LII. Rósald und Geirald.

[219] Nach einem Manuskripte Steingrímur Thorsteinssons.


Ein armer Ritter hatte viele Kinder, so dass es ihm schwer wurde, ihnen allen eine gute Erziehung zu geben. Der älteste Sohn hiess Rósald, ein tüchtiger, tapferer Bursche. – – Ihn senden die Eltern einmal mit einem Auftrage in eine andere Stadt. Hier trifft er einen Jüngling, namens Geirald, den Sohn eines reichen Mannes, der sich im Bewusstsein seiner Reichtümer schon recht aufzuspielen weiss. Geirald will den jungen Rósald durchaus überreden, mit ihm in fremde Länder auf Abenteuer auszuziehen. Er wolle schon für das nötige Geld zur Reise sorgen – dafür müsse ihm Rósald nur versprechen, ihn bei jeder Gelegenheit als den Tüchtigeren und Stärkeren gelten zu lassen. Der Jüngling will gerne dem Anerbieten Folge leisten, vorausgesetzt, dass seine Eltern – und vor allem seine Mutter – ihm zur Reise die Erlaubnis geben wollen. Die Eltern sind bei seiner Rückkehr mit dem Plane auch durchaus einverstanden. Die Mutter legt ihrem Sohne noch besonders ans Herz, die von Geirald gestellte Bedingung[219] aufs treueste zu erfüllen und ihn nie zu verraten. Dann gibt sie ihm als Abschiedsgeschenk ein gutes Schwert und einen Diener zur Begleitung und lässt ihn ziehen. – Wie die Jünglinge auf einen einsamen Felsenpfad kommen, sehen sie zwölf Räuber nicht weit von ihrem Wege. Nun erinnern sie sich, dass man sie vorher schon vor diesen Leuten gewarnt hatte. Es sind die wildesten Räuber, die man sich denken kann. Jeder von ihnen nennt sich Haukur, nur mit dem unterscheidenden Zusätze der Blaue, Graue etc. Der Anführer heilst Haukur hái (d.h. der Hohe). – Wie Geirald die ungeschlachten Gesellen sieht, will er sogleich fliehen. Doch Rósald will diese prächtige Gelegenheit, seine Kraft zu erproben, nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Auf seinen Rat sammeln sie sich Steine und wählen sich oben in dem Felsen einen günstigen Kampfplatz aus. Rósald tötet durch Steinwürfe einen Teil der Räuber. Dann aber mangeln ihm Steine, und so stürzt er sich mit seinem Schwerte kühn hervor. Der Anführer stellt sich ihm gleich zum Zweikampfe entgegen. Da das Schwert Rósalds an ihm wirkungslos abgleitet, so wirft er es zur Seite und ringt mit ihm, bis er ihn endlich zu Falle bringt. Nun versucht er das eigene Schwert des Räubers, und mit diesem vermag er ihm dann auch den Kopf abzuschlagen. Vom Finger der Leiche zieht er noch schnell einen prächtigen Goldring, dann wendet er sich zu seinem Herrn zur Hilfe. Denn Geirald, dessen Diener im Kampfe schon gefallen waren, ist mittlerweile in die grösste Not geraten. Rósald tötet nun noch die übrigen Räuber. Nach gewonnenem Siege ist Geirald sehr stolz auf seine Heldentaten und rühmt seine Leistungen, während Rósald dem Kampfe nicht viel Wert beimisst. Nun ziehen die beiden weiter, bis sie in ein Königreich gelangen. Sie bitten hier um Aufnahme für den Winter. Der König will sie nur unter der Bedingung annehmen, dass sie im Laufe des Winters einen Beweis ihrer Tapferkeit geben. Er habe zwar schon von ihrem Heldenkampfe gegen die Räuber gehört, aber er wolle noch mehr Kraftwerke von ihnen sehen. Die beiden sind mit der Bedingung auch einverstanden. Nun sagt ihnen der König, dass draussen nordöstlich vom Schlosse ein Riese wohne, der einen zwanzig Ellen langen Eisenstab besitze und mit diesem[220] alle in einem Augenblicke erschlage, selbst wenn ihm fünfzig Ritter entgegengeschickt würden. Wie die beiden in ihrer Wohnung allein sind, schlägt Geirald vor zu fliehen, denn was könnten sie zwei gegen ein solches Ungeheuer, das sogar mit fünfzig Rittern zugleich fertig würde. Rósald meint jedoch, er würde nie fliehen, ehe er nicht seine Kraft erprobt hätte. Sie kaufen nun eine Menge Eisen, bringen dies zu einem Schmiede und lassen daraus eine grosse Keule schmieden, die an ihrem dicken Ende voll scharfer Spitzen steckt. Dann gehen sie mit ihr eines Morgens früh hinaus vor die Höhle des Riesen, ehe dieser aufgestanden ist. Wie er zur Höhle hinauskommt, schlägt ihn Rósald mit der Keule so heftig, dass die scharfen Spitzen in seine Stirn eindringen. Der Riese taumelt, und diesen Augenblick benutzt der Jüngling, um ihm den Kopf abzuhauen. Nun sagt Geirald wieder mit grossem Stolze: »Einen grossen Sieg haben wir errungen, dass wir solchen Riesen zu Boden fällten!« Rósald trägt das gewaltige Haupt bis zum Schlosstore, dann übergibt er es dem Geirald, der es ächzend und keuchend vor den König schleppt. Dieser ist sehr erfreut über diese Heldentat, denn schon lange genug hatte der Riese das Land verwüstet. Er lässt ein grosses Freudenfest veranstalten, um den Sieger würdig zu ehren. Mit einer prächtig geschmückten Schar edler Jungfrauen tritt beim Festmahle ein wunderschönes Mädchen in den Saal. Alle erheben sich bei ihrem Anblicke ehrerbietig, und auch Geirald und Rósald folgen dem Beispiele der übrigen. Sie schaut einen kurzen Augenblick prüfend auf die beiden Fremden, lächelt dann ein wenig und geht hierauf zum Könige, neben dem sie auf dem Hochsitze Platz nimmt. Geirald beschliesst sogleich, um diese Königstochter zu werben. Er bringt sein Anliegen beim Könige vor. Doch dieser sagt, dass er darüber nicht entscheiden könne. Dieses Mädchen sei nicht seine Tochter, sondern seine Enkelin. Sie sei eigentlich die Königin seines Reiches. Aber sie wolle die Regierung nicht übernehmen, trotzdem sie nach jeder Richtung dazu gut im stände wäre. Nur so viel Selbständigkeit habe sie sich vorbehalten, nie gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Der König berichtet nun der Königstochter von der Werbung des fremden Ritters. Sie[221] erklärt, nichts gegen ihn einwenden zu können, nur solle er am anderen Tage erst einmal mit ihrem Pagen im Kampfe sich messen. – Wie die Jünglinge allein sind, spricht Geirald die Befürchtung aus, dass dieser sogenannte Page gewiss ein selten tüchtiger Ritter sei. Auf seinen flehentlichen Wunsch wechselt Rósald mit ihm die Kleider und zieht am anderen Morgen für ihn in den Kampf. Er wirft den Ritter, der von zartem Wuchs zu sein scheint, aus dem Sattel und reitet dann heim. Nun geht Geirald zum Könige und verlangt die Hand der Prinzessin. Doch diese erklärt, noch nicht zufrieden zu sein. Sie selbst habe dem Zweikampfe nicht zuschauen können, sondern nur ihr Pflegevater. Nun solle Geirald und Rósald zusammen im Turniere sich messen, und sie wolle dann von der Schlossmauer das Kampfspiel verfolgen. Sie lege aber jetzt schon das feierliche Gelübde ab, dass sie nur den Mann heiraten wolle, der den Räuberhauptmann Haukur hái, den Riesen und den Pagen besiegt habe. Das Turnier zwischen den beiden bleibt unentschieden, da Rósald sich möglichst zurückhält, um seines Herrn Schwäche nicht zu verraten. Geirald fühlt sich trotzdem als Sieger und verlangt nun die Hand der Jungfrau. – Doch noch immer ist sie nicht ganz von der Tüchtigkeit ihres Bewerbers überzeugt. Er solle nun – und das sei der letzte Beweis seiner Tapferkeit – mit Rósald zusammen gegen zwei Ritter ihres Pflegevaters kämpfen. Würde er dann Sieger bleiben, so wolle sie ihn sicher heiraten. Nun kann Rósald seinem Herrn nicht mehr helfen. Am folgenden Morgen tritt Geiralds Feigheit beim Kampf spiele zu Tage, sein Betrug wird entdeckt, und mit Schimpf und Schande wird er vom Hofe gejagt. Rósald hingegen wird hoch geehrt und empfängt die Hand der Prinzessin. Diese erzählt ihm nun, dass sie gleich beim ersten Anblick den Goldring des Räuberhauptmanns an seinem Finger gesehen und daraus geschlossen habe, dass er eigentlich der Sieger sei. Am anderen Tage habe sie mit ihm als Page im Kampfe sich gemessen und habe wieder an seiner Hand den gleichen Ring entdeckt. Nun habe sie so lange sich bemüht, bis sie endlich den Betrüger entlarvt hätte. Rósald wird nun König und lässt seine Eltern und Geschwister zu sich ziehen. Nach Jahren kommt auch Geirald als armer Bettler[222] zu ihm zurück und erhält von ihm einen Bauernhof zum Geschenke.

