Wassercuren

[662] Wassercuren heißt man gegenwärtig eine methodische Anwendung des kalten Wassers zur Heilung von Krankheiten, welcher hauptsächlich ein Bauer, Namens Priesnitz, zu Gräfenberg in östreich. Schlesien Eingang und wachsende Benutzung verschafft hat. Ist auch kaltes Wasser schon im höchsten Alterthume dann und wann zu Heilzwecken benutzt worden, so geschah es doch nie so allgemein und auf so mannichfaltige Art, wie in neuester Zeit und eigentlich erst seit einigen Jahren. In Schlesien hatten bereits im vorigen Jahrh. die glücklichen Curen, welche zwei schweidnitzer Ärzte, die Doctoren Hahn, Vater und Sohn, durch kaltes Wasser vollbrachten, allgemeinere Aufmerksamkeit vor, übergehend erregt, seit diese aber neuerdings in beiweitem höherm Grade durch die oft wunderbaren Wassercuren des obengenannten Landmanns in Anspruch genommen wurde, haben Ärzte und Nichtärzte, letztere besonders, in einer Menge Schriften das kalte Wasser als untrügliches Heilmittel für alle nur mögliche Übel anpreisen wollen, was aber der Anwendung des kalten Wassers eher schadet. Die jetzt in verschiedenen Gegenden Deutschlands eingerichteten Kaltwasserheilanstalten sind alle mehr oder weniger nach dem Muster der zu Gräfenberg bestehenden angelegt worden und haben das Verfahren von Priesnitz in der Anwendung des kalten Wassers angenommen. Dieser begnügte sich anfänglich bei den mannichfaltigsten Übeln im Wesentlichen mit öfter wiederholten, allgemeinen und örtlichen Waschungen und Bädern, die je nach dem besondern Sitze des Leidens vorgeschrieben wurden, bildete aber nach und nach sein Verfahren namentlich zu den verschiedenen Bädern für die einzelnen Körpertheile aus. Gegenwärtig werden die Kranken des Morgens bei guter Zeit von einem Wärter entkleidet, in eine dicke wollene Decke eingehüllt, daß nur das Gesicht frei bleibt, dann aber noch, um sie möglichst schnell und sicher in Schweiß zu bringen, mit Betten, Mänteln u.s.w. bedeckt. Entladet sich nun die also künstlich erzeugte Hitze in einem allgemeinen Ausbruche von Schweiß, was gewöhnlich nach zwei Stunden geschieht, so wird derselbe durch nunmehr beginnendes reichliches Wassertrinken unter bestängem Verharren in den dichtumschließenden wollenen Decken je nach der eignen Willkür des Kranken oder der Bequemlichkeit des Wärters eine halbe oder mehre Stunden unterhalten. Dann begibt sich der von Schweiß triefende Kranke in den ihn umhüllenden Decken zu einer in der Nähe bereitstehenden Badewanne mit kaltem Wasser, wirst die Decke ab, stürzt sich ohne Weiteres in das Wasser, verweilt aber nur wenige Augenblicke darin, trocknet sich möglichst schnell und kräftig ab, kleidet sich hierauf ohne Verzug an und macht sich nun tüchtige Bewegung in freier Luft. Während er sich ergeht, trinkt er von Neuem kaltes Wasser nach Belieben, und hat er sich durch Bewegung im Freien erwärmt, so genießt er ein aus Butterbrot und Milch bestehendes Frühstück, nach dem er sich einige Zeit der Ruhe überläßt. Indeß dauert diese nicht lange, denn noch vor dem Mittagsessen nimmt der Kranke entweder ein kaltes Sitzbad oder läßt sich im Walde douchen, was jedoch nur Die zu thun pflegen, die schon seit einiger Zeit die Wassercur gebrauchen. Das Mittagsessen besteht in einfacher Hausmannskost; frisches Wasser wird dazu reichlicher getrunken, als man nach der gewöhnlichen Ansicht für zuträglich hält. Des Nachmittags gehen Einige wieder spazieren, Andere lassen sich abermals mit Wasser behandeln. Ist die Krankheit, für welche Abhülfe gesucht wird, ein örtliches Übel oder ein solches mit dem