[679] Traumdeutung (Oneiromantie). Die ehemals allgemein verbreitete Anschauung, daß der Traum das natürliche Verbindungsmittel mit der übersinnlichen Welt sei, und daß die wandernde Seele des Träumenden inzwischen mit Göttern und verstorbenen Vorfahren verkehre und von ihnen Eingebungen, Ratschläge und Winke für die Zukunft in einer Art Bildersprache[679] erhalte, veranlaßte die Bemühung, diese Bilder zu deuten. Anderseits suchte man aber auch solche Traumoffenbarungen absichtlich herbeizuführen. Bei den meisten Naturvölkern übernimmt der Medizinmann oder Schamane gegen Bezahlung den Auftrag, sich durch erprobte Mittel in Traumzustände zu versetzen und dann die Götter oder Vorfahren über das Schicksal einer Person zu befragen. Diese Traum- oder Totenorakel bestanden noch bei Griechen und Römern; die peruanischen Priester bedienten sich der scharfnarkotischen Gräberpflanze (Daturasanguinea), um Götter- und Ahnenerscheinungen zu erhalten. Joseph und Daniel erlangten als Traumdeuter ihren Einfluß. In Assyrien befand sich auf der Plattform der Stufenpyramiden das Gemach, in dem die babylonische Sibylle den nächtlichen Besuch des Orakelgottes empfing, und das Amt Daniels bei Nebukadnezar finden wir schon im altbabylonischen Heldengedicht von Izdubar, dem sein Traumausleger Eabani als steter Begleiter zur Seite steht. Die Ägypter übten zu solchen Zwecken die Hypnotisierung durch Anschauen glänzender Gegenstände. Bei den Griechen und Römern fanden Traumorakel, außer an den Stätten der Totenorakel, namentlich in den Äskulaptempeln statt; die Kranken (oder auch an ihrer Stelle die Priester) streckten sich auf den Fellen frisch geopferter Widder nieder, und aus der Art ihres Traumes wurde das einzuschlagende Heilverfahren von den Priestern gefolgert. Für die Kreise des Volkes dienten früh Traumbücher, Aufzeichnungen über die angebliche Bedeutung der einzelnen Träume. Das älteste hat man bruchstückweise auf Ziegelstein in der Bibliothek von Ninive gefunden. Im klassischen Altertum genoß dann das höchste Ansehen das ausführliche und von vernünftigen Grundsätzen ausgehende Traumbuch (»Oneirokritika«) des Artemidoros (s. d. 2), das bald nach Erfindung der Buchdruckerkunst auch in lateinischer und deutscher Übersetzung erschien. Ein mohammedanisches Traumbuch gab Battier nach dem arabischen Texte (»L'oneirocrite musulmane«, Par. 1664) heraus. In neuerer Zeit haben zwar die Naturphilosophen G. H. v. Schubert (»Die Symbolik des Traums«, 4. Aufl., Leipz. 1862) und E. R. Pfaff (»Das Traumleben und seine Deutung«, 2. Aufl., Potsd. 1873) den Glauben an vorbedeutende Träume zu retten gesucht, aber die Traumbücher werden nur noch von der Landbevölkerung auf Jahrmärkten gekauft. Vgl. Büchsenschütz, Traum und T. im Altertum (Berl. 1868); Lenormant, Die Magie und Wahrsagekunst der Chaldäer (deutsch, Jena 1878); Freud, Die T. (Wien 1899), sowie die im Artikel »Traum« erwähnten Schriften von Scherner und Maury.