[411] Es war einmal ein König, der keine Kinder hatte. Einst fand er auf der Jagd einen Kasten, in dem ein Knabe lag; die Königin nahm den Findling an Sohnesstatt an und nannte ihn Načar Ogli; bald darauf gebar[411] sie einen Sohn, den Mirzà Mehmet. Načar zeichnete sich noch als Kind durch seine ungewöhnliche Kraft aus, so dass es seinen Altersgenossen beim Spiele sehr schlecht erging. Als er einst einem Knaben ein Ohr abriss, schalt ihn dessen Mutter, er sei gar kein Königssohn; auf sein Drängen offenbarte ihm die Königin das Geheimnis seiner Auffindung. Alsbald verliess er die Stadt und zog mit seinem Bruder, der sich ihm angeschlossen hatte, in die Fremde.
Bei Nacht lagerten sie sich in einem Walde; während Mirza Mehmet einschlief, entfernte sich Načar Ogli, um Feuer zu holen, und stiess auf sieben Divs, die rings um einen grossen Kessel mit sieben geschlachteten Büffeln sassen. Der Held hob den Kessel auf, stellte ihn beiseite, nahm einen Feuerbrand und kehrte zurück. Die Divs folgten ihm zornig, mit Mühlsteinen in der Hand; Načar erschlug sie jedoch allesamt und liess ihre Leichen bei dem Scheiterhaufen liegen. Am nächsten Morgen setzten beide ihren Weg fort und gelangten zum Flusse Araz2; dort diente ein Riese als Brücke, indem er Wagen und Pferde über sich hinwegfahren liess. Auf die Frage des Načar Ogli, warum er diese Mühe auf sich nehme, antwortete er, er wolle den Načar Ogli, der sieben Divs getötet, hinüberfahren sehen und dann sterben. Der Held offenbarte ihm seinen Namen, und der Riese schloss sich ihm als sein zweiter Bruder an. Darauf begegneten sie einem Recken, der mit zwei Mühlsteinen in den Händen um ein Dorf herumlief; dieser schloss sich ebenfalls dem Helden als Bruder an, sobald er seinen Namen erfuhr.
Alle vier Gefährten lagerten sich nun auf einer Anhöhe. Als dann die ersten drei spazieren gingen und der Mühlsteinträger das Mittagessen bereitete, kam der Vater der getöteten Divs, ein Zwerg mit einem langen Bart, herbei und bat ihn um Essen. Der Recke gab ihm Pilav3; das verzehrte er im Nu und verlangte mehr von ihm. Als ihm aber dieser das verweigerte, versetzte ihm der Div eine Ohrfeige, dass er ohnmächtig niederfiel, leerte den Kessel und ging fort. Abends kehrten die Brüder heim und mussten hungern, da der Recke, um den unangenehmen Vorfall zu verheimlichen, sich mit Kopfschmerzen entschuldigte. Am nächsten Tage blieb der Riese zu Hause, um das Mittagessen zu bereiten, und ihm geschah das gleiche; der Zwerg verzehrte alles und entfernte sich, nachdem er ihm eine Ohrfeige versetzt hatte. Nicht glücklicher war Mirzà Mehmet.[412] Am vierten Tage blieb Načar Ogli zu Hause; ein furchtbarer Kampf entstand zwischen ihm und dem Div; verwundet floh der Zwerg und versteckte sich in einer Höhle; der Held versperrte den Eingang mit Steinen und kehrte heim. Am nächsten Tage gingen alle vier Recken zu der Höhle. Zuerst wurde der Riese an einem Stricke hinuntergelassen; der schrie aber bald: »Zieht mich heraus! Es brennt mich.« An seine Stelle traten der andere Recke und dann Mirzà Mehmet, die jedoch ebenfalls die Hitze nicht ertragen konnten. Schliesslich wurde Načar Ogli hinuntergelassen, der seine Brüder bat, auf sein Geschrei nicht zu achten. Er fand in der Höhle neben dem schlafenden Div ein wunderschönes Mädchen sitzen, weckte den Div und erschlug ihn im Kampfe. Nachts legte er sein Schwert zwischen sich und das Mädchen, weil es die Braut eines seiner Brüder sei. In drei anderen Zimmern fand er noch drei Divs, die er tötete, und befreite drei Jungfrauen. Nun wurden die im Divenpalast aufgehäuften Schätze, dann die Mädchen herausgezogen. Das letzte Mädchen, das der Held sich zur Braut erkoren hatte, warnte ihn, seine neidischen Brüder würden ihn in der Höhle bleiben lassen; sie wisse nur ein Mittel, ihm zu helfen. Jeden Sonntag kämen zwei Schafböcke, ein weisser und ein schwarzer, die miteinander kämpften; er solle sich auf den weissen schwingen, der ihn in die ›helle Welt‹ hinaufschleudern werde; sonst werde der schwarze ihn in die ›dunkle Welt‹ hinabwerfen.
In der Tat liessen die Brüder den Načar Ogli in der Höhle; am Sonntag kamen zwei Schafböcke, er sprang aber auf den schwarzen statt auf den weissen, und dieser schleuderte ihn sieben Schichten tief in die Erde. Da sah er eine Alte und bat sie um Wasser; diese erwiderte, in der Stadt gäbe es gar kein Wasser, ein Drache behüte die Wasserquelle; der frässe täglich ein Mädchen, und erst dann verstatte er, daraus Wasser zu holen; heut sei die Reihe an der Königstochter. Der Held erschlug den Drachen und rettete die Jungfrau, die ihre Hand in das Blut des Ungeheuers tauchte und damit ein Zeichen auf dem Rücken des Helden machte. Um den wunderbaren Helden zu sehen, berief der König alle Männer seines Reiches zu sich; und die Königstochter erkannte ihn an dem Blutzeichen wieder. Auf die Frage des Königs, welche Belohnung er sich wünsche, bat Načar Ogli, ihn in die ›helle Welt‹ bringen zu lassen. Der König riet ihm, den Drachen, der die Jungen des Tairē Semer4 fresse, zu töten; dann werde dieser ihn zum Danke dafür hinauftragen. Er ging zu dem benannten Baum, erlegte dort den Drachen, gab sein Fleisch den Jungen des Semer und schlief danach ein. Als nun Tairē. Semer geflogen kam und den unbekannten Menschen umbringen wollte,[413] schrien ihm die Jungen zu, dies sei ihr Retter. Da versprach er dem Helden seine Bitte zu erfüllen; er solle nur sieben Krüge Wasser und sieben Stücke Schaffett mitnehmen, die er ihm während des Fluges abwechselnd geben solle. Im letzten Augenblick war das Fett zu Ende; da schnitt sich der Held ins Bein und gab das Stück Fleisch dem Semer. Dieser aber verschluckte es nicht, sondern klebte es mit seinem Speichel wieder an seinen Ort, sobald sie in die ›helle Welt‹ gelangt waren.
Načar Ogli kehrte als Fremder (unerkannt) heim und fand seine Brüder um seine Braut streitend; er erbot sich, den Streit zu schlichten, liess sich zu der Höhle führen, aus der das Mädchen emporgezogen war, hieb den beiden heimtückischen Gefährten die Köpfe ab und warf ihre Leichen in die Grube. Dann kehrten Načar Ogli und Mirza Mehmet mit ihren Bräuten und vielen Schätzen zu ihren Filtern heim.
1 | Eminsche Ethnograph. Sammlung 5, 283–293. Der Erzähler ist ein Jezide namens Mho. ›Ogli‹ bedeutet türkisch ›Sohn‹ und steht hinter dem Vaters- oder Beinamen. – [Über dies verbreitete Märchen von dem Jünglinge, der mehrere Königstöchter aus unterirdischer Haft befreit, von seinen treulosen Brüdern unter der Erde gelassen wird und endlich emporgelangt die Verräter entlarvt, vgl. R. Köhler zu Gonzenbachs Sizilianischen Märchen Nr. 58 (oben 6, 163) und Kleinere Schriften 1, 543. 293. 437.] |
2 | Der von den Römern Araxes genannte Fluss Grossarmeniens, der sich in das Kaspische Meer ergiesst. |
3 | Pilav, das beliebteste Gericht im Orient, wird aus Reis bereitet, der in einer Brühe von Hammel- oder Rindfleisch langsam gekocht und dann mit Butter gemengt wird. Es gibt indes auch Pilav, das ohne Fleisch mit Obst, Mandeln, Butter und Eiern zubereitet wird. |
4 | Der von alten Persern verehrte Vogel Simurg (vgl. oben 14, 44). Der Zuname ›Tairè‹ (arabisch thairun = Vogel) weist darauf hin, dass die vorliegende Sage durch eine arabische Redaktion gegangen ist. |
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