Allgemeinleiden verbunden, so wird außerdem der leidende Theil noch beständig von in Wasser getauchten Leinwandlappen umgeben erhalten, über denen sich noch ein trockenes Tuch befindet, das, so wie es ganz trocken geworden, sofort durch ein neues ersetzt wird. Die Gräfenberger und ähnliche Wassercuren bestehen sonach wesentlich aus einer in kurzen Zwischenräumen sich wiederholenden, bald mehr bald weniger örtlichen oder allgemeinen Einwirkung des kalten Wassers auf den Körper und Beobachtung[662] einer Lebensweise (viel Bewegung in freier Luft bei einfacher Kost), welche erfahrungsgemäß der Erhaltung der Gesundheit förderlich, die heilkräftigen Wirkungen des kalten Wassers wesentlich unterstützen und deshalb als ein wichtiger Bestandtheil des ganzen Heilverfahrens betrachtet werden muß. Der Erfolg der Wassercuren in vielen, selbst verzweifelten Krankheitsfällen, läßt sich nicht ableugnen, und als Erklärung mögen folgende Bemerkungen dienen. Das kalte Wasser wirkt ohne Widerrede zunächst durch seinen Temperaturunterschied auf den wärmern menschlichen Körper (wie schon daraus hervorgeht, daß die Wirkungen ganz andere sind, wenn man Wasser von einem höhern Temperaturgrade zu gleichem Zwecke in Gebrauch zieht) und zwar strebt dasselbe dem allgemeinen Naturgesetze gemäß, daß jeder Körper Wärmestoff verliert, mit dem ein Gegenstand von niedrigerer Temperatur in Berührung kommt, dem wärmern menschlichen Körper je nach dem Grade der ihm inwohnenden Temperatur und der kürzern oder längern Dauer der Berührung mit ihm, so lange Wärmestoff zu entziehen, bis sich der wechselseitige Temperaturgrad ausgeglichen hat, d.h. der nämliche geworden ist. Entziehung von Wärme ist also die Erstwirkung des kalten Wassers auf den menschlichen Körper. Mit dem dadurch entstehenden Kältegefühl pflegt eine allgemeine Zusammenziehung der von dem kalten Wasser zunächst berührten Flächen, also in den meisten Fällen der äußern Haut, verbunden zu sein. Da nun diese Wärmeentziehung ein Eingriff in die zur Erhaltung des Körpers nöthige Lebensharmonie ist, so wirkt dieser vermöge des ihm als belebten Organismus inwohnenden Selbsterhaltungstriebes dem feindlichen Eingriff entgegen. Die Folge und Äußerung hiervon ist Steigerung der Lebensäußerungen des durch die Einwirkung des kalten Wassers in seiner Lebensharmonie bedrohten Organismus (und zwar hauptsächlich von Seiten des Nerven- und Gefäßsystems), wodurch nicht nur der Zustand zurückgeführt wird, der dem feindlichen Eingriffe von außen vorausging, sondern auch in den der. Einwirkung des kalten Wassers unmittelbar ausgesetzt gewesenen Flächen des Körpers (je nachdem das kalte Wasser örtlich oder allgemein einwirkte) eine regere Lebensthätigkeit entsteht als für gewöhnlich statt hat. Die oben durch die Einwirkung des kalten Wassers blaß und kalt gewordene und zusammengezogene Haut röthet sich, wird wieder warm und dehnt sich beträchtlich aus. Den Gesammttheil dieser Erscheinungen bezeichnet man mit der Benennung Reaction. In dieser Reaction liegt das Geheimniß der großen Heilwirkungen des Wassers. Die Steigerung der gesammten Lebensthätigkeit des Organismus, welche zunächst durch die mit dem Wasser verbundene Kälte hervorgerufen wird und an der kräftigen Körperbewegung und einfachen, naturgemäßen Kost eine wesentliche Unterstützung findet, erklärt das scheinbare Räthsel der unleugbaren Erfolge mancher Wassercuren. Die übrigen Eigenschaften des Wassers, sein chemischer Gehalt, seine Dichtigkeit u.s.w. sind für die Wassercuren von untergeordneter