IV. Die Mahre.

[4] Die Mahre [marra] gleicht der schönsten Dirne, ist aber doch der ärgste Unhold. Zur Nachtzeit, wenn die Leute liegen und schlafen, kommt sie herein und legt sich auf sie und drückt so fest auf die Brust, dass sie nicht den Atem holen, auch nicht ein Glied rühren können. Sie fährt ihnen mit ihren Fingern in den Mund, um die Zähne zu zählen; wird ihr Zeit gelassen, sie abzuzählen, so gibt man gleich den Geist auf und wird leblos. Man muss daher versuchen, die Mahre von sich los zu werden und sie hinauszutreiben, und ist man da imstande zu rufen »Jesus«, muss sie fliehen und verschwindet schleunigst. Die Leute glauben oft ganz wach zu liegen und die Mahre in die Stube zum Bette hereinkommen zu sehen, und dass sie sich auf die Bettdecke legt und in den Mund fährt, nach den Zähnen zu tasten, und sie können doch nichts thun, sich gegen sie zu wehren. Am Abend kann sie in der Stube sein und doch nicht gesehen werden; aber du merkst es, wenn du ein Messer nimmst und es in ein Taschentuch oder ein Strumpfband wickelst, welches nach der Hälfte doppelt zusammengelegt ist, und das Messer dreimal um dich aus einer Hand in die andere gehen lässt, während du hersagst:


Marra, marra, minni,

bist du hier innen?

denkst du nicht an jenen Schlag

den Sjúrđur Sigmundarson dir gab

einmal auf das Nasenbein?


Marra, marra, minni,

bist du hier innen,

hinaus sollst du fahren,

tragen beides Erde und Torf

und alles, was hier innen ist!


Liegt nun das Messer im doppelt zusammengelegten Bande in der Buchtung, wenn dasselbe wiederum aufgewickelt wird, so ist die Mahre in der Stube, und da muss derselbe Vorgang mit dem Messer und dem Bande gemacht werden, um zu versuchen, die Mahre herauszuschaffen.

Man sagt auch, um sie daran zu verhindern, in das Bett hinaufzuschlüpfen, sei es gut, am Abend, wenn man schlafen geht, die Schuhe so zu wenden, dass der Absatz gegen das Bett und der Vorderschuh von ihm weg über den Fussboden gekehrt ist; dann soll es der Mahre schwer fallen, in das Bett hinaufzuschlüpfen.

Quelle:
Jiriczek, Otto L.: Færöerische Märchen und Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 2 (1892) 1-24, 142-165, Berlin: A. Asher & Co, S. 4-5.
Lizenz:
Kategorien: