[342] In alter Zeit lebte in Settsu ein schönes Mädchen, das zu gleicher Zeit von zwei Freiern umworben wurde. Diese Freier liebten das Mädchen gleich leidenschaftlich, und jeder beeiferte sich, durch unzählige Beweise hingebender Liebe die Neigung seiner Schönen zu gewinnen. Der eine derselben hieß Mubura, stammte gleich seiner Angebeteten aus Settsu und wohnte in ihrer Nachbarschaft. Der andere aber, der Tschinu hieß, war aus der Provinz Idzumi hergezogen, die weiter nach Süden hin liegt. Er war also ein Fremder; aber das hinderte nicht, daß er eben so gern im Hause der Eltern des Mädchens gesehen ward, denn auch er weihete all seine Zeit, all sein Dichten und Trachten dem Mädchen, und er dachte nicht daran, in seine Heimat zurückzukehren.
Nun war es in der That merkwürdig, daß beide jungen[342] Männer von gleichem Alter, gleich kräftig und schön waren, und soviel sich das Mädchen auch bemühete, einen Unterschied zu entdecken, es vermochte keinen zu finden. Auch zeigten beide die nämlichen trefflichen Eigenschaften des Herzens und des Geistes, und wenn das Mädchen verstohlen den einen oder den anderen beobachtete, um zu erspähen, wer von ihnen der Bessere sei, so konnte es auch darin keinen Unterschied erkennen. So kam es endlich zu dem Entschlusse, dem die Hand zu reichen, dessen Liebe die größere sei. Aber auch hiermit war nichts gewonnen; denn kaum dämmerte der Abend, so kam jeder von beiden seines Weges daher und brachte reiche Geschenke, und auch diese und die Art und Weise, wie sie dargeboten wurden, waren und blieben sich gleich.
Was war zu thun? Das Mädchen wußte keinen Rath und ließ schwermüthig den Kopf hängen, während die beiden Freier monatelang ihre Bemühungen geduldig und unablässig fortsetzten.
Da sagten eines Tages die Eltern des Mädchens: »Dein Benehmen ist unpassend diesen jungen Männern gegenüber; wir sind darüber sehr betrübt und ersuchen dich, endlich eine entscheidende Wahl zu treffen. Nimm den einen oder den anderen und sei getrost unserem Willen gehorsam; denn reichst du einem die Hand, so wird die Liebe des anderen bald vergehen!«
Das Mädchen seufzte und betheuerte, wie gern es den Willen der Eltern befolgen wolle; aber die beiden Freier waren so gänzlich gleich, daß es nicht dazu kommen konnte, eine Wahl zu treffen. »Dann wollen wir dir helfen,« sprachen die Eltern, und demgemäß nahmen sie nun ihrerseits die Angelegenheit in die Hand.
Damals war es Sitte in jener Gegend, die Häuser auf Pfählen in den Fluß hinein zu bauen, und so stand das Haus der Eltern des Mädchens ebenfalls auf mächtigen Holzpfählen über dem Ikuta-Flusse. Als nun eines Tages beide jungen Männer anwesend waren, sprachen die Eltern: »Unsere Tochter verzehrt sich in getheilter Liebe in Folge der zwiefachen Bewerbung eurerseits; deshalb wollen wir heute auf alle Fälle[343] die Sache zur Entscheidung bringen. Einer von euch ist unser Nachbar, der andere kommt aus der Ferne; das soll indessen keinen Unterschied machen, denn ihr seid beide des gleichen Mitgefühls werth. Nehmt also jeder seinen Bogen; dort in einiger Entfernung schwimmt eine weiße Möwe auf dem Flusse – zielt gut! Wer den Vogel trifft, bekommt unsere Tochter zur Frau.«
»Wohl gesprochen!« riefen beide freudig aus. Schnell sprangen sie auf, nahmen den Bogen zur Hand und schossen beide zu gleicher Zeit den Pfeil ab, der mit pfeifendem Tone die Luft durchschnitt.
Doch wie war der Ausgang? Der Pfeil des einen durchbohrte des Vogels Kopf, der des anderen ging mitten durch den Leib; wer konnte also sagen, welcher von beiden der bessere Schütze sei?
»Genug der Qual!« rief das Mädchen. »Die flüchtige Woge soll meine Seele aus diesem Zwiespalte befreien! Wohl nennt man unseren geliebten Strom von Settsu Lebensspender – aber jetzt soll er mir den Tod geben und mein Grab sein!« Mit diesen Worten stürzte sie sich, ohne daß ihre Eltern es hindern konnten, von der Plattform des Hauses, auf der sie alle standen, hinab in den Strom.