Bedeutung, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß sie von gar keinem Einfluß auf den Organismus seien. In der erregenden Einwirkung des Wassers auf den Körper hat auch die Verdauung stärkende, eine bessere Ernährung einleitende, Schadhaftes aus dem Körper entfernende Wirkung desselben ihren Grund. Auch bei dem innerlichen Genuß des kalten Wassers ist es wiederum die belebende, anregende Wirkung der Kälte, die Reaction in der ganzen von dem kalten Wasser berührten Schleimhaut (die sich durch vermehrte Schleimabsonderung, aber auch durch erhöhte Kraft, den Schleim loszustoßen, kund gibt) und zwar zunächst der Verdauungswerkzeuge und der mit diesen verbundenen Organe, welche nützt. Durch Anregung und Unterstützung der gesundheitsgemäßen Verrichtung des Verdauungskanals wird das kalte Wasser zugleich ein mächtiges Hülfsmittel einer guten Ernährung, in dem zunächst in den Verdauungskanale derjenigen Säfte bereitet und gebildet werden, die zur Ernährung des Körpers verwendet werden sollen. Mit dieser Verbesserung der Ernährung durch Steigerung der organischen Thätigkeit fallen auch die sogenannten auflösenden Wirkungen des kalten Wassers zusammen, die darin bestehen, daß die aufzulösenden Theile aufgesaugt, wieder in den allgemeinen Kreislauf gebracht und dann aus dem Körper geschafft werden. Ist freilich die Ernährung schon so weit von dem gesundheitsgemäßen Zustande abgewichen, daß der einfache Reiz des kalten Wassers nicht mehr im Stande ist, die Unregelmäßigkeit auszugleichen, dann ist das Trinken des kalten Wassers, wie es in neuester Zeit so häufig betrieben und empfohlen wird, sicherlich vom Übel. Uebrigens wird auch bei dem innerlichen Gebrauche des kalten Wassers die beabsichtigte Reaction nur dann den gewünschten Erfolg haben, wenn sie durch hinreichende körperliche Bewegung unterstützt wird.

Was nun den Werth der besondern Anwendungsarten des kalten Wassers anlangt, so ist für den Gesundheitszustand vieler Kranken jenes gewaltsame Verfahren gewiß nicht gut, welches den am frühen Morgen in vollen, künstlich erzwungenen Schweiß gesetzten Körper in ein kaltes Bad bringt, ja für manche wol gefährlich und wenigstens überflüssig. Hinsichtlich der in den Kaltwasserheilanstalten gebräuchlichsten Form der Anwendung des kalten Wassers, die der allgemeinen Bäder, der Halb-, Sitz- und Fußbäder, deren die meisten Kranken im Laufe des Tages sogar zu wiederholten Malen sich bedienen, gilt von ihnen, was von der Wirkung des kalten Wassers überhaupt auf den menschlichen Körper angeführt worden ist (mit den natürlichen Einschränkungen für die theilweisen Bäder). Jeder Theil des Körpers, der einzeln dem kalten Bade ausgesetzt wird, erleidet die schon angegebenen Veränderungen, an denen der übrige Körper in dem Grade Theil nimmt, in welchem die jedes Mal gewählte Form dem allgemeinen Bade mehr oder weniger sich nähert. Die örtlichen Bäder wirken vorzugsweise durch Ableitung heilsam und diese ist bekanntlich für Heilzwecke oft von der größten Wichtigkeit. In den dem kalten Bode ausgesetzten Theile wird das Gefäßleben vorübergehend erhöht, in den übrigen einigermaßen herabgestimmt. So kann unter gewissen Verhältnissen das kalte Fußbad Abhülfe gegen Kopfschmerz gewähren. Die bunte Vermischung der einzelnen Anwendungsformen des kalten Wassers, welche ein charakteristisches Zeichen der heutigen Wassercuren ausmacht, raubt jedoch jeder einzelnen ihren besondern Werth, zumal nach jeder derselben kräftige Körperbewegung Vorschrift ist, die allemal Anregung und Belebung des ganzen Körpers zur Folge hat. Noch muß einer Erscheinung gedacht werden, der man aus Unkenntniß ihres Grundes lange Zeit unverdiente Bedeutsamkeit beigelegt hat, nämlich der bald, oft schon wenige Tage nach dem Beginn der Wassercur erfolgende Ausbruch von[663] allerhand Hautausschlägen (von der einfachen Röthung bis zur Entstehung von Geschwüren), der, da man ihn mit der jedesmaligen Krankheit und dem muthmaßlich vorhandenen Krankheitsstoffe in eine bestimmte Beziehung brachte, zu der irrigen Ansicht verleitete, als liege allen Krankheiten eine Säfteentartung zum Grunde, die durch dergleichen Hautausschläge gehoben werde. So betrachtete man und zwar um so mehr, als wirklich in einzelnen Fällen das Schwinden der bisherigen Leiden mit der Entstehung solcher Hautgeschwüre in Verbindung stehen kann, insofern eine große Anzahl von Krankheiten durch Erhöhung des Hautlebens und Ausscheidung bösartiger Stoffe durch die Haut wirklich gehoben wird, das Erscheinen von derartigen Hautausschlägen als nothwendig zur Heilung, während es doch nur ein mehr zufälliges Erzeugniß der reizenden Einwirkung des kalten Wassers auf die Haut ist, deren Übertreibung durch die wenigen auf die angegebene Weise zur Heilung gebrachten Krankheitsfälle nicht gerechtfertigt wird und sich in der Regel durch wesentliche Gesundheitsstörungen rächt. – Eine weitere sehr eingreifende Anwendungsform des kalten Wassers gewähren die Douchen, welche die heilkräftige Reaction von Seiten des Organismus am sichersten hervorrufen, wegen der mit ihnen verbundenen eigenthümlichen Erschütterung aber nicht so allgemein und rücksichtslos angewendet werden sollten, als es leider in Wirklichkeit geschieht, sondern Vorsicht erheischen. Die nassen Umschläge und Einwickelungen, welche in den Kaltwasserheilanstalten die allgemeinste Anwendung finden und auch in der That die meisten Erfolge aufzuweisen haben, bewähren sich hauptsächlich bei dem Vorhandensein wirklich örtlicher Leiden, wirken vermöge der mit ihnen verbundenen Bedeckung weniger eingreifend, mehr oberflächlich als die Waschungen und Bäder, mehre blos örtlich. Allgemeine nasse Einwirkungen verursachen einen allgemeinen leichten Hautreiz, beleben vorzugsweise die Haut und machen dadurch eine Ableitung von innen, können sonach bei fieberhaften Zuständen beruhigend, fieberbeschwichtigend einwirken. Manche der mehr örtlichen erstrecken ihre Wirksamkeit indeß auch nach innen, was namentlich von den nassen Umschlägen auf die Magengegend gilt, da dieser unmittelbar unter den Hautbedeckungen gelegen ist und sonach an der Belebung und Stärkung der äußern Haut Theil nimmt. Bei den Entzündungen innerer wichtiger Organe möchte eine zu ausgedehnte Anwendung des kalten Wassers sogar als ein gefährlicher Eingriff erscheinen.

Aus dem Allen ergibt sich nun, daß Wassercuren hauptsächlich bei solchen Krankheiten einen heilsamen Erfolg erwarten lassen, die wesentlich auf einem Gesunkensein der Lebensthätigkeit des gesammten Organismus oder auch nur einzelner Organe beruhen, bei denen es also auf eine Steigerung dieser ankommt, so weit eine solche nämlich ohne chemische Einwirkung möglich ist, wobei jedoch stets vorausgesetzt werden muß, daß der Körper sich noch in einem solchen Zustande befindet, welcher ihn befähigt, eine derartige Steigerung ohne Gefahr zu ertragen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 662-664.
Lizenz:
Faksimiles:
662 | 663 | 664
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Zwei Schwestern

Zwei Schwestern

Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.

114 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon