[757] Casuistik (v. lat.), die Anweisung, möglichst genau zu bestimmen, welche Handlungsweise in zweifelhaften Fällen die zulässigste u. pflichimäßigste sei. Dies bestimmt: a) die philosophische C. nach den Moralgesetzen der Vernunft, indem sie unter streitenden Pflichten (Collisionsfälle) für die höchste u. unerläßlichste entscheidet; b) die theologische (christliche) C. nach der Sittenlehre Jesu, als göttlichem Gesetze, mit gleicher Entscheidung; c) die juristische C., welche mit der praktischen Rechtsgelahrtheit zusammenfällt, nach den im Staate gültigen Rechtsgesetzen, indem sie die, nach der verschiedenen Beschaffenheit der Umstände modificirte Anwendung derselben ausmittelt. Die C. wurde bes. zur Zeit der Scholastiker gepflegt, wo man die Moral auf scholastische Weise behandelte. Hierbei wurden die sonderbarsten Fragen aufgeworfen, z.B., ob sich ein Geistlicher duelliren dürfe, wenn ihn der Richter dazu verurtheile, ob man eine Ehe durch Briefe schließen könne etc. Die einzelnen Fälle, mit denen sich die C. beschäftigt, wurden entweder sehr scharfsinnig ausgedacht, od. aus dem wirklichen Leben genommen, u. die C. wußte in manchen schwierigen Verwickelungen guten Rath zu ertheilen, obschon sich auch politische Rücksichten u. Bestechungen einmischten u. die Gewissen verwirrten. Im 16. Jahrh. fand die C. bei den Jesuiten einige Anhänger, u. Männer wie Escobar, Sanchez u. A. stellten eine Menge schwieriger u. verwickelter Fälle auf u. ertheilten Rathschläge, die oft äußerst seltsam u. in keiner Weise mit dem Sittengesetz zu vereinigen waren. In neuerer Zeit sieht man unter den Protestanten die C. nicht als eine selbständige Wissenschaft, sondern als einen Theil der philosophischen u. theologischen Moral an, u. damit sind auch die Casuistischen Anweisungen in Wegfall gekommen. Die christliche Moral redet davon bei der Lehre von der Collision der Pflichten u. stellt hierbei die Forderung, bei nur scheinbaren Collisionen der Stimme der Pflicht zu folgen u. bei wirklichen Collisionen an der höhern Verbindlichkeit festzuhalten. Dagegen sind bei den Katholiken Casuistische Anweisungen deshalb nothwendig, weil die Bußpraxis im Beichtstuhl einzelne Handlungen u. Gewissensfälle (Casus conscientiae) berücksichtigt.[757]