Dieses Märchen behandelt das weit verbreitete Thema vom Rollentausch zweier Jünglinge. Der stärkere und tüchtigere wird durch irgend eine List des schwächeren (meist des Dieners) zu dem Versprechen gezwungen, alle Heldentaten für diesen auszuführen, ohne je seinen Anteil an ihnen zu verraten. Erst nachdem der Jüngling dem Wortlaut nach seines Eides entledigt ist, kann er den Betrug aufdecken und zu der ihm gebührenden Ehre gelangen. – Unser isländisches Märchen hat die ursprüngliche Idee dadurch abgeschwächt, dass Rósald schon, ehe er die Fahrt mit seinem Genossen antritt, diesem ein derartiges Versprechen gibt. Geirald ist drum auch nicht wie in den übrigen hierhin gehörigen Märchen ein böser Mensch, der sich schliesslich sogar nicht einmal scheut, seinen Genossen durch Mord aus dem Wege zu räumen, sondern er ist nur ein Feigling, der für sein Geld ein gutes Recht auf die Dienste Rósalds zu haben glaubt.

Köhler (Kl. Schr. S. 395) gibt zu diesem Märchen weitere Literaturnachweise. Zu erinnern ist hier auch an den Rollentausch Günthers und Siegfrieds, vor allem aber auch an die Göngu-Hrólfs-Saga, in der die Episode von Hrólf und Vilhjálmr im Garðarík mit den Märchen dieser Familie übereinstimmt (F.A.S.N. III S. 168 ff.).

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 219-223.
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