[457] Entfernungsschätzung. Das Auge unterscheidet die verschiedenen Entfernungen, in denen ein Gegenstand sich befindet, nach dem Gefühl der bei der Beobachtung notwendigen Akkommodationsanstrengung, dem Gefühl für die Konvergenz der Sehachsen der beiden Augen, ferner nach dem auf Grund von Erfahrung bekannten Eindruck, den Gegenstände in verschiedenen Entfernungen hervorrufen, und nach dem Sehwinkel bezw. der scheinbaren Größe. Diese verschiedenen Meßelemente unterstützen sich gegenseitig; von der durch Uebung zu gewinnenden Erfahrung in der Vergleichung der Eindrücke, Sehwinkel und scheinbaren Größen hängt die Zuverlässigkeit der Schätzung ab (vgl. Augenmaß, Bd. 1, S. 384).
Die scheinbare Größe und der Eindruck, den genau bekannte Gegenstände, im ganzen wie in ihren Teilen, in der Farbenwirkung u.s.w. (z.B. trigonometrische Signale, Fluchtstäbe, Nivellierlatten, Menschen, Soldaten, Uniformstücke, Pferde, Geschütze, marschierende Abteilungen, auch Bäume, Häuser, Fenster u.s.w.) in verschiedenen Entfernungen machen, liefern bei gleichartigen Verhältnissen und häufigen, andauernden (nicht durch längere Pausen unterbrochenen) Vergleichungen, wie z.B. bei geometrischen Feldarbeiten, Gefechts- und Schießübungen einen ziemlich zuverlässigen Vergleichsmaßstab. Bei wechselnden Verhältnissen dagegen, stark bedeckten und unebenen Gelände (mit Schluchten, Wasserflächen u.s.w.) bei ungünstiger Beleuchtung (Regen, Nebel), besonders aber auch nach längerer Unterbrechung der Uebung können selbst grobe Irrtümer vorkommen. Ein weiteres Mittel ist die Ausmessung der zu bestimmenden Entfernungen mit Strecken, die dem Augenmaß genau bekannt sind, oder fortgesetztes Halbieren der Entfernung, bis der aliquote Teil einer bekannten Strecke entspricht. Das gleiche Verfahren findet Anwendung, wenn sich das Auge nicht in einem Endpunkte der zu bestimmenden Entfernung befindet. In diesem Falle ist die Schätzung ziemlich zuverlässig, wenn die Entfernung rechtwinklig, aber sehr trügerisch, wenn sie schief zur Ziellinie liegt. Die Entfernungsschätzung läßt sich durch manche Mittel unterstützen, wie z.B. neben den obengenannten noch dadurch, daß im Endpunkte einer zu schätzenden unbekannten Entfernung eine dem Augenmaße bei verschiedenen Entfernungen bekannte Größe (z.B. 100 m, 1000 m) rechtwinklig abgesetzt und mit der zu schätzenden Entfernung verglichen wird, um auf dem Wege der Richtigstellung dieses Verhältnisses das Urteil zu bilden. Die Entfernungsschätzung ist eine Erfahrungssache, sie bedarf einer sorgfältigen methodischen Ausbildung mit zahlreichen Uebungen, die besonders auf die richtige Erkennung und Beurteilung Hörender Einflüsse (wechselnde Beleuchtung, Durchsichtigkeit der Luft, Bodenform, Bodenbedeckung) Rücksicht zu nehmen haben. Die Uebungen haben mit kleinen Entfernungen zu beginnen und sind erst dann auf größere auszudehnen. Dabei sind die geschätzten Entfernungen mit genau bekannten zu vergleichen, die bei kürzeren durch Abmessen oder Abschreiten gewonnen werden, bei größeren aus Karten zu entnehmen sind. Es ist erforderlich, daß in demselben Gelände mit verschiedenen Entfernungen, und mit gleichen Entfernungen in verschiedenen Geländen wiederholte Uebungen stattfinden, und besonders auf die Beseitigung regelmäßiger Fehler (stets zu groß oder klein schätzen) zu achten. Ein allgemein brauchbarer Ausdruck für die Genauigkeit der Entfernungsschätzungen ist nicht angebbar; es kommen häufig Maximalabweichungen bis 50% vor, bei Ungeübten ist auf eine Unsicherheit von 30%, auf eine größere Genauigkeit als 10% im allgemeinen überhaupt nicht zu rechnen.
Reinhertz.