Wunderbar

[1279] Wunderbar. (Dichtkunst)

Ist eigentlich nach dem gemeinen Sprachgebrauch alles, was Bewundrung erwekt, oder verdienet. Doch scheinet das Wunderbare, das insgemein für den höchsten poetischen Stoff gehalten wird, und was man in der hohen Epopöe anzutreffen gewohnt ist, von einer besondern und vorzüglichen Art zu seyn. Wir bewundern alles, was unsre Erwartung und unsre Begriffe, oder das gemeine Maaß, nach welchem wir die Dinge schäzen, oder für die Aufmerksamkeit abwägen, merklich übertrift. Jedes ungewöhnliche Talent; jede Tugend und jedes Laster, dessen Größe weit über die gemeinen Schranken geht kurz jedes Außerordentliche in der körperlichen oder sittlichen Welt, erwekt Bewundrung; aber deswegen wird nicht jedes Außerordentliche zu dem Wunderbaren gerechnet, wovon hier die Red ist.

Einige Kunstrichter scheinen dieses Wunderbare blos in dem Uebernatürlichen zu sezen, das durch würkliche Wunderwerke der Allmacht geschieht. Aber dadurch schränken sie diesen Begriff zu eng ein. Auch natürliche Dinge, können so außerordentlich und so sehr über unsre Erwartungen seyn, daß man sie zum Wunderbaren rechnet. Miltons Himmel und Hölle, und die unermeßlichen ätherischen Weltgegenden, die Klopstoks reiche Phantasie erschaffen hat, scheinen zu dem ächten Wunderbaren zu gehören.

Wir würden außer diesem auch noch das zum Wunderbaren rechnen, was uns Gegenstände schildert, die zu der würklichen Welt, oder Natur gehören, oder zu gehören scheinen, aber so völlig unerwartet und ausserordentlich sind, daß sie uns die Natur in einer zwar nicht wiedersprechenden, aber völlig neuen, außerordentlichen und höheren Gestalt zeigen, und dadurch die Bewundrung hervorbringen, von der wir in einem eigenen Artikel gesprochen haben. Was zwar die Begriffe, die wir von der Welt und dem Lauf der Natur haben, nicht geradezu aufhebet, aber sie sehr weit übertrifft. Denn so außerordentlich und ungewöhnlich auch die Dinge sind, die man uns erzählt, oder beschreibt, so sezen sie uns nicht in Bewundrung, wann wir gar keine Wahrheit, oder natürliche Möglichkeit darin entdeken. Die Aufschneidereyen, dergleichen in Lucians wahrhafter Geschichte vorkommen, und die unsern Begriffen ganz wiedersprechenden Erdichtungen in Holbergs unterirrdischen Reisen, werden schweerlich von jemand zu dem Wunderbaren gezählt werden, wodurch der epische Dichter seinen Stoff erhöhen könnte. Wir bemerken gleich, daß sie völlig willkührlich, und gar nicht im Ernste gemeint sind. Es kostet der Einbildungskraft nichts, dergleichen Außerordentliche Dinge zu erfinden, die gar keine Beziehung, oder Verbindung mit der würklichen Welt haben. Aber höchst außerordentliche Nachrichten, oder Dichtungen, die noch Realität, oder Wahrheit zum Grund haben, die sich mit der würklichen Natur vortragen, aber unsre Erwartungen sehr weit übertreffen, die bey allem Außerordentlichen, das sie haben, möglich und einigermaaßen wahrscheinlich sind, sezen uns in Bewundrung. Wunderbar wäre für Unwissende, eine wahrhafte Beschreibung der unermeßlichen Größe und höchst ordentlichen Einrichtung des Weltgebäudes, die den großen Begriffen gemäß wäre, die die Astronomen davon haben. Wunderbar, wiewol aus natürlichen und vorhandenen Ursachen begreiflich, ist die Sündfluth, wie sie in der Noachide beschrieben ist. Wunderbar wär auch für die Einwohner eines ebenen und anmuthigen Landes, die wahrhafteste Schilderung der Länder, die aus aufgethürmten Alpen bestehen.

