Stand

[274] Stand nennt man die Gesammtheit der durch Sitte und Gesetze anerkannten ehrenden Vorrechte und entsprechenden Zurücksetzungen, mit welchen eine Classe von Einzelnen im Staats- und Volksleben behaftet ist, je nach den äußerlichen Verhältnissen ihrer Existenz. Der Stand ist entweder erworben, wie der Gelehrtenstand, oder angeboren, wie der [274] Adel. Stände bilden sich unter allen Staatsverfassungen aus, aber auf sehr verschiedene Weise. Den Grund zur Ständeverschiedenheit gibt theils die Verschiedenheit der Lebensbeschäftigung, theils das feindliche Zusammentreffen verschiedener Völker. Der Ackerbauer, welcher an Grund und Boden gebunden ist, sondert sich von dem Hirten, welcher mit seinen Heerden noch herumzieht, und ebenso sondern sich die Jäger, die Kaufleute, die Gewerbetreibenden, und endlich die Krieger, welche ursprünglich auf Beute Jagd machen, und die Priester, welche ursprünglich eine geistige Überlegenheit als Mittel zur Herrschaft benutzen, ab; andererseits setzt sich ein Volk in Besitz des Grundeigenthums eines schwächern und überläßt diesem die Sorge für die Ländereien, während es den Ertrag derselben für sich fodert, oder es zwingt die Kriegsgefangenen zur Verrichtung der ihm lästigen Arbeiten im eignen Lande. In den despotischen Staaten Asiens erscheinen daher die Stände zunächst nach der Lebensbeschäftigung geschieden, und daneben gibt es in mehren eine Menschenclasse, welche jedes Anspruchs an Achtung beraubt ist und die sich auch durch die äußere Erscheinung als ein dem herrschenden fremdes, wahrscheinlich einst unterjochtes Volk erkennen läßt. In diesen Staaten schließen sich die Stände so streng gegeneinander ab, daß sie zu Kasten (s.d.) werden. In den europ. republikanischen Staaten verschwinden die Spuren ehemaliger kastenartiger Ständeverschiedenheit nach der Lebensbeschäftigung, und es tritt dagegen eine scharfe Scheidung der Freien und Sklaven ein, von denen jene die Herren dieser und die alleinigen Bürger des Staats sind. Indessen macht sich doch auch unter den Freien selbst eine Standesverschiedenheit geltend, nachdem die aus früherer Zeit herübergekommene überwunden ist, welche sich auf die Macht des Besitzes gründet, der sich in einzelnen Familien anhäuft. Die Reichen gelangen zum Ansehen über die Armen, und suchen dasselbe zu benutzen, um sich in den Besitz der Alleinherrschaft zu setzen. Im monarchischen Staate endlich begründet die Stellung gegen den Monarchen, der Antheil an den Regierungsgeschäften eine Standesverschiedenheit. In der christlichen Monarchie muß die Sklaverei aufhören, je mehr das christliche Bewußtsein von der Gleichheit aller Menschen vor Gott zur Macht kommt. Die Würde der Persönlichkeit gelangt zur allgemeinen Anerkennung. Die Freien unter sich aber sondern sich, je nach dem Grade, in welchem sie nicht nur über ihre eigne Person zu schalten haben, sondern auch ihren Einfluß auf Andere geltend machen. So zeichnete sich zunächst der Herrenstand aus, zu welchem alle Diejenigen gehörten, welche Dienstmannen hatten, die ihnen bei Gelegenheit von Fehden Hülfe leisten mußten. Da die Besitzungen dieser Herren bald in den Familien derselben mit allen an ihnen haftenden Rechten erblich wurden, so entstand hieraus der Stand des hohen Adels, welcher sich noch schärfer abschied, seit das Vorurtheil aufkam, daß die Kinder nur dann alle Standesrechte des Vaters erbten, wenn ihre Mutter dem Vater ebenbürtig gewesen war. Die Vermählung mit einer Frau aus einem niedern Stande galt für eine Misheirath. Der Ritterstand, d.h. die Gesammtheit aller derjenigen freien Männer, deren Meisterschaft in Handhabung der Waffen anerkannt war, war beiweitem nicht so abgeschlossen, denn es konnte eben jeder freie Mann zur Ritterwürde gelangen. Zu demselben gehörten die Dienstmannen des Herrenstandes. Da jedoch bald viele Dienstmannen zu hohem Ansehen durch Grundbesitz und Reichthum gelangten, da mit der Zeit in Folge der Ausbildung der Monarchie das Dienstverhältniß sich vollkommen umgestaltete, so bildete sich, namentlich in Frankreich und Deutschland, ein niederer Adel, welcher sich nach außen immer mehr abschloß und sich endlich dadurch, daß die Gelehrten von den Domcapiteln ausgeschlossen wurden, über den Gelehrtenstand erhob, unter welchem er früher gestanden hatte. Der Gelehrtenstand, ursprünglich ganz mit dem geistlichen Stande zusammenfallend, sonderte sich am frühesten ab, aber natürlich ohne je erblich werden zu können. Der Adel wurde mit seinen Ansprüchen auf Bevorzugung besonders dadurch gehoben, daß in den meisten Staates die höhern Staatsämter und wol auch sämmtliche Offizierstellen nur mit Mitgliedern desselben besetzt wurden. Die Bildung der neuern Zeit, die Staatsumwälzungen, welche sich ereignet, haben die Standesunterschiede bedeutend aufgelockert und namentlich einer Masse lächerlicher und drückender Vorurtheile ein Ende gemacht; aber noch ist es nicht so weit gekommen, daß sich ein zeitgemäßes Verhältniß der Stände untereinander gestaltet hätte, und es ist jedenfalls ein Übelstand, daß die Ansprüche der höhern Stände von den niedern nicht mehr anerkannt werden, ohne daß eine mit dem allgemeinen Bewußtsein übereinstimmende Classificirung bis jetzt möglich gewesen wäre, weil sich eben ein solches allgemeines Bewußtsein noch nicht bestimmt herausgestellt hat.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 274-275.
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