[82] Thalberg, Siegmund, der berühmte Claviervirtuos, den man mit Recht den kolossalen nennen könnte, wurde geb. zu Genf am 7. Jan 1812, kam jedoch in früher Jugend nach Wien, wo er sich unter Sechter und Hummel auf dem Pianoforte ausbildete und schon als Knabe die allgemeinste Bewunderung erregte. Ein unermüdetes Studium, die gründlichste Ausbeutung aller seiner körperlichen und geistigen Anlagen nur auf das eine Ziel bezogen, erhoben ihn zu immer höhern Stufen der Kunst, erschlossen ihm die geheimsten Tiefen der Virtuosität; und wenn es wahr ist, daß in neuester Zeit, wo der wüthende Dilettantismus den meisten Musikfreunden den Genuß am Clavierspielen verdorben und Schnellunterrichtsmethoden, Maschinen und allerlei industriöse Sächelchen das Clavierspiel rein mechanisch gemacht haben, nur das wahrhaft Außerordentliche noch Anspruch auf jene laute Anerkennung machen kann, die an Enthusiasmus grenzt: so gehört T. unbedingt zu diesen außerordentlichen Pianofortevirtuosen, die den vollsten Beifall der hochgebildetsten und verwöhntesten Kenner verdienen. Sein Spiel ist weder brillant noch elegant; dieß Alles will zu wenig sagen; es ist wahrhaft kolossal. Wer ihm mit verbundenen Augen zuhört, wird es nimmer wagen, das Instrument für einen gewöhnlichen Flügel zu halten. Unter seinen Händen wird es zur Orgel; einen so gewaltigen Geist weiß er seinem Spiele einzuathmen. Dabei grenzt seine mechanische Fertigkeit an's Unglaubliche. Die geschicktesten Clavierspieler sagen, T. müsse an jeder Hand ein Paar Finger mehr haben; aber er vermag Alles mit ihnen. Während neun davon die schwierigste Variation ausführen, spielt der kleine Finger der linken Hand das Thema dazu mit einer bewundernswerthen[82] Präcision und Delikatesse. Und dabei sieht man es dem Körper nicht im geringsten an, welche ungeheure Schwierigkeiten er überwindet. Seine Haltung ist leicht und ungezwungen, sein Anstand edel; er tändelt fast mit den Schwierigkeiten; die verwickeltste Notenfigur wird unter seinen Händen zu einer lächelnden Grazie; spielend siegt er durch sein Spiel. T's Gesicht ist schön und edel; Auge und Stirn zeigen einen schwärmerischen Ausdruck und eine lebhafte Phantasie; die stark gebogene Nase gibt dem Kopfe einen sehr eigenthümlichen Ausdruck, und ein kleiner, fast weiblicher Mund vollendet den seltsamen Eindruck; und während des Spiels läßt der junge Zauberer manchmal sein Auge voll schwärmerischer Begeisterung im Kreise der Zuhörer umherschweifen oder schlägt es in die Höhe. Vorzüglich glänzt T. in dem Vortrage Beethoven'scher Compositionen. Frühzeitig trat er auch als Componist für sein Instrument auf, und alles, was er schrieb, namentlich die: »Fantaisie et Variations sur des motifs de l'opéra: Norma de Bellini« »Fantaisie et Variations sur deux motifs de l'opéra: Don Juan de Mozart,» »Deux Nocturnes«, »Deux airs russes variés«, Caprice pour le Pianoforte etc.« zeichnet sich durch große Gediegenheit aus. Auf seiner Kunstreise durch Deutschland im J. 1830 erwarb er sich an vielen Orten den lebhaftesten Beifall. 1834 ward er zum östreichischen Kammervirtuosen ernannt, und als solcher excellirte er mehrmals während der Zusammenkunft des Kaisers Ferdinand mit dem Kaiser von Rußland und dem Könige von Preußen in Teplitz vor den Monarchen, und wurde von ihnen mit den schmeichelhaftesten Lobsprüchen überhäuft. Zu Ende 1835 reiste T. nach Paris, wo er wahrhaft Epoche machte und von dem Könige Ludwig Philipp mit einem kostbaren Brillantring beschenkt wurde. Von hier begab er sich nach London, wo er noch jetzt weilt und die altenglischen Herzen mit neuer Sensation erfüllt.
S....r.