[534] Heroide. (Dichtkunst)
Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie und in Form eines Schreibens an eine Person, gegen welche man, ohne alle Zurükhaltung, ein gerührtes Herz ausschüttet. Man hat diese Dichtungsart dem Ovidius zu danken, der ohne Zweifel, wegen der bewundrungswürdigen Leichtigkeit, die er hatte, jede sanfte Empfindung durch einen Strohm verschiedener Aeußerungen zu schildern, auf den Einfall gekommen ist, den berühmtesten Personen aus den heroischen oder Heldenzeiten Schreiben anzudichten, die mit verliebten Klagen angefüllt sind. Die Penelope schreibet an ihren Ulysses, und giebt ihm ihr zärtliches Verlangen nach seiner Zurükkunft, ihre ängstliche Besorgnis wegen seines langen Ausbleibens, und was sie von ihren Freyern auszustehen hat, mit voller Rührung zu erkennen.
»Es ist kein geringes Verdienst an dem Ovidius, (sagt ein sehr scharfsinniger englischer Kunstrichter1) daß er die schöne Methode erfunden hat, unter erdichteten Charaktern Briefe zu schreiben. Es ist eine große Verbesserung der griechischen Elegie, über welche die dramatische Natur jener Schreibart einen ungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich ist die Elegie nichts, als ein affektvolles Selbstgespräch, worin das Herz der Betrübnis und den Rührungen, davon es erfüllt ist, Luft schaffet: wird dieses Gespräch aber an eine bestimmte (wir setzen hinzu, an eine aus der Geschichte bekannte und berühmte) Person gerichtet, so erhält es einen gewissen Grad der Schiklichkeit, (des Intresse), daran es auch dem, aufs beste ausgeführten Selbstgespräch in einem Trauerspiel, allezeit fehlen muß. Unsre Ungeduld bey einem drükenden Schmerz, oder bey einer Gemüthsunruh (auch bey einer von Zärtlichkeit herrührenden Freude) macht es sehr natürlich, daß man sich gegen diejenigen Personen voll Affekt beschweret, von denen man glaubt, daß sie uns solche Unruhen verursachet haben, (oder daß man seine innige Freude, mit denen, die man liebet, zu theilen sucht.) Man beweißt aber hiebey vornehmlich seine scharfsinnige Beurtheilungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem solchen Zeitpunkt eröffnet, welcher zu den zärtlichsten Empfindungen und zu den plötzlichsten und lebhaftesten Ausbrüchen der Leidenschaft Gelegenheit giebt.«
Wir haben diese etwas lange Stelle, mit Einschaltung einiger Begriffe, hier ganz hergesetzt, weil darin der eigentliche Gesichtspunkt, aus welchem man diese Dichtungsart beurtheilen muß, sehr genau bestimmt wird. Es ist eine Hauptsache, daß der Dichter Personen wähle, die uns aus der Geschichte hinlänglich bekannt sind, und für die wir uns intressiren, und daß er sie in ganz intressante Umstände setze. Durch das erstere gewinnt er den Vortheil, daß er die wichtigsten Umstände über ihre Personen und ihre Geschichte blos anzeigen, und schon durch kleine Winke die Vorstellungen auf die Dinge lenken kann, die man nothwendig wissen muß, um alles recht zu fühlen; und durch das andere gewinnt er zum voraus unsre ganze Aufmerksamkeit. Es ist unstreitig eine der vergnügtesten und anmuthsvollesten Gemüthsbeschäftigungen, sich bekannte und intressante Personen in Umständen vorzustellen, die das Innerste ihres Herzens durch mancherley Vorstellungen aufrühren. Und welche Gelegenheit uns Empfindung zu lehren, [534] und die Bewegungen unsers eigenen Herzens zu lenken und zu berichtigen, könnte besser seyn, als die diese Dichtungsart anbiethet? Sie ist nicht nur einer ungemein viel größern Mannigfaltigkeit, sondern auch einer sehr viel vollkommneren Bearbeitung fähig, als der Erfinder darin angebracht hat. Die Heroiden des Ovidius sind blos verliebt, und zu sehr in einerley Ton und Charakter, und er hat, nach seiner gewöhnlichen Art, auch da zu viel gespielt. Unter den Neuern haben die Engländer diese Dichtungsart wieder aufgebracht, und Pope hat in seiner Heroide, Heloise an Abelard, ein so vollkommenes und so reizendes Muster dieser Gattung gegeben, daß es einen allgemeinen Geschmak an solchen Gedichten hätte hervorbringen sollen.
Seit kurzem haben sich einige französische Dichter so sehr in diese Dichtungsart verliebet, daß man bereits eine große Menge französischer Heroiden sieht, und leicht vorzusehen ist, daß in kurzem ein Mißbrauch davon werde gemacht werden. Die Deutschen scheinet diese Gattung weniger gerührt zu haben; wir haben nur einige schwüllstige Versuche hierin. Doch kann man einigermaaßen Wielands Briefe der Verstorbenen hieher rechnen. Also ist hier noch Ruhm zu erwerben.