XXV. Bjarndreingur.

[102] Lbs. 536 4 to. Nach der Erzählung der alten Frau Guðriður Eyolfsdóttir von Páll Pálsson in Árkvörn 1863–4 niedergeschrieben.


Ein Königspaar hat drei Töchter. Eines Tages sind sie alle mit den Hofleuten draussen auf der Wiese zum Spielen. Da überfällt sie solch dichter Nebel, dass einer den andern nicht mehr sehen kann. Sie suchen nun alle so schnell wie möglich heimzukommen, und das glückt auch allen ausser der jüngsten Königstochter. Diese verirrt sich immer tiefer in den Wald. Endlich kommt sie an ein Haus und geht halbtot vor Hunger und Müdigkeit hinein. Wie es bald Abend wird, tritt ein riesiger Bär ins Haus. Sie ist furchtbar erschrocken, doch der Bär tröstet sie und sagt, sie brauche sich nicht zu fürchten.[102] Wie es vollends Abend geworden ist, fällt der Bärenpelz hinunter, und ein schöner Königssohn steht vor ihr. Sie bleibt nun bei dem verzauberten Manne und gebiert nach Jahresfrist einen Knaben, der Bjarndreingur (Bärenjunge) genannt wird. Wie das Kind vier Jahre alt geworden ist, erklärt der Bär, auf ein Jahr von den Seinigen fortgehen zu müssen. Aber die Frau muss ihm geloben, in dieser Zeit das Kind nicht aus dem Hause zu lassen. Nach einem Jahre kehrt er wieder zurück und ist nun eine Weile daheim. Wie der Knabe acht Jahre alt ist, verlässt er wieder Frau und Kind für längere Zeit, und auch während dieser Zeit darf Bjarndreingur nicht aus dem Hause gehen.

Als der Bär zum dritten Male sich zum Fortgehen anschickt, legt er seiner Frau aufs dringendste aufs Herz, den Knaben in seiner Abwesenheit nicht aus dem Hause zu lassen. Er würde wiederkommen, wenn Bjarndreingur zwölf Jahre alt wäre. Ehe er die Seinen verlässt, führt er sie noch in ein Haus, in dem er seine Kostbarkeiten aufbewahrt. Hier gibt er dem Knaben eine Axt, die alles zu durchschneiden vermag und eine Büchse mit einer alles heilenden Salbe. Dann führt er ihn zu einem schweren Steine und sagt, wenn er zwölf Jahre geworden sei, müsse er so stark sein, dass er den Stein aufzuheben vermöge. Nun geht der Bar fort, und Mutter und Sohn hausen allein im Walde. Wie Bjarndreingur ins zwölfte Jahr gekommen ist, ist er so stark und unbändig geworden, dass die Mutter ihn nicht mehr im Hause zu halten vermag. Er will durchaus hinaus, um seine Kraft an dem Steine zu erproben. Schliesslich setzt er seinen Willen durch. Wie er aus dem Hause tritt, sieht er inmitten anderer Tiere einen grossen Bären. Er hebt seine Axt auf und erschlägt ihn. Da liegt vor ihm sein eigener Vater im Blute. Der Mutter bricht bei diesem Anblick vor Kummer das Herz. Bjarndreingur bestattet die Eltern, steckt von den Kostbarkeiten, soviel er tragen kann, zu sich und geht von dannen. Wie er ans Meer kommt, sieht er hier einen Mann, der Steine ins Wasser wirft. Dieser nennt sich Steinn und sagt, ein Diener des Königs von Morland zu sein. Auf Bjarndreingurs Aufforderung geht er mit ihm. Nach einer Weile kommen sie in einen Wald und[103] finden dort einen Mann, der Bäume niederreisst. Er nennt sich Trérifur und gehört gleichfalls zum Gefolge des Königs von Morland. Auch er schliesst sich dem Knaben an. Alle drei gehen nun tiefer in den Wald und bauen sich dort ein Haus. Je zwei sollen täglich auf die Jagd gehen und einer abwechselnd zu Hause bleiben, um für das Essen zu sorgen. Am ersten Tage ist Steinn daheim. Wie er gerade Fleisch siedet, kommt ein Riese zu ihm und bittet um ein Stück. Steinn gibt es ihm. Der Riese lässt es aus seinen Klauen zu Boden fallen, und auf seinen Wunsch hin bückt sich Steinn, um es aufzuheben. In diesem Augenblicke springt der Riese ihm auf den Rücken und bearbeitet ihn so, dass er wie tot liegen bleibt. Am Abend bestreicht ihn Bjarndreingur mit seiner Salbe, und am andern Morgen ist er wieder ganz gesund. Trérifur, der am zweiten Tage das Essen bereiten soll, ergeht es nicht besser. Auch zu Bjarndreingur kommt schliesslich der Riese. Dieser lässt das Stück Fleisch am Boden liegen, überwältigt den Riesen und bindet ihm die Hände auf den Rücken. Dann schleppt er ihn hinaus in den Wald und fesselt ihn mit seinem langen Bart an eine Eiche. Wie er am anderen Tage nach seinem Gefangenen schaut, hat dieser sich losgerissen, seinen Bart aber an der Eiche zurücklassen müssen. Die drei Gefährten verfolgen nun die Blutstropfen, die von der Eiche ausgehen. Sie kommen schliesslich an die Mündung einer Höhle, die unten in der Erde liegt, und zu der riesige Felsstufen hinabführen. Steinn klettert zuerst vier Stufen hinunter, wagt sich dann aber nicht weiter und wird wieder hinaufgezogen. Trérifur kommt acht Stufen hinunter, doch dann ist sein Mut auch zu Ende. Erst Bjarndreingur klettert zwölf Stufen hinab und ist nun auf dem Grunde der Höhle. Hier trifft er bald auf ein weinendes Mädchen. Sie erzählt ihm, dass sie und ihre beiden Schwestern Töchter des Königs von Morland seien. Drei Riesen hätten sie geraubt. Gestern sei einer von diesen mit gebundenen Händen und abgerissenem Barte zurückgekehrt. Bjarndreingur lässt sich die Riesen zeigen und schlägt ihnen allen mit seiner Axt den Kopf ab. Hierauf schneidet er ihnen die Zungen heraus, die er zu sich steckt. Dann lässt er von seinen beiden Gefährten die Köpfe der Riesen,[104] alle Kostbarkeiten, die in der Höhle sind, und schliesslich die drei Mädchen hinaufziehen. Nun wartet er, dass das Seil auch zu ihm hinuntergelassen werde, doch die beiden andern lassen ihn treulos im Stiche und eilen mit den Prinzessinnen und der Beute davon. Bjarndreingur haut sich nun Stufen und kommt schliesslich wieder hinauf. – Wie er zum Könige von Morland gelangt, sind die beiden treulosen Gefährten, die sich als die Befreier der Prinzessinnen ausgeben, gerade im Begriffe, Hochzeit mit den ältesten Königstöchtern zu halten. Bjarndreingur lässt nun die jüngste rufen, zeigt ihr die Zungen der Riesen und gibt sich als den wahren Befreier zu erkennen. Das Mädchen geht zum Könige, der Betrug wird entdeckt, die beiden Verräter werden in einem mit Nägeln gespickten Fass den Berg hinuntergerollt, und Bjarndreingur heiratet die jüngste Königstochter.

