Einbildungskraft

[637] Einbildungskraft, das Seelenvermögen, Vorstellungen von Gegenständen in unserm Geiste zu erzeugen, innerlich anzuschauen und zu empfinden. Die Einbildungskraft ist eine wiederholende, wenn sie früher äußerlich wahrgenommene Dinge, z.B. ein Gemälde, einen Freund, uns so lebhaft vergegenwärtigt, daß wir sie gleichsam von Neuem mit den Sinnen wahrnehmen, und insofern fällt sie zum Theil mit dem Gedächtniß (s.d.) zusammen; oder sie ist eine schaffende, durch welche früher aufgenommene Vorstellungen verknüpft, umgestaltet oder auch neue hervorgebracht werden, die vielleicht in der Wirklichkeit nicht vorhanden sind und vorhanden sein werden, wie z.B. wenn Jemand ein Märchen entwirft, und dann ist sie oft ein und dasselbe mit dem Dichtungsvermögen (s. Dichten) und der Phantasie. Die Ausbildung dieses geistigen Vermögens ist von hohem Werthe, denn ohne dasselbe würden wir nur trockene Namen und Zahlen mit dem Gedächtniß aufbewahren können; die Einbildungskraft aber setzt uns in den Stand, Gegenstände des Wissens, die einmal bei uns zu wahrer Anschauung gekommen sind. sogleich wieder in ihrer ganzen Gestalt und Beschaffenheit vor unser inneres Auge zu stellen. Die schaffende Einbildungskraft ist insofern von der wiederholenden abhängig und erhält durch sie ihre Ausbildung, indem z.B. ein Maler nie eine schöne menschliche Gestalt sich würde denken können, wenn er Zeit seines Lebens nur Thiere um sich gesehen hätte. Sie macht uns zu höhern, geistigen Genüssen fähig und kann uns weit über die engen Schranken der Erde in bessere Gefilde, aus dem Unbehagen des Misgeschicks in fröhliche Stimmung versetzen; sie ist es, die unsere Vorstellungen von Glück und Unglück erzeugt, sowie Furcht und Hoffnung in ihr ihren Grund haben. Darum darf sie aber auch nie der Herrschaft der Vernunft sich entziehen, denn sie wird dann leicht die Quelle bitterer Leiden, indem sie uns die vielleicht drohende Zukunft mit zu schrecklichen Farben malt oder indem sie Anderer Glück und das eigne Unglück vergrößert; auch sind Schwärmerei, Fanatismus und Mysticismus traurige Früchte zügelloser Einbildungskraft.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 637.
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