[782] Energiestrom. Wenn wir einen Gewichtstein (z. B. bei einem Uhrwerk) heben (die Uhr aufziehen), so speichern wir in ihm potentielle Energie auf (s. Energie). Diese wird dann als Bewegungsenergie auf die Räder übertragen. Durch eine endlose Schnur könnten wir diese auf ein zweites, entfernt befindliches Uhrwerk weiterleiten und dazu verwenden, es auszuziehen, d.h. seinem treibenden Gewicht potentielle Energie zuzuführen. Es ist somit durch die Schnur die Energie auf eine entfernte Stelle übertragen, weitergeleitet worden. Derartige Energieübertragungen finden zu technischen Zwecken in großem Maßstabe statt, z. B. durch Transmissionswellen, Drahtseil- und Riementransmissionen, hydraulische, pneumatische und elektrische Kraftübertragung etc. Man gewinnt danach die Vorstellung, daß die Energie ein Ding ist, das einen gewissen Raum einnimmt und weitergeleitet werden oder fortfließen kann, ähnlich wie eine Flüssigkeit, allerdings mit dem Unterschied, daß sie während des Strömens im allgemeinen allerlei Wandlungen erfährt, während die Flüssigkeit, insoweit nicht durch die Druck- und Temperaturänderungen bedingte Zustandsänderungen in Betracht kommen, sich gleichbleibt. Die Anschauung, nach der im Prinzip alle Energieformen nur verschiedene Formen von Bewegungsenergie sind, würde auch diesen Unterschied verwischen. Man könnte hiernach von Energieteilchen sprechen, ähnlich wie von Flüssigkeitsteilchen, den Ort angeben, wo sie sich befinden, die Energie lokalisieren und die Stromlinien sowie die Stärke des Energiestromes u. dgl. berechnen, ähnlich wie bei Problemen der Hydrodynamik oder der Ausbreitung elektrischer Ströme. In der Tat erweist sich diese Auffassung im allgemeinen durchführbar, wie namentlich Poynting, Heaviside, [782] Lodge und Mie gezeigt haben. Am interessantesten gestaltet sich die Untersuchung des Energiestromes im elektromagnetischen Felde. Wird z. B. ein Kondensator oder ein galvanisches Element A, wie die Fig. 1 andeutet, durch einen Draht geschlossen, so daß ein elektrischer Strom zustande kommt, so wandert die elektrische Energie von A aus durch das den Draht umgebende Diëlektrikum in den Raum hinaus längs Stromlinien, welche die Schnitte der magnetischen Niveauflächen mit den elektrischen sind. Eine magnetische Niveaufläche ist in der Figur die Ebene der Zeichnung, die Energiestromlinien sind somit die senkrecht durch die elektrischen Kraftlinien (punktiert) gezogenen elektrischen Niveaulinien. Durch die Kraftlinien werden zwischen je zwei Stromlinien Energiezellen abgegrenzt, die sich in der Richtung der Pfeile weiterbewegen und ihren Energieinhalt an den Draht abgeben, wo er sich in Wärmeenergie verwandelt.
An der Oberfläche des Drahtes tritt eine Brechung der Energiestromlinien ein, da diese im Innern des Drahtes senkrecht zur Oberfläche verlaufen müssen, weil jeder Drahtquerschnitt eine Äquipotentialfläche ist und die elektrischen Kraftlinien (identisch mit den Stromlinien des elektrischen Stromes) der Drahtoberfläche parallel verlaufen. Bei Wechselströmen hoher Frequenz vermag die Energie nur in geringe Tiefe unter die Drahtoberfläche einzudringen. Der Fall der Entstehung eines Induktionsstromes in einem ringförmigen Leiter ist in Fig. 2 dargestellt. Zur Erzeugung des Stromes kann ein Magnetstab (durch die schattierte runde Stelle in der Mitte angedeutet) in den Ring hineingeschoben oder herausgezogen oder ein Elektromagnet erregt oder außer Tätigkeit gesetzt werden. Den gleichen Effekt würde es auch haben, wenn der Elektromagnet durch ein stromdurchflossenes Solenoïd oder eine rotierende, elektrisch gemachte Scheibe ersetzt würde. Bei Verwendung von Wechselstrom oder alternierender Ladung oder Rotationsrichtung der Scheibe würde natürlich Wechselstrom induziert, d.h. die Spiralen, welche die Stromlinien der Energie und die elektrischen Kraftlinien darstellen, würden ihre Rolle abwechselnd vertauschen. Die in die Drahtoberfläche eintretenden Energiezellen stehen in allen Fällen schräg zur Oberfläche, d.h. während des Eintritts verschieben sich die Ausgangspunkte der Kraftlinien, also die elektrischen Ladungen, von denen sie ihren Ausgang nehmen, wie dies auch notwendig ist, falls ein elektrischer Strom zustande kommen soll. Bei Fig. 2 kann man besonders leicht übersehen, daß die Verschiebung. somit die Stromstärke an allen Punkten der Leitung dieselbe sein muß. Im ersten Fall verschwinden beständig Kraftlinien oder Kraftröhren an der Indifferenzstelle, im zweiten Fall bleiben sie bestehen.
Die Lokalisierung der Energie und somit die Untersuchung des Energiestromes läßt sich in allen Fällen durchführen, mit Ausnahme der Gravitationserscheinungen, d.h. denjenigen, von denen wir ausgegangen sind. Die potentielle Energie läßt sich nicht streng lokalisieren. Gräbt man z. B. einen Schacht und häuft die ausgegrabene Erde in der Nähe an, so könnte man sagen, sie besitzt die durch die Arbeit des Hebens aufgespeicherte Energie, denn sie kann wieder in den Schacht hinabstürzen. Es können aber auch andre benachbarte Erdmassen hineinstürzen, die potentielle Energie geht also den erstern Massen verloren, ohne daß ein E. stattgefunden hat. Man erhofft die Aufklärung dieser Schwierigkeit von einer Theorie der Gravitation, die auf Fernwirkungen verzichtet und auch diese Erscheinungen ebenso wie die elektrischen und magnetischen als Wirkungen von Teilchen zu Teilchen auffaßt. Vgl. O. Lehmann, Elektrizität und Licht (Braunschw. 1895).