Lyrik

[792] Lyrik nennt man diejenige Dichtungsart, in welcher das bei irgend einer Wahrnehmung unmittelbar erregte Gefühl in würdiger, doch diesem Gefühl natürlich angemessener Sprache dargestellt wird. Insofern als sie eben nur die unmittelbare Empfindung gibt, ist sie diejenige Dichtart, welche am meisten Verwandtschaft mit der Musik (s.d.) hat. Da das lyrische Gedicht, von der Stimmung eines Einzelnen, des Dichtenden, ausgeht und meist keinen bestimmten, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand in die Vorstellung bringt, so nennt man die lyrische Poesie auch, im Gegensatz zu den Dichtungsarten, welche Letzteres zu ihrer Bestimmung haben und daher objective heißen, die subjective. Da das Gefühl von der höchsten Luft bis zum tiefsten Schmerze herab eine unendliche Stufenreihe enthält, so ist auch die Mannichfaltigkeit des dichterischen Ausdrucks dafür natürlich sehr groß. Aus der Verwandtschaft der lyrischen Poesie mit der Tonkunst folgt schon, daß sie sich sehr zu deren Begleiterin eignet, daher sie auch schon sehr früh in Begleitung der Lyra oder Leier (s.d.), wovon sie auch den Namen erhielt, auftrat. Da das unmittelbare Gefühl, namentlich bei erregter Leidenschaft, sich sehr stark äußert, so wird sich der lyrische Dichter auch großer, ungewöhnlicher Vorstellungen und Bilder bedienen müssen, um jenes mit gehöriger Wirkung ausdrücken zu können. Die Thätigkeit der Seele, die hierzu erfoderlich ist, die Phantasie, wird, zu ungewöhnlichem Grade gesteigert, zur Begeisterung (s.d.), welche man, wenn sie sich im lyrischen Gedicht in außerordentlicher Stärke kund gibt, den lyrischen Schwung nennt. Die einzeln dargestellten Abstufungen des Gefühls geben die verschiedenen Gattungen der Lyrik, als da sind: Dithyrambus, Hymne, Ode, Lied, Elegie, Heroide, die lyrische Epistel und das lyrisch-didaktische Gedicht. Was die lyrischen Versmaße anbetrifft, so werden sie, da sie dem Inhalte anpassend sein müssen, so mannichfaltig sein, als dieser selbst. Obgleich bei den Alten, weil sie den Reim nicht kannten, die größte Freiheit in der Versbildung herrschte, so kam doch bei ihnen auch dadurch ein leicht faßliches Gesetz, eine regelmäßige Abtheilung in ihre lyrischen Gedichte, daß sie wegen der musikalischen Begleitung, also um der Wiederkehr der musikalischen Weise willen, auch in der äußern Form, nachdem ein Gedanke geschlossen war, absetzten und jene wieder von vorn angehen ließen. Weil man sich hierbei gleichsam zu einem neuen Ansatz herumwendete, so wurde ein solcher nach Gedanke und Form in sich abgerundeter Satz Strophe (Wendung) genannt, welcher Ausdruck der eigentlich richtige ist für die gewöhnlich gebrauchte Bezeichnung Vers, worunter eigentlich nur Eine Zeile eines metrisch abgefaßten Gedichts zu verstehen ist.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 792.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: