Straßenbahnen

[237] Straßenbahnen (tramways; chemins de fer sur routes; tramvie), dem öffentlichen Personen- oder Güterverkehr dienende, mit tierischer oder mechanischer Kraft betriebene Kleinbahnen (s.d.), die auf Schienenwegen in der Straßenoberfläche fahren. Das letztgenannte Merkmal unterscheidet sie ohneweiters von den gleislosen Bahnen, Seilbahnen, Schwebebahnen und den Hoch- und Untergrundbahnen, während ihre Begriffsabgrenzung gegen die den Verkehr von Ort zu Ort vermittelnden Bahnen oft schwierig ist; doch verlieren sie ihren Charakter als S. in der Regel weder durch Benutzung eines von dem übrigen Straßenverkehr abgeschlossenen besonderen Bahnkörpers (Rasenbettung), noch durch Ausdehnung ihres Betriebs über die geschlossenen Ortschaften hinaus. Wenn eine Kleinbahn zugleich dem Verkehr innerhalb eines Ortes und dem Verkehr von Ort zu Ort dient, so kommt es darauf an, welche Verkehrsart überwiegt. Oft wird die Bezeichnung der Bahn einen Anhalt dafür geben, ob sie als S. gelten kann. Eine scharfe Abgrenzung des Begriffs ist wichtig, weil die S. vielfach anderen Bestimmungen unterliegen als die übrigen Kleinbahnen.

S. im heutigen Sinn wurden gebaut, als mit dem Aufblühen der Städte deren Umfang und Bevölkerungszahl so anwuchs, daß das Bedürfnis schneller und billiger Beförderung innerhalb des Stadt- und Vorstadtgebiets hervortrat und gleichzeitig die Rentabilität des Betriebs gesichert schien. Die technischen Anfänge der S. wurzeln wie die der Eisenbahnen in den alten Spurbahnen, die zuerst im 16. Jahrhundert in deutschen Bergwerken benutzt wurden und bald darauf nach England kamen. Die erste eigentliche S. wurde 1852 in New York von Loubat gebaut. 1854 folgte Paris, 1860 England (Birkenhead), demnächst 1863 Dänemark und Belgien. Berlin erhielt die erste S. am 22. Juni 1865 durch Eröffnung der Pferdebahnlinie Brandenburger Tor-Straßenbahnhof Charlottenburg. Von deutschen Städten folgten 1866[237] Hamburg, 1868 Stuttgart, 1872 Dresden, Frankfurt a.M., Hannover, Leipzig, 1876 München, Karlsruhe, Metz.

1892 gab es in Preußen bereits 79 S. mit 875∙7 km Länge, am 1. April 1915 201 mit 3880∙55 km. Bayern hatte Ende 1913 15 S. mit 263∙91 km, Sachsen 23 mit 390∙75 km, Württemberg 5 mit 97∙68 km. Die Entwicklung in ganz Deutschland von 1900–1913, dem letzten Jahr mit normalen Verhältnissen, zeigt sich in folgenden Zahlen1 (die Angaben für 1900 sind eingeklammert): Anzahl der S. 292 (180), Länge 5283∙17 (2921∙35) km, Wagenzahl 26.291 (14.485), Bedienstete 75.513, gefahrene Personenwagenkm 785,237.176 (299,524.078), Güterwagenkm 2,994.419 (3,746.145!), beförderte Personen 2.954,454.369 (1.043,942.064), Güter t 1,783.089 (1,038.180), Betriebseinnahmen a) aus dem Personenverkehr 286,374.882 (107,169.595) M., b) aus dem Güterverkehr 1,582.495 (1,063.795) M., Gesamteinnahmen 295,899.302 (111,762.226) M., Betriebsausgaben 168,332.460 (60,975.537) M., Gesamtausgaben 193,678.461 (78,019.832) M., Reingewinn (soweit verteilt auf Dividenden, Tantiemen, Gratifikationen, Gewinnbeteiligungen Dritter) 27,037.576 (18,901.906) M., Anlagekapital 1.421,481.531 M., Unfälle: a) Tötungen 1. von Fahrgästen und fremden Personen 272 (198), 2. von Bahnbediensteten 21 (13), b) Verletzungen 1. von Fahrgästen und fremden Personen 1067 (633), 2. von Bahnbediensteten 129 (215). Die Kriegsjahre haben diese Entwicklung namentlich nach der Richtung hin verschoben, daß bei geringerer Bedienstetenzahl die Betriebsleistungen und damit auch die Betriebseinnahmen bei vielen Bahnen größer geworden sind, anderseits aber auch die Betriebsausgaben infolge der stark gestiegenen Löhne und Materialpreise sich erheblich vermehrt haben.