Dieses Märchen ist in den übrigen Märchensammlungen ausserordentlich oft vertreten, jedoch von all diesen Behandlungen weicht das isländische durch seine Einleitung bedeutend ab. Es steht wohl zu vermuten, dass der erste Teil, bis zum Tode des verzauberten Bären, einem anderen Märchen ursprünglich angehörte. – – – dass der Held unter besonderen Umständen seine Kindheit verlebte, wird bei Grimm, Suterm. und Cosquin erzählt. »Der starke Hans« (Grimm 166, II S. 238 ff.) wächst mit seiner Mutter bei Räubern auf, ebenso auch bei Suterm. »Der Bueb mit dem isige Spazierstecke« (S. 22 ff.), während »Jean de l'ours« (Cosquin 1, I S. 1 ff.), dessen Mutter von ihrem Manne durch einen Bären weggeschleppt wurde, in der Höhle des Bären zur Welt kommt und dort so lange bleibt, bis er stark genug ist, um zur Flucht den Stein von der Höhle wegzunehmen. In einer Variante zu »dem Sohne der Eselin« (Schneller S. 189 ff.) hat Gian dall' Orso die gleichen Kindheitsschicksale wie Jean de Tours.

Die weiteren Erlebnisse des tapferen Helden, d.h. seine Vereinigung mit zwei oder drei besonders starken Leuten zu gemeinsamem Haushalte, der Zwerg, Riese oder das alte Weib, die zwei oder drei Tage hintereinander die Gefährten des Helden, zu denen sie zuerst bettelnd gekommen sind, furchtbar zurichten, zuletzt aber vom Helden überwältigt werden und[105] blutend – meist mit Zurücklassung des Bartes – zu ihrer Wohnung zurückkehren, hierauf dann die Verfolgung der Blutspuren und die Feigheit der Gefährten, die nach kurzem Versuche es aufgeben, sich in die Höhle, den Brunnen etc. hinabzulassen, so dass es nur dem Helden gelingt, ans Ziel zu kommen, dann der siegreiche Kampf mit den Höhlenbewohnern, wodurch drei Prinzessinnen erlöst werden, das Herausziehen der Jungfrauen aus der Höhle und das Verraten des Helden durch die treulosen Gefährten, dann in den meisten Fällen die Hilfe durch irgend ein Wesen, das sich ausser ihm noch in der Höhle befindet, oder das er durch einen Ring, Pfeife etc. herbeiwünschen kann, darauf das Kommen des Helden zur Hochzeit der Betrüger, wo er gerade noch rechtzeitig erscheint, um entweder durch die Drachen- oder Riesenzunge oder durch die Geschenke, die er von den Königstöchtern erhalten hat, sich als den wahren Retter zu legitimieren – – – in dieser kurz skizzierten Form lässt sich dieses Märchen in ausserordentlich vielen Sammlungen nachweisen.

Es findet sich auf den Fær-öern (1 »Skeggjatussin« b. »Trødlið kjá Pápaleysa« S. 238 ff.), in Schleswig-Holstein (Müllenh. XVI »Hans mit de ysern Stang'« S. 437 ff.), Deutschland (Grimm 91 »Det Erdmänneken« II S. 22 ff. und 166 »Der starke Hans« II S. 238 ff.), Schweiz (Suterm. 21 »Der starke Hans« S. 62 ff. und 8 »Der Bueb mit dem isige Spazierstecke« S. 22 ff.), Wälschtyrol (Schneller 39 »Der Sohn der Eselin« S. 113 ff.), Walachei (Schott 10 »Petru Firitschell« S. 135 ff.), Sizilien (Gonz. 58 »Von den vier Königstöchtern« II S. 4 ff., 59 »Von Armaiinu« S. 7 ff., 61 »Von einem mutigen Königssohn, der viele Abenteuer erlebte« S. 21 ff., 62 »Die Geschichte von Bensurdatu« S. 33 ff., 64 »Die Geschichte von der Fata Morgana« S. 49 ff.), Griechenland (Hahn 70 »Der Goldäpfelbaum und die Höllenfahrt« II S. 49 ff.), und Lothringen (Cosquin 1 »Jean de l'ours« I S. 1 ff. und 52 »La canne de cinq cents livres« II S. 135 ff.). Weitere Literatur gibt Köhler in den Anmerkungen zu Gonz. (S. 238 ff.) und in den »Kleinen Schriften« (S. 292 ff.), ebenso auch Cosquin bei der Besprechung der beiden lothringischen Märchen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 102-106.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon