtet hast.«
Pierre begann zu erzählen, was er auf seinen Gütern ins Werk gesetzt habe, und bemühte sich dabei, seinen eigenen Anteil an den von ihm durchgeführten Verbesserungen möglichst zurücktreten zu lassen.
Fürst Andrei nahm ihm einige Male vorweg, was er gerade sagen wollte, wie wenn das, was Pierre getan hatte, für ihn eine altbekannte Geschichte wäre und er es ohne jedes Interesse mit anhörte, ja sich sogar über das, was Pierre erzählte, gewissermaßen schämte.
Pierre begann sich in der Gesellschaft seines Freundes unbehaglich, ja in peinlicher Weise bedrückt zu fühlen. Er hörte auf zu reden.
»Weißt du was, mein Bester?« sagte Fürst Andrei, der ebenfalls seinem Gast gegenüber befangen und verlegen war. »Ich bin hier sozusagen wie im Biwak und bin eigentlich nur hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Ich fahre heute noch zu meiner Schwester zurück. Ich werde dich mit ihr bekanntmachen. Aber du bist ja wohl schon mit ihr bekannt?« sagte er, offenbar bemüht, den Gast zu unterhalten, mit dem er sich durch keinerlei gemeinsames Interesse verbunden fühlte. »Wir wollen nach dem Mittagessen fahren. Und jetzt, möchtest du nicht meinen Gutshof besehen?«
Sie gingen hinaus und wanderten bis zum Mittagessen umher, indem sie miteinander über Neuigkeiten der Politik und über gemeinsame Bekannte sprachen, wie Menschen, die sich recht fernstehen.[167] Mit einigermaßen lebhaftem Interesse redete Fürst Andrei nur von dem Gut, das er neu eingerichtet hatte, und von dem Bau; aber auch hier brach er, als sie auf dem Gerüst standen und er seinem Gast die künftige Einrichtung des Hauses beschrieb, plötzlich mitten im Gespräch ab.
»Aber da ist weiter nichts Interessantes dabei«, sagte er. »Laß uns zu Mittag essen und dann fahren.«
Beim Mittagessen kam das Gespräch auf Pierres Heirat.
»Ich habe mich sehr gewundert, als ich davon hörte«, bemerkte Fürst Andrei.
Pierre errötete, wie immer bei Erwähnung dieses Gegenstandes, und sagte hastig: »Ich werde Ihnen ein andermal erzählen, wie das alles gekommen ist. Aber Sie wissen wohl, daß alles zu Ende ist, und auf immer.«
»Auf immer?« erwiderte Fürst Andrei. »Von nichts in der Welt kann man ›auf immer‹ sagen.«
»Aber Sie wissen, wie das alles ein Ende genommen hat? Haben Sie von dem Duell gehört?«
»Auch das hast du durchgemacht!«
»Ich danke nur Gott, daß ich diesen Menschen nicht getötet habe«, sagte Pierre.
»Wieso?« entgegnete Fürst Andrei. »Einen bösen Hund zu töten, ist sogar eine sehr gute Tat.«
»Nein, einen Menschen zu töten, das ist nicht gut, das ist unrecht ...«
»Wieso unrecht?« fragte Fürst Andrei. »Was Recht und Unrecht ist, das zu beurteilen ist dem Menschen nicht gegeben. Die Menschen haben von jeher geirrt und werden immer irren, und in keinem Punkte mehr als in bezug auf das, was sie für Recht und Unrecht halten.«[168]
»Unrecht ist das, was für einen andern Menschen ein Übel ist«, sagte Pierre, der mit Vergnügen wahrnahm, daß Fürst Andrei zum erstenmal seit seiner Ankunft lebhaft wurde und zu reden begann und ihm auseinandersetzen wollte, wodurch er so geworden war, wie er jetzt war.
»Aber wer hat dir gesagt, was für einen andern Menschen ein Übel ist?« fragte er.
»Ein Übel? Ein Übel?« erwiderte Pierre. »Wir alle wissen, was für uns ein Übel ist.«
»Ja, das wissen wir freilich; aber das Übel, welches ich für mich selbst als ein solches erkenne, kann ich einem andern Menschen überhaupt nicht zufügen«, sagte Fürst Andrei, der immer lebhafter wurde und augenscheinlich den Wunsch hatte, dem Freund seine neue Anschauungsweise darzulegen. Er sprach französisch. »Ich kenne im Leben nur zwei wirkliche Übel: Gewissensbisse und Krankheit. Und das einzige Gut, das es gibt, ist das Fehlen dieser beiden Übel. Mich von diesen beiden Übeln nach Möglichkeit freizuhalten und für mich selbst zu leben, darin besteht jetzt meine ganze Weisheit.«
»Aber die Nächstenliebe und die Selbstaufopferung?« widersprach ihm Pierre. »Nein, da kann ich Ihnen nicht zustimmen! Nur so zu leben, daß man nichts Böses tut und nichts zu bereuen braucht, das ist doch zu wenig. Ich habe so gelebt; ich habe nur für mich selbst gelebt und mir dadurch beinahe mein Leben verdorben. Und erst jetzt, wo ich für andere lebe, wenigstens mich bemühe«, korrigierte Pierre sich aus Bescheidenheit, »für andere zu leben, erst jetzt habe ich für das wahre Glück des Lebens Verständnis gewonnen. Nein, ich bin mit Ihnen nicht einverstanden, und auch Sie selbst glauben das gar nicht, was Sie sagen.«
Fürst Andrei blickte Pierre schweigend an und lächelte spöttisch.
»Nun, du wirst ja meine Schwester, Prinzessin Marja, kennenlernen«,[169] sagte er. »Ihr beide werdet gut miteinander harmonieren.« Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Vielleicht hast du, was dich selbst betrifft, recht; aber ein jeder lebt auf seine eigene Weise: du hast nur für dich gelebt und sagst, du hättest dir dadurch beinahe dein Leben verdorben und hättest das wahre Glück erst dann kennengelernt, als du angefangen hättest für andere zu leben. Ich dagegen habe gerade die entgegengesetzte Erfahrung gemacht. Ich lebte für den Ruhm. Nun, was ist denn das Streben nach Ruhm? Es ist doch auch eine Art Liebe zu anderen Menschen, der Wunsch, etwas für sie zu tun, der Wunsch, ihren Beifall zu erlangen. So lebte ich für andere und habe mir mein Leben nicht beinahe, sondern vollständig verdorben. Und ruhiger bin ich erst seit der Zeit geworden, wo ich für mich allein lebe.«
»Aber wie können Sie sagen, daß Sie für sich allein leben?« fragte Pierre, der in Eifer geriet. »Da ist doch Ihr Sohn, und Ihre Schwester, und Ihr Vater!«
»Die sind alle ein Teil von mir selbst; das sind keine ›anderen‹«, erwiderte Fürst Andrei. »Aber die anderen, der Nächste, wie ihr, du und Prinzessin Marja, die anderen Menschen nennt, das ist die Hauptquelle der Irrtümer und des Übels. Der Nächste, das sind auch deine Kiewer Bauern, denen du Gutes tun willst.«
Er blickte Pierre spöttisch an; es war klar, daß er ihn zu einem Disput herausfordern wollte.