Vater und Mutter waren außer sich; sie schrieen und rangen die Hände, zerrissen in ohnmächtigem Schmerz ihre Kleider und riefen vergebens nach ihrem geliebten Kinde. Die Freier stürzten ohne sich zu besinnen dem Mädchen nach in die schäumenden Wogen. Der eine ergriff ihre Hand, der andere ihren Fuß, und so sanken sie mit einander in die Tiefe hinab.
Am andern Tage wurden die Leichen aus dem Wasser gezogen, und mit heißen Thränen bestatteten die Eltern ihre Tochter. Auch die Eltern der Jünglinge kamen herbei und gruben jedem ein Grab, zu beiden Seiten vom Grabe des Mädchens; so sollte es sein. Aber wie durfte dies dem Fremden gestattet werden? Er gehörte nicht hierher; durfte man es zugeben, daß der heimische Boden mit seiner Leiche verunreinigt würde? Die Eltern des[344] fremden Jünglings lösten jedoch diese Schwierigkeiten bald; sie zogen nach Idzumi in ihre Heimat und beluden ein Schiff mit heimischer Erde, und diese brachten sie herbei, um ihren Sohn darin zu bestatten. Und so befindet sich bis auf den heutigen Tag zwischen Kauba und Osaka des Mädchens Grab unter einem Hügel, der zugleich die Gräber der beiden getreuen Jünglinge deckt. Das Volk nennt ihn Otomodzuka, der Jungfrau Todtenhügel, und hört nicht auf, davon zu erzählen und durch Dichtungen die wunderbare Begebenheit zu feiern, welche mit dem Tode der drei Liebenden noch nicht ihr Ende gefunden hatte.
Die Sitte verlangte es in Japan, daß man den Verstorbenen ihre Lieblingshabe in das Grab mitgab. Mit den Männern begrub man außer ihren Prachtgewändern, welche man sorgsam in einen hohlen Bambus that, auch ihre Waffen, Bogen, Pfeile und namentlich ein Schwert. Diese Vorschrift hatte man nun bei dem Manne aus Settsu richtig erfüllt, aber nicht so bei dem aus Idzumi; der arme Tschinu hatte weder Bogen noch Pfeile, weder Schwert noch Lanze mitbekommen, und so konnte sein Geist unmöglich Ruhe finden, denn er vermochte sich gegen seinen Nebenbuhler nicht zu vertheidigen, der ihn nun nach dem Tode mit Haß und grimmiger Feindschaft verfolgte.
Einst zog ein Reisender mit seinem Gefolge an dem Grabe vorüber. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und er sah sich genöthigt, hier für die Nacht zu rasten. Bevor er jedoch Anstalten dazu traf, hörte er deutlich ein entsetzliches Waffengeklirr und Kampfgetöse von dem Hügel her. Erschrocken sandte er seine Leute hin, damit sie zusähen, was es gäbe; aber sie kamen zurück, ohne etwas entdeckt zu haben. Der Reisende legte sich nieder und schlief in Gedanken an den sonderbaren Vorfall ein. Und da, mitten in der Nacht, wurde er geweckt von einem Manne, der in blutgetränkten Kleidern an seinem Lager kniete. »Ich werde von einem Feinde hart bedrängt,« sprach er bittend und leise, »o, borge mir gütig dein Schwert, damit ich mich vertheidigen kann und Ruhe finde.« Der Reisende war sehr[345] bestürzt, doch erfüllte er die Bitte des Mannes und gab ihm sein Schwert, mit dem dieser sofort verschwand. Der Reisende sprang auf und glaubte, ein schwerer Traum triebe seinen Spott mit ihm; doch sein Schwert war fort, und abermals hörte er ganz in der Nähe das unheimliche Kampfgetöse. Dasselbe dauerte indeß nur kurze Zeit; dann kam das Gespenst zurück und rief frohlockend: »Durch deinen rühmenswerthen Beistand ist es mir gelungen, meinen Feind zu besiegen, der mich so hart bedrängte! Zum Danke dafür will ich nun für dich und dein Wohlergehen unablässig wachen, so lange du lebst.« Das Gespenst verschwand der Morgen grämte. Der Reisende saß tief in Gedanken über – der Morgen grauete. Der Reisende saß tief in Gedanken über sein Abenteuer; als es heller ward, sah er, wie aus dem Grabhügel an der einen Seite ein Blutstrom geflossen war, und sein Schwert betrachtend, fand er auch dieses mit Blut bedeckt. Er erzählte die unheimliche Begebenheit seinen Genossen, als sie erwachten; diese erzählten sie weiter, und bis auf den heutigen Tag ist dieselbe im Verein mit der Geschichte des Mädchens von Unnai in Japan in gutem Andenken geblieben, und die Jungfrau und die beiden Liebenden, welche unter jenem Hügel ruhen, werden wohl immerdar im Munde des Volkes fortleben.
Buchempfehlung
»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge
276 Seiten, 9.80 Euro