Das Jahr 1865 brachte auch Wien die erste S. Auf Grund der den Genfer Bauunternehmern C. Schalk, Jaquet & Co. am 25. Februar 1865 erteilten Konzession wurde die erste Teilstrecke der Probelinie Schottenring-Dornbach am 4. Oktober 1865 in Betrieb genommen. Weitere österreichische S. entstanden 1873 in Baden, 1875 in Prag, 1876 in Triest, 1878 in Graz, 1880 in Linz und Lemberg, 1882 in Krakau, 1891 in Klagenfurt, 1892 in Salzburg.

Die nachstehende Gegenüberstellung2 läßt die Entwicklung der österreichischen S. von 1903–1912 (die Zahlen für 1903 sind eingeklammert) erkennen: Zahl der S. 68 (46), Länge 754∙38 (496∙43) km, Wagenzahl 4722 (2995), Bedienstete 18.264 (9859), gefahrene Zugkm 89,237.773 (53,745.936), beförderte Personen 488,296.706 (233,136.921), Gütert 590.225 (330.430), Betriebseinnahmen a) aus dem Personenverkehr 74,519.040 (32,301.359) K, b) aus dem Güterverkehr 908.956 (324.594) K, Betriebsausgaben 47,061.563 (20,874.892) K, Gesamtausgaben 53,142.984 (22,779.924) K, Reingewinn 30,281.810 (12,625.489) K, Anlagekapital 329,759.235 (218,167.288) K, Unfälle: a) Tötungen 1. von Fahrgästen und fremden Personen 15, 2. von Bahnbediensteten 1, b) Verletzungen 1. von Fahrgästen und fremden Personen 453, 2. von Bahnbediensteten 42.

Ungarn3 hatte 1913 29 S. mit 408∙11 km Länge. Befördert wurden 262,865.781 Personen und 1,035.312 Gütert. Die Betriebseinnahmen betrugen 43,936.013 K, die Betriebsausgaben 29,860.803 K. Das Anlagekapital belief sich auf 195,167.414 K.

In der Schweiz waren 1913 37 S. mit 468∙6 km Länge im Betrieb. Geleistet wurden 31,435.697 Zugkm mit 149,477.338 beförderten Personen und 199.982 Gütert. Die Gesamteinnahme belief sich auf 18,372.680 Fr., die Gesamtausgabe auf 14,986.696 Fr., der Überschuß auf 3,385.984 Fr.

Einen ähnlichen Aufschwung haben die S. der übrigen Länder zu verzeichnen. Es gibt heute in der Welt wohl kaum eine größere Stadt ohne S. Von wesentlicher Bedeutung war dabei die Umwandlung des Pferdebetriebs in den elektrischen, die, um die Jahrhundertwende beginnend, sich nach und nach auf fast alle bedeutenderen S. erstreckte. Am meisten vorgeschritten ist hierin Österreich, das 1912 nur noch 1 km im Pferdebetrieb hatte, während in Preußen 1914 noch 10 S. mit 43∙97 km Pferdebetrieb vorhanden waren. In den Städten bilden die S. nahezu überall das Hauptverkehrsmittel und sind dadurch auch zu einem wichtigen volkswirtschaftlichen Faktor geworden. Die Ersparnis an Zeit und Arbeitskraft für die Bevölkerung ist außerordentlich groß. Wenn jeder Fahrgast bei jeder Fahrt nur 5 Min. Arbeitszeit[238] erspart, so ergibt sich bei Annahme einer täglichen Arbeitszeit von 10 Stunden für Deutschland ein Gewinn von jährlich rd. 25,000.000 Arbeitstagen. Nicht minder wichtig ist der Einfluß der S. auf die städtischen Wohnverhältnisse. Die schnelle und wohlfeile Beförderung erschließt neue große Wohngebiete im Umkreis der Städte und ermöglicht eine auf Schaffung gesunder und billiger Wohnungen gerichtete kommunale Siedelungspolitik. Im allgemeinen Interesse liegt daher die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der S.