»Sie scherzen«, erwiderte Pierre, der immer mehr in Erregung kam. »Was für ein Irrtum oder was für ein Übel kann denn dadurch hervorgerufen werden, daß ich gewünscht habe (wenn auch die Ausführung sehr mangelhaft und schlecht ausfiel), daß ich gewünscht habe, Gutes zu tun, und wenigstens ein bißchen Gutes getan habe? Was kann denn für ein Übel darin liegen, daß unglückliche Menschen, unsere Bauern, Menschen von derselben Art[170] wie wir, die ohne eine andere, bessere Vorstellung von Gott und der Wahrheit aufwachsen und hinsterben, als die ist, die ihnen durch die kirchlichen Zeremonien und die unverständlichen Gebete vermittelt wird, daß die nun in den tröstlichen Glaubenssätzen von einem künftigen Leben, von der Vergeltung, Belohnung, Erquickung unterwiesen werden? Was für ein Übel oder was für ein Irrtum kann denn daraus entstehen, daß ich diesen armen Menschen, die jetzt, wenn einmal eine schwerere Krankheit sie befällt, elend daran zugrunde gehen, ohne daß ihnen jemand hilft, obwohl es doch so leicht ist, ihnen materielle Hilfe zukommen zu lassen, daß ich denen einen Arzt und ein Krankenhaus gebe, und ebenso den Alten eine Stätte, wo sie Pflege finden? Ist es etwa nicht ein greifbarer, zweifelloser Segen, wenn ich dem Bauern und der Bauersfrau mit dem kleinen Kind, die jetzt Tag und Nacht keine Ruhe haben, etwas freie Zeit und Erholung verschaffe?« Pierre sprach schnell und lispelnd. »Und das habe ich getan, wenn auch nur schlecht und in geringem Umfang; aber ich habe doch etwas nach dieser Richtung hin getan, und Sie werden mir nicht den Glauben nehmen können, daß das, was ich getan habe, gut ist; ja, Sie können mir nicht einmal einreden, daß Sie selbst es für schlecht halten. Die Hauptsache aber«, fuhr Pierre fort, »ist dies: ich weiß jetzt, weiß sicher, daß die Freude, die man davon hat, wenn man Gutes tut, das einzige wahre Glück des Lebens bildet.«
»Ja, wenn du die Frage so stellst ...«, sagte Fürst Andrei, »das ist freilich etwas anderes. Ich baue ein Haus und lege einen Garten an, und du baust Krankenhäuser. Eins wie das andere kann als Zeitvertreib dienen. Aber was recht ist, und was gut ist, darüber zu urteilen überlasse dem, der alles weiß; unsere Sache ist das nicht. Na, aber du möchtest disputieren«, fügte er hinzu. »Schön! Das können wir ja tun!«[171]
Sie standen vom Tisch auf, gingen vor die Haustür und setzten sich dort auf die Plattform der Freitreppe, welche die Stelle einer Veranda vertrat.
»Nun also, dann wollen wir einmal disputieren!« begann Fürst Andrei. »Du sagst: Schulen«, fuhr er fort und bog zählend einen Finger ein, »Unterricht und so weiter; das heißt, du willst ihn« (er wies dabei auf einen Bauer, der, die Mütze ziehend, an ihnen vorbeiging) »aus seinem tierischen Zustand herausführen und geistige Bedürfnisse in ihm erwecken. Ich dagegen glaube, daß das einzig mögliche Glück das tierische Glück ist, und gerade dessen willst du ihn berauben. Ich beneide ihn, und du willst ihn in meinen Zustand versetzen, ohne ihm doch die Mittel geben zu können, mit denen ich mir zu helfen suche. Zweitens sagst du: Arbeitserleichterung. Aber meiner Ansicht nach ist die körperliche Arbeit für ihn ebenso eine Notwendigkeit, ebenso eine Existenzbedingung wie für mich und dich die geistige Arbeit. Du und ich, wir können nicht leben, ohne zu denken. Wenn ich mich um zwei oder drei Uhr schlafen lege, so kommen mir allerlei Gedanken, und ich kann nicht einschlafen, ich wälze mich umher und liege wach bis zum Morgen, eben weil ich denke und das Denken nicht lassen kann, gerade wie er nicht das Pflügen und Mähen; sonst geht er in die Schenke oder wird krank. Wie ich seine starke körperliche Arbeit nicht aushalten kann (ich wäre in einer Woche tot davon), so er nicht meine körperliche Untätigkeit: er würde davon fett werden und sterben. Drittens ... was hattest du doch noch gesagt?« Fürst Andrei bog den dritten Finger ein. »Ach ja, Krankenhäuser, Medizin. Also, der Bauer bekommt einen Schlaganfall und liegt im Sterben; du aber läßt ihn zur Ader und bringst ihn wieder in die Höhe. Nun wird er zehn Jahre lang als Krüppel herumwanken und allen zur Last sein. Für ihn wäre es weit besser und einfacher gewesen, wenn du ihn ruhig hättest sterben[172] lassen. Es werden ja andere geboren, und es sind ihrer auch so schon übergenug. Wenn es dir noch leid täte, an ihm einen Arbeiter zu verlieren (denn als solchen sehe ich ihn an); aber nein, aus Liebe zu ihm willst du ihn wiederherstellen, aus Liebe zu ihm. Damit erweist du ihm gar keinen Dienst. Und dann: was ist das für eine Vorstellung, daß die ärztliche Kunst jemals jemand geheilt hätte! Sie kann nur töten ... jawohl!« Er zog finster die Brauen zusammen und wandte sich von Pierre weg.
Fürst Andrei trug seine Ansichten mit solcher Bestimmtheit und Klarheit vor, daß zu merken war, er hatte über diesen Gegenstand schon wiederholt nachgedacht. Er redete gern und schnell, wie jemand, der seit langer Zeit nicht geredet hat. Sein Blick belebte sich um so mehr, je trostloser der Inhalt der Sätze war, die er aussprach.
»Ach, das ist schrecklich, schrecklich!« erwiderte Pierre. »Ich begreife nur nicht, wie man mit solchen Ansichten überhaupt noch weiterleben kann. Auch ich habe solche Augenblicke gehabt, es ist noch gar nicht so lange her, in Moskau und auf der Reise; aber dann fühle ich mich so niedergeschlagen, daß ich eigentlich gar nicht mehr lebe und mir alles widerwärtig ist, ganz besonders ich mir selbst. Dann esse ich nicht und wasche mich nicht ... Nun, wie steht es mit Ihnen?«
»Warum sollte ich mich nicht waschen? Das wäre ja unreinlich«, antwortete Fürst Andrei. »Im Gegenteil, man muß darauf bedacht sein, sich das Leben möglichst angenehm zu gestalten. Ich lebe nun einmal, dafür kann ich nichts; also muß ich suchen, mein Leben so gut wie's geht, ohne andere Leute zu inkommodieren, bis zum Tod weiterzuführen.«
»Aber was regt Sie denn dazu an, weiterzuleben, wenn Sie doch solche Anschauungen haben? So dazusitzen, ohne sich zu bewegen, ohne etwas zu unternehmen ...«[173]
»Ganz in Ruhe läßt einen das Leben trotzdem nicht. Ich würde froh sein, wenn ich nichts zu tun brauchte; aber es kommt doch immer dies und jenes vor. Neulich erwies mir der hiesige Adel die Ehre, mich zum Adelsmarschall zu wählen: ich habe es mir kaum vom Hals halten können. Die guten Leute konnten gar nicht begreifen, daß es mir an den dazu erforderlichen Qualitäten fehlt, namentlich an einem gewissen gutmütigen, sorglichen Interesse für triviales Treiben. Ferner dieses Haus hier, das ich mir bauen mußte, um ein eigenes Winkelchen zu besitzen, wo ich meine Ruhe haben kann. Und nun jetzt die Landwehr.«
»Warum dienen Sie nicht in der Armee?«
»Nach Austerlitz?« erwiderte Fürst Andrei finster. »Nein, danke ergebenst; ich habe mir das Wort gegeben, nicht mehr in der aktiven russischen Armee zu dienen. Und ich werde es auch nie wieder tun; und wenn Bonaparte hier bei Smolensk stände und Lysyje-Gory bedrohte, selbst dann würde ich nicht wieder in die russische Armee eintreten.« Und nachdem Fürst Andrei sich beruhigt hatte, fuhr er fort: »Darauf kannst du dich verlassen. Jetzt haben wir nun die Landwehr; mein Vater ist Oberkommandierender des dritten Distrikts, und das einzige Mittel, vom aktiven Dienst freizukommen, war für mich, eine Stellung unter meinem Vater zu übernehmen.«
»Also sind Sie doch im Dienst?«
»Ja.«
Er schwieg eine Weile.
»Welches ist denn nun Ihr Zweck dabei?«
»Das will ich dir sagen. Mein Vater ist einer der trefflichsten Männer seiner Zeit. Aber er wird alt und ist, ich will nicht sagen grausam, aber von zu energischem Charakter. Er ist furchtbar durch seine Gewöhnung an unbegrenzte Macht und jetzt durch diese Amtsgewalt, die der Kaiser den Oberkommandierenden der[174] Landwehr verliehen hat. Wäre ich vor vierzehn Tagen zwei Stunden später gekommen, so hätte er den Schreiber in Juchnow aufhängen lassen«, sagte Fürst Andrei lächelnd. »Ich bekleide also diese amtliche Stellung, weil außer mir niemand einen Einfluß auf meinen Vater hat und ich ihn hier und da vor einer Handlung bewahre, über die er sich nachher quälen würde.«
»Ah, und Ihre Prinzipien? Da sehen Sie ja nun selbst!«
»Ja, aber die Sache liegt denn doch anders, als du sie auffaßt«, entgegnete Fürst Andrei. »Ich wünschte und wünsche diesem Schurken von Schreiber, der den Landwehrleuten die ihnen zukommenden Stiefel unterschlagen hat, nicht im entferntesten etwas Gutes; ich wäre sogar sehr zufrieden gewesen, ihn gehängt zu sehen; aber mir tat mein Vater leid, das heißt also wieder ich mir selbst.«
Fürst Andrei wurde immer lebhafter. Seine Augen bekamen einen fieberhaften Glanz, während er seinem Gast zu beweisen suchte, daß der Grund für sein Handeln nie in einem Wunsch, dem Nächsten Gutes zu tun, gelegen habe.
»Nun, du willst also deinen Bauern die Freiheit schenken«, fuhr er fort. »Das ist ja sehr gut; aber nicht für dich, der du meines Wissens nie jemand hast mit Ruten peitschen und nach Sibirien transportieren lassen, und noch weniger für die Bauern. Wenn man die Bauern schlägt, mit Ruten peitscht und nach Sibirien schickt, so glaube ich, daß sie das absolut nicht als etwas Schlimmes empfinden. In Sibirien führt der Bauer dasselbe tierische Leben weiter, und die wunden Stellen an seinem Körper verheilen, und er ist ebenso glücklich, wie er vorher war. Aber nützlich ist die Bauernbefreiung für diejenigen Grundherren, die bei den jetzigen Verhältnissen moralisch zugrunde gehen, die da tun, was sie nachher bereuen, und dieses Gefühl der Reue zu ersticken suchen, und infolge ihrer Befugnis, gerechte und ungerechte[175] Strafen zu verhängen, hart werden. Das sind die Leute, die mir leid tun und um derentwillen ich die Bauernbefreiung wünschen würde. Du hast vielleicht nicht mit angesehen, was ich mit angesehen habe: wie gute Menschen, die in diesen Überlieferungen einer unbeschränkten Machtbefugnis groß geworden sind, mit den Jahren bei zunehmender Reizbarkeit hart und grausam werden, sich dessen selbst bewußt sind, sich aber doch nicht beherrschen können und sich immer unglücklicher und unglücklicher fühlen.«
Fürst Andrei sagte das mit so tiefer Empfindung, daß Pierre unwillkürlich auf den Gedanken kam, Andrei müsse wohl durch den Hinblick auf seinen Vater zu dieser Ansicht gelangt sein.
Er gab ihm keine Antwort.
»Also diese Leute sind es, die mir leid tun, die Leute, die ihre Menschenwürde, die Ruhe ihres Gewissens, die Reinheit ihrer Seele verlieren; aber kein Bedauern habe ich für den Bauer; wenn du dem auch den Rücken mit Ruten peitschen und das Haar über der Stirn abrasieren läßt, es bleibt doch immer derselbe Rücken und derselbe Kopf.«
»Nein, nein, tausendmal nein!« rief Pierre. »Darin werde ich Ihnen nie beistimmen.«
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