Veitstanz

[562] Veitstanz wird ein Nervenleiden genannt, das sich meist durch Zuckungen, besonders der Gliedmaßen, und in Folge der Vervielfältigung dieser durch allerhand seltsame, zuweilen dem Tanzen und Springen ähnliche Bewegungen äußert und fast ausschließlich Knaben und Mädchen von 8–14 Jahren befällt. In der Regel bildet sich die Krankheit nach und nach aus. Wochen, ja Monate lang klagen die Kinder über Schwere und Wüstigkeit des Kopfs, Schwindel, Herzklopfen, Gefühl von Kriebeln in den Gliedern, Minderung der Eßlust u.s.w. und legen eine bald heitere, bald traurige Gemüthsstimmung oder zuweilen ein den Anschein von Muthwillen habendes Betragen an den Tag, ehe es zu den wirklichen Anfällen kommt. Treten nun diese ein, so gerathen zuerst einzelne, dann mehre Körpertheile, wie z.B. zuerst das eine, dann das andere Bein, zuletzt beide Beine und Arme zugleich, in eine zitternde Bewegung, mag sich der Wille auch noch so entschieden dagegen sträuben, die Kinder machen die seltsamsten, oft lächerlichen Geberden, hüpfen Tanzenden ähnlich, laufen schnell von einer Stelle zur andern, drehen sich im Kreise, klettern mit bewunderungswürdiger Behendigkeit und Sicherheit auf im Zimmer befindliche hohe Gegenstände. Zuweilen beschränken sich die krampfhaften Bewegungen der Gliedmaßen darauf, daß die Kranken dieselben nur in einer bestimmten Richtung zu bewegen vermögen, sodaß sie z.B. die Arme stets im Kreise, vor- oder rückwärts, auf und nieder bewegen, um mit denselben zum Munde zu gelangen, einen Bogen beschreiben u.s.w. Abgesehen von den Muskeln der Gliedmaßen gerathen auch die des Gesichts, des Nackens, der Zunge und andere in zuckende, krampfhafte Bewegung. Nur selten erinnern sich die Kranken Dessen nicht, was sie während des Anfalls vorgenommen haben. In der Regel dauern dergleichen Anfälle eine Viertel-, halbe bis ganze Stunde oder auch länger, worauf die unwillkürlichen Bewegungen allmälig aufhören und die Kranken, welche sich matt und schläfrig fühlen, in Schlaf und Schweiß verfallen, und wiederholen sich zu bestimmten oder unbestimmten Zeiten, seltener oder öfter, gewöhnlich indeß nur am Tage, bei hohen Graden der Krankheit aber auch des Nachts, bald ohne, bald auf besondere Veranlassungen, so namentlich nach Gemüthsbewegungen, Diätfehlern u.s.w. Die Krankheit sucht vorzugsweise Knaben und noch mehr Mädchen heim, welche zart gebaut, verweichlicht, nervenschwach und von reizbarer Gemüthsart oder zu früh mannbar geworden sind, vor der Zeit die Regungen des Geschlechtstriebs kennen gelernt haben oder von nervenkranken Ältern abstammen, entsteht gewöhnlich zur Zeit der sich entwickelnden Geschlechtsreife, nach Einwirkung heftig erschütternder Gemüthsbewegungen, wie ganz besonders nach großem Schrecken und [562] heftigem Zorne, in Folge von Selbstbefleckung, nach Erkältungen, unvorsichtiger Vertreibung von Hautausschlägen, bei dem Vorhandensein von Würmern u.s.w. und wird zwar an sich nicht leicht tödtlich, ist aber meist langwierig, sodaß sie Monate, ja selbst Jahre lang dauert, und geht dann nicht selten in noch schwerere Nervenkrankheiten, in Epilepsie, Wahnsinn, Blödsinn, Schlagfluß und Lähmungen über.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 562-563.
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