Die Rentabilität der S. wird gewährleistet durch richtig abgestufte Tarife. Die S. haben Strecken-, Zonen- und sog. Einheitstarife, bei denen ohne Rücksicht auf die Länge der Fahrt nur ein Preis gezahlt wird. Daneben bestehen fast überall Vergünstigungstarife für Abonnenten, Schüler, Arbeiter u.s.w. Im Lauf der Zeit und besonders seit Einführung des elektrischen Betriebs sind die anfangs ziemlich hohen Tarife immer weiter verbilligt worden. Dies hat zwar den Verkehr belebt, aber die Rentabilität verschlechtert. Die Durchschnittseinnahme für die Beförderung des einzelnen Fahrgastes betrug 1914 bei den deutschen S. 9∙6 Pf. Die Verzinsung des Anlagekapitals belief sich in demselben Jahr in Preußen und den anderen Bundesstaaten (die für diese geltenden Zahlen sind eingeklammert) bei 10 (4) S. bis zu 1%, bei 23 (5) bis zu 2%, bei 21 (10) bis zu 3%, bei 19(10) bis zu 4%, bei 27 (7) bis zu 5%, bei 50 (12) bis zu 10%, bei 5 (2) über 10%, während 20 (18) überhaupt keine Verzinsung hatten. Von den zusammen 38 deutschen S., die keine Verzinsung erreichten, haben 30 sogar Verluste erlitten. Infolge dieser ungenügenden Rentabilität machen sich neuerdings vielfach Bestrebungen auf Wiedererhöhung der Tarife mit Erfolg geltend.

Die größte deutsche S., die Große Berliner S., ist eine Aktiengesellschaft mit 100,082.400 M. Aktienkapital und 600 km Gleislänge. Von den übrigen deutschen S. sind 136 im Besitz von Gemeinden, Gemeindeverbänden und Kreisen, 124 gehören Aktiengesellschaften, 19 Gesellschaften m.b.H., 8 sind im Staatsbesitz und 13 in sonstigen Händen. Nach der Rechtsform des betreffenden Straßenbahnunternehmens richtet sich dessen Stellung im Privatrecht, während die Stellung im öffentlichen Recht besonders geregelt ist. Fast überall gelten die S. als Kleinbahnen und unterliegen den für diese gegebenen Gesetzen und Vorschriften (s. Kleinbahnen).

In Preußen sind für die S. maßgebend ohne Rücksicht darauf, ob sie mit tierischer oder mechanischer Kraft betrieben werden, die Bestimmungen des Gesetzes über Kleinbahnen und Privatanschlußbahnen vom 28. Juli 1892 und der Ausführungsanweisung vom 13. August 1898. Im Anschluß an letztere sind für den Bau und Betrieb der S. mit Maschinenbetrieb besondere Vorschriften gegeben worden (Bau- und Betriebsvorschriften für Straßenbahnen mit Maschinenbetrieb vom 26. September 1906).

Die anderen deutschen Bundesstaaten haben die Rechtsverhältnisse der S. verschieden geregelt; teils sind wie in Preußen besondere Kleinbahngesetze erlassen, teils erfolgt die Regelung im Verwaltungsweg, in Sachsen z.B. ist jedesmal die Genehmigungsurkunde maßgebend.

In Österreich sind durch das Ges. vom 31. Dezember 1894 die S. von den Lokalbahnen abgezweigt und zusammen mit den Seilbahnen, Schwebebahnen und anderen eisenbahnähnlichen Transportmitteln als »Kleinbahnen« (der österreichische Begriff ist also enger als der preußische) besonderer Regelung unterworfen worden. Das erwähnte Gesetz trat 1904 außer Kraft, wurde später wieder erneuert und endlich durch das noch geltende Ges. vom 8. August 1910 ersetzt (s. Kleinbahnen).

Eine ähnliche gesetzliche Sonderregelung ist auch für Ungarn beabsichtigt. Von den übrigen Ländern haben nur Belgien (Ges. vom 9. Juli 1875), Italien (Ges. vom 27. Dezember 1896) und Japan (Ges. vom 25. August 1890) die S. gesetzlichen Sonderbestimmungen unterworfen, während Frankreich die ursprüngliche Trennung von den sonstigen Kleinbahnen durch das Ges. vom 31. Juli 1913 wieder beseitigt hat.

Als Rechtspersönlichkeiten und Gewerbetreibende unterliegen auch die S. der Besteuerung, insbesondere der allgemeinen Einkommen- und Gewerbesteuer. Daneben bestehen in Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Rußland Sondersteuern, die außer dem Eisenbahn-, Kleinbahn- und Schiffsverkehr auch den Straßenbahnverkehr erfassen. Das deutsche Gesetz über die Besteuerung des Personen- und Güterverkehrs vom 8. April 1917 besteuert unter Aufhebung der früheren Fahrkartensteuern jede Personenbeförderung auf der S. (außer im Arbeiter-, Schüler- und Militärpersonenverkehr) mit 6% des Beförderungspreises und außerdem jede Güterbeförderung mit 7% des Tarifs. Der Güterverkehr der S. unterliegt jedoch nach den Ausführungsbestimmungen der Besteuerung nicht, soweit es sich lediglich um die Abfuhr und Zufuhr von Gütern von und zu Bahnhöfen oder Schiffsladeplätzen oder sonst[239] um einen nicht dem allgemeinen Verkehr eröffneten Betrieb handelt und in beiden Fällen die Beförderung nur innerhalb geschlossener Ortschaften und nicht planmäßig stattfindet.

Literatur: Hilse, Handbuch der Straßenbahnkunde, München u. Leipzig 1892. – Müller, Die Entwicklung der Lokalbahnen in den verschiedenen Ländern. Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung und Verwaltung, H. 2, sowie die dort angeführte reichhaltige Literatur. – v. Lindheim, Straßenbahnen, Statistisches und Finanzielles. Wien 1888. – Schimpff, Die Straßenbahnen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin 1903; Wirtschaftliche Betrachtungen über Stadt- und Vorortbahnen. Berlin 1913. – Weil, Die Entstehung und Entwicklung unserer elektrischen Straßenbahnen. Leipzig 1899. – Frost, Elektrische Tertiärbahnen. Halle 1901; Die deutschen elektrischen Straßenbahnen, Sekundär-, Klein- und Pferdebahnen. 7. Aufl. Leipzig 1903. – Geyl, Der Umsteigeverkehr bei Straßenbahnen. Osnabrück 1906. – Roth, Die Verkehrsabwicklung auf Plätzen und Straßenkreuzungen. Halle 1913. – Ztschr. f. Kleinb., herausgegeben im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten. – Deutsche Straßen- und Kleinbahnzeitung, herausgegeben von Dr. Dietrich, Berlin. Siehe auch die bei dem Art. Kleinbahnen angeführte Literatur.

Micke.

1

Nach der amtlichen Statistik der Kleinbahnen im Deutschen Reich in der Zeitschrift für Kleinbahnen.

2

Die Zahlen entstammen dem II. Teil der amtlichen österreichischen Eisenbahnstatistik. Dieser umfaßt unter Ausschluß der sog. nebenbahnähnlichen Kleinbahnen die Kleinbahnen im engeren Sinne, d.h. nach dem Ges. vom 8. August 1910 (s.u.) außer den Seilbahnen, Schwebebahnen und anderen eisenbahnähnlichen Transportmitteln insbesondere diejenigen, die hauptsächlich den örtlichen Verkehr in einer Gemeinde oder zwischen benachbarten Gemeinden vermitteln, im großen und ganzen also die S. Die Zahlen im Text enthalten daher die Angaben der amtlichen Statistik unter Ausscheidung der auf die Seilbahnen u.s.w. bezüglichen.

3

Die amtliche Statistik umfaßt die sog. Städte- und Gemeindebahnen, die im wesentlichen nur S. sind.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 9. Berlin, Wien 1921, S. 237-240.
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