[384] Augenmaß, die Fähigkeit, räumliche Größen (Längen, Winkel, Flächen) untereinander zu vergleichen und das Resultat dieser Vergleichungen in irgend einer Form zum Ausdruck zu bringen.
Der psychische Vorgang bei diesen Vergleichungen ist ein sehr komplizierter, für den wir eine vollständige Erklärung zurzeit noch nicht besitzen. Die Aeußerung des Urteils ist nicht das Ergebnis eines einfachen Eindruckes, sondern einer Kombination mehrerer Empfindungsmerkmale, nämlich erstens des gleichzeitigen Sehens der Größen und zweitens der Blickbewegung [1]. Wir sind aber nicht in der Lage, diese Elemente zu trennen, in das Bewußtsein tritt uns nur die Vorstellung der Größe. Man nimmt an, daß bei dem ersten Element, beim Sehen mit fixiertem Blick, die den Bildpunkten entsprechende Netzhautdistanz der Schätzung zugrunde liege, bei dem zweiten die bei der Blickbewegung aufzuwendende Muskelarbeit, d.h. diejenige Arbeit, die erforderlich ist, um das Bild eines Punktes auf der Netzhaut durch das Bild eines andern Punktes zu ersetzen. Beide Momente sind bei dem Zustandekommen der[384] Größenvorstellung beteiligt, indem sie sich gewissermaßen gegenseitig unterstützen und die Genauigkeit erhöhen [2]. Die Fähigkeit, Größen richtig zu vergleichen, beruht auf Erfahrung und daher die Ausbildung des Augenmaßes auf Uebung und rationeller Schulung, welche für die Techniker der verschiedensten Berufsarten von größter Wichtigkeit ist. Im allgemeinen ist es für zwei nebeneinander angeordnete räumliche Gebilde leichter zu beurteilen, ob sie einander gleich, ob eins derselben größer oder kleiner ist, als den Betrag des Unterschiedes zum Ausdruck zu bringen. Besondere Schwierigkeiten bietet die Beurteilung der Ausdehnung von Körpern nach verschiedenen Richtungen hin, vornehmlich bei der Vergleichung lotrechter und wagerechter Linien, oder Linien beliebiger und verschiedener Richtung (z.B. der Vergleich von Höhe, Breite oder Höhe und Entfernung). Hierbei spielen die optischen Täuschungen, die zum Teil in dem Bau des Auges ihre Begründung haben [1], eine große Rolle. Uebung und Erfahrung müssen die Täuschungen erkennen und vermeiden lehren, um richtige Schätzungen zu erhalten. Eine der wichtigsten Anwendungen findet das Augenmaß bei der Ablesung an Maßstäben. Hierbei handelt es sich darum, die Lage von Punkten innerhalb der Teilungsstriche in Bruchteilen (Zehnteln) der Maßstabeinheiten auszudrücken. Die Genauigkeit dieser Schätzung, die auf der Vergleichung des abzuschätzenden Stückes, die Ergänzung desselben zur Intervallgröße, und des ganzen Intervalles beruht, ist in erster Linie abhängig von der Größe des Intervalles, sodann von der Größe des abzuschätzenden Stückes. Für kleine Intervalle ist/der Fehler einer solchen Schätzung im allgemeinen umgekehrt proportional der Wurzel der scheinbaren Intervallgröße [3]. Innerhalb eines Intervalles ist die Schätzungsgenauigkeit am größten in der Mitte, etwas geringer am Anfang und Ende desselben und am kleinsten an den Intervallstellen 1/4 und 3/4 [3]. Das Entfernungschätzen im Gelände erfordert große Erfahrung, um den Einfluß der Beleuchtung, der Durchsichtigkeit der Luft, der Bodenform und Bodenbedeckung u.s.w. richtig beurteilen zu lernen und die Schätzung vor Täuschungen zu sichern. (S. Entfernungschätzung.) Das Schätzen von Winkeln muß ausgehen vom rechten und gestreckten Winkel, indem eine Senkrechte zu einem Schenkel des abzuschätzenden Winkels gelegt und derselbe mit dem rechten Winkel verglichen wird. Die Schätzung des rechten Winkels läßt sich durch Halbierung des gestreckten Winkels verhältnismäßig genau ausführen, da selbst kleine Abweichungen scharf erkannt werden. So z.B. ergab sich aus Versuchen über die Herstellung eines rechten Winkels mit einer Meßlatte und einem Fluchtstab ein mittlerer Fehler von ± 0,4°. Zur Schätzung kleiner Winkel eignet sich besonders eine fortgesetzte Halbierung des rechten Winkels. Die Schätzung von Winkeln im Gelände ist besonders schwierig, wenn der Schätzende sich nicht im Scheitelpunkt des Winkels befindet. Die Schätzung von Flächengrößen gründet sich auf diejenige von Längen und Winkeln, sie ist daher schwierig und bedarf besonderer Uebung. Die Schätzung von Grundstücksgrößen im Gelände muß ausgehen von der Vorstellung der Größe der Flächeneinheiten, welche in die zu schätzende Fläche übertragen und den Formen derselben angepaßt werden müssen.
Literatur: [1] Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 3. Abschn., Leipzig 1867. [2] Kries, J. v., Beiträge zur Lehre vom Augenmaß, Hamburg und Leipzig 1891. [3] Reinhertz, Mitteilung einiger Beobachtungen über die Schätzungsgenauigkeit an Maßstäben, insbesondere an Nivellierskalen, Halle 1894.
Reinhertz.