Eben darum, weil das ächte Wunderbare, so außerordentlich es ist, sich noch mit unsern Begriffen vertragen, und noch Wahrscheinlichkeit behalten muß, ist es schweer zu erweichen, obgleich jede wilde Phantasie an außerordentlichen Vorstellungen reich ist. Die Einbildungskraft allein ist zur Erfindung des Wunderbaren nicht hinreichend, sie muß von Kenntnis der würklichen, körperlichen und sittlichen Welt, und von guter Urtheilskraft unterstüzt werden, sonst werden ihre außerordentlichen Vorstellungen schimärisch, ausschweiffend und abgeschmakt. Wie ausgebreiteter die Kenntnis ist, die der Dichter von der würklichen Natur hat, so viel leichter wird ihm, wenn es ihm sonst nicht an Erfindung [1279] und Dichtungskraft fehlet, die Schöpfung des Wunderbaren. Wenn er schon mehr, als die, für die er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als sie in die körperliche und geistliche Welt hineinschaut, so giebt ihm dieses Gelegenheit, seine Vorstellungen noch mehr zu erhöhen, und sie bis ins Wunderbare zu treiben. Hätte Klopstok so wenig von der unermeßlichen Größe des Weltgebäudes gewußt, als Homer, und hätte er von der Gottheit so eingeschränkte Begriffe gehabt, wie der griechische Barde, so würde ein großer Theil des Wunderbaren in seinem Meßias weggeblieben seyn. Der Dichter, dessen Kenntnisse schon weiter reichen, als die allgemeinen Kenntnisse seiner Zeit, der eben dadurch Gelegenheit gehabt hat, die höhere Wollust des Geistes, die Bewundrung zu fühlen, wird dadurch angereizt, und auch in Stand gesezt, andre durch das Wunderbare zu rühren.

Wir finden deswegen das Wunderbare weit seltener in Oßians Gedichten, als in den andern uns bekannten Epopöen; denn der Barde lebte unter einem durchaus unwissenden Volke, und seine Kenntnisse erstrekten sich eben nicht merklich weiter, als die allgemeinen Kenntnisse seiner Zeit giengen. Er fand in dem, was er mehr wissen mochte, als das Volk unter dem er lebte, wenig Veranlassung, seine Vorstellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber Homer scheinet ungleich mehr Kenntnisse der körperlichen und sittlichen Welt gehabt zu haben, als die, für die er seine Gesänge dichtete. Er scheinet viel fremde, in seinem Lande noch verborgene Kenntnisse gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf, sie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, deren Erfindung ihm seine Kenntnis erleichterte, seine Zuhörer in Bewundrung zu sezen. Es erhellet hieraus, daß die blos körperliche Natur eben sowol, als die unsichtbare Geisterwelt, auf Erfindung des Wunderbaren führet. Denn jede unerwartete und sehr erhöhte Kenntnis, des Möglichen oder Würklichen aus beyden Welten, sezt uns in Bewundrung.

Das Wunderbare ist eine der vorzüglichsten ästhetischen Eigenschaften. Es hat einen großen Reiz für die Gemüther der Menschen, die es mit ungemeiner Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merklicher Grad der Wahrscheinlichkeit dazu, so sind sie sehr geneigt, das Erdichtete für Wahr zu halten. Darum ist es ein sehr kräftiges Mittel sowol auf die Vorstellungskraft, als auf die Empfindung zu würken. Der Hang zum Außerordentlichen ist so stark bey dem Menschen, daß er es nicht nur mit dem größten Wolgefallen anhöret, sondern in der Trunkenheit der Bewundrung sich auch willig dahin leiten läßt, wohin man ihn führen will.

Wenn aber das Wunderbare seine Würkung thun soll, so muß es, wie wir schon angemerkt haben, glaubwürdig und auch begreiflich seyn, damit man es nicht so gleich verwerfe. Deswegen muß der Dichter dabey genaue Rüksicht auf die Kenntnisse der Personen, für die er dichtet nehmen. Kindern, und einem Volke, dessen Zustand in Absicht auf Kenntnisse mit der Kindheit übereinkommt, kann die äsopische Fabel gar wol durch das Wunderbare der vernünftig denkenden und redenden Thiere gefallen: uns sind diese Thiere nichts Wunderbares; wir wissen es, daß es der Dichter in diesem Stück nicht im Ernste meinet. So ist beym Homer manches, daß zu seiner Zeit ein ächtes Wunderbares war, für uns nichts, wenn wir uns nicht in seine Zeit versetzen. Man kann gegenwärtig das Wunderbare das aus der alten Götterlehre geschöpft wird, so wenig mehr brauchen, als das, was sich auf das System der Gnomen und Sylphen gründet. Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwissenden Völkern ist sie noch, da wahres und ächtes Wunderbares daraus konnte genommen werden.

Hingegen würde manches Wunderbare, in dem Messias, das uns in angenehmes Erstaunen sezt, bey einem ganz unwissenden Volke seiner völligen Unbegreiflichkeit halber nicht die geringste Würkung thun. Unsre Begriffe und Kenntnisse von dem herrlichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der Astronomen zu danken haben, und die schon an sich Wunderbar sind, erleichtern das Begreifen der erstaunlichen Vorstellungen des Dichters, die bey keinem ganz unwissenden Volk Eindruk machen könnten.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1279-1280.
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