Phantasie

[195] Phantasie, die Gabe etwas Abstractes im Bilde zu schauen, so zu sagen, Erscheinungen zu haben, Gedanken zu verkörpern, Theile zum Ganzen auszubilden, Neues hervorzubringen und scheinbar unzusammenhängende Ursachen und Wirkungen zu verbinden. Ein Mensch von Ph. verbindet beim Anschauen der Außenwelt sogleich die erste Idee mit der letzten, mit Gott, und ihm erscheint nichts als Fragment, sondern als integrirender Theil der ganzen Schöpfung. Er belebt die todte Natur und sucht für die lebendige Aehnliches in der todten. So verschönt er die ganze Welt der Erscheinungen und weist diesen unter einander Beziehungen an, die sie erst würdig des reinen Gemüthes machen. Die Ph. ist wie ein Wasserspiegel, auf welchem der kleinste Körper bei der Berührung Wellenkreise schlägt, die in's Unendliche zerfließen. Die Bildung der Ph. geht stufenweise vor sich. Auf der untersten Stufe ist sie nur empfangend. Hier verhält sie sich noch völlig leidend. Sie versteht nur das Schöne und nimmt es auf, ohne es aus sich selbst entwickeln zu können. Auf der zweiten Stufe steht das Talent. Hier wirkt sie bereits, aber noch nicht ganz unabhängig, sondern ahmt nur nach, oder erzeugt nach Mustern. Die dritte Stufe nehmen die passiven Genies oder Solche ein, die reicher schon an Ideen als die nur Talentbegabten, aber noch nicht mächtig genug sind, eine ganz neue Ordnung, neue Weltanschauung hervorzurufen. Diese können große Künstler werden; allein das eigentliche Genie steht erst auf der vierten Stufe (s. Genie).

B–l.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 8. [o.O.] 1837, S. 195.
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