Casuistik

[390] Casuistik ist nach seiner Grundbedeutung die Lehre und Anweisung, wie man sich in einem gegebenen Falle zu benehmen hat. Bei den Juristen ist Casuistik die Anwendung der Gesetzesstellen auf die einzelnen vorkommenden Fälle, in der Theologie aber hat jenes Wort nicht mit Unrecht eine sehr üble Bedeutung erhalten. Man nimmt nämlich an, daß Fälle eintreten können, wo zwei Gebote christlicher Pflicht, die einander entgegenlaufen, den Menschen ungewiß machen, welchem Sittengesetz er grade jetzt den Vorzug zu geben habe, und die ehemalige Theologie überließ der Casuistik die Lösung solcher Gewissensfälle. Anweisungen, wie man unter solchen Umständen sich zu verhalten habe, sind im Alterthume schon von den Pharisäern ihren Schülern gegeben worden, und in neuern Zeiten haben die Jesuiten als vorzügliche Casuistiker sich hervorgethan. Unter ihnen sind besonders die Spanier Escobar und Sanchez, der Portugiese Sa und der Deutsche Busembaum merkwürdig durch ihre Gabe der Auffindung solcher Fälle und berüchtigt durch die Gleisnerei der Auswege, die sie dem schwankenden Gewissen darbieten, da eine solche Casuistik sich meist nur bestrebte, auf eine möglichst kluge Art schwere und Opfer fodernde Pflichten zu umgehen. Weil aber den Christen die Frage nach Dem, was recht und Gott wohlgefällig sei, allezeit der Frage nach Dem vorausgeht, was blos menschlich klug ist, so wird ein das Gute wahrhaft wollendes und vom echten Geist der christlichen Lehre beseeltes Gemüth nur selten in die Verlegenheit kommen, über die Wahl Dessen, was Gottes Gebot sei, in Zweifel zu gerathen.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 390.
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