Harmonie

[430] Harmonie (harmonia): Zusammenfügung einer Vielheit zur Einheit, Zusammenstimmung, Übereinstimmung, Anpassung der Teile eines Ganzen aneinander zu einer Ordnung, Verbindung der Gegensätze in und zu einer Einheit. Die musikalische Harmonie beruht auf dem Fehlen von Schwebungen (s. d.) und Klang-Rauhigkeiten in einer Tonverbindung (HELMHOLTZ, Lehre von d. Tonempfind.2, ff. 297 ff.; Vortr. u. Red. II4, 121 ff.; vgl. WUNDT, Grdz. d, phys. Psychol. II, 65; STUMPF, Conson. u. Disson. Beitr. zur Akust. u. Musikwiss. 1. H. 1898). In der Ästhetik (s. d.) und in der Ethik (Harmonie der Charaktereigenschaften, der Interessen, der individuellen und socialen Triebe u.s.w.) ist der Begriff der Harmonie von Bedeutung. Die Harmonie der Welt, d.h. die gesetzmäßige, causal-teleologische Zusammenfügung der Dinge und Kräfte zu einer Weltordnung, ist von philosophischer Wichtigkeit.

Die Pythagoreer übertragen den musikalischen Harmoniebegriff auf das All. In diesem sind alle Gegensätze zur Einheit vereinigt. Alles in der Welt ist nach harmonischen Verhältnissen geordnet, ist selbst Harmonie und Maß: ton holon ouranon harmonian einai kai arithmon (Aristot., Met. I 5, 986 a 3); kata de tous tês harmonias logous (Diog. L. VIII 1, 29). Die Seele (s. d.) ist eine Harmonie (so auch nach ARISTOXENOS, DIKAEARCH, GALEN). Auch die Tugend (s. d.) ist eine Harmonie (tên d' aretên harmonian einai ... kath' harmonian synestanai ta hola, Diog. L. VIII 1, 33). Die Sphärenharmonie entsteht aus dem Zusammenklang der um das Centralfeuer (hestia) sich bewegenden Planeten zu einem Heptachord (vgl. Goethe, Faust I: »Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang«). Die Harmonie der widerstreitenden Gegensätze im All betont HERAKLIT, damit die Gesetzmäßigkeit und Ordnung der Welt zum Ausdruck bringend: Hêrakleitos to antixoun sympheron kai ek tôn diapherontôn kallistên harmonian kai panta kat' erin ginesthai (Arist., Eth. Nic. VIII 2, 1155 b 4); ou syniasin hokôs diapheromenon heôutô homologei. palintropos harmoniê hokôsper toxon kai lyrês (die in sich zurückkehrende Harmonie, wie die des Bogens und der Leier, Fragm. 45); esti gar, phêsin, harmoniê aphanês phanerês kressôn (Fragm. 47). Die Harmonie des Weltganzen preisen PLOTIN dann wieder (in pythagoreisch klingender Weise) NICOLAUS CUSANUS, KEPLER, G. BRUNO. Die Harmonie als ethisches Princip betont SHAFTESBURY (Inquir. conc. virt. I, 2; The moral. II, 4; III, 1).

Nach LEIBNIZ ist Harmonie »unitas in multitudine«. Er stellt den Begriff der prästabilierten (vorherbestimmten) Harmonie auf, um die Ordnung des Alls ohne directe Wechselwirkung (Influxus, (s. d.)) zu erklären, da ihm die Anerkennung der letzteren durch seinen Begriff der einfachen Monade (s. d.) verwehrt ist. Die Theorie der prästabilierten Harmonie (»harmonia praestabilita, harmonie préétablie, harmonie universelle, accord, concomitance, liaison, accommodement, rapport mutuel reglé par avance« u. dgl.) besagt, daß Gott alle Beziehungen sowohl zwischen den einzelnen Dingen (Monaden) als auch zwischen Seele und Leib von Anfang an so geordnet hat, daß alles Geschehen gesetzmäßig und zweckmäßig verlaufen muß, obgleich statt wirklicher Einzelcausalität nur ein Parallelismus, eine Coordination der Geschehnisse besteht. Jeder Monade hat Gott ein festes Gesetz eingepflanzt, welchem gemäß ihre (rein[430] immanente) Tätigkeit sich abspielt, so aber, daß alle Monaden einander angepaßt sind, daß auf alle Rücksicht genommen ist, daß die Vorgänge einander angemessen, angepaßt sind (Monadol. 51, 52, 60). Den Namen »prästabilierte Harmonie« gebraucht Leibniz zuerst 1696, in einem Briefe an Basnage de Beauval (Gerh. III, 121 f.; vgl. III, 67, Brief an Bayle). Die Monaden sind rein geistig, punktuell, »ohne Fenster«, bilden jede »un monde à part«, können daher nicht gegenseitig aufeinander einwirken. Daher muß Gott der Vermittler der Causalität sein, aber nicht bloß gelegentlich, wie der Occasionalismus (s. d.) meint sondern ein für allemal von Anfang an. Alle Monaden sehen das eine Universum in verschiedenem Klarheitsgrade, jede hat Beziehungen, welche alle anderen ausdrücken, so daß sie ein lebendiger Spiegel des Alls ist (Monadol. 66, 57). »Car chacune de ces âmes exprimant à sa manière ce qui se passe au dehors et ne pouvant avoir aucune intfluence des êtres particuliers ou plutôt devant tirer cette expression du propre fond de sa nature, il faut nècessairement, que chacune ait reçue cette nature d'une cause universelle, dont ces êtres dèpendent tous et qui fasse, que l'un soit parfaitement d'acoord et correspondant avec l'autre, ce qui ne se peut sans une connaissance et puissance infinie« (Nouv. Ess. IV, § 11). Insbesondere besteht eine Harmonie zwischen Leib und Seele. Psychische und physische Processe gehen einander parallel, sind einander gesetzmäßig zugeordnet, ohne psychophysische Wechselwirkung, ohne Durchbrechung jeder Reihe von Vorgängen. Seele und Leib gleichen zwei Uhren, die so eingerichtet sind, daß ihr Gang für alle Zeiten ein übereinstimmender ist (Gerh. IV, 498). »L'âme suit ses propres lois, et le corps aussi les siennes, et ils se rencontrent en vertu de l'harmonie préétablie entre toutes les substances, puisqu'elles sont toutes les representations d'un même univers« (Monadol. 78). »Les âmes agissent selon les lois de causes finales par appétitions, fins et moyens. Les corps agissent selon les lois de causes efficientes ou des mouvements. Et les deux règnes... sont harmoniques entre eux,« (Monadol. 79). »Ce système fait, que les corps agissent comme si (par impossible) il n'y avait point d'âmes, et que les âmes agissent comme s'il n'y avait point de corps, et que tous deux agissent comme si l'un influait sur l'autre« (Monadol. 81). »Dieu a créé d'abord l'âme de telle sorte, que pour l'ordinaire il n'a besoin de ces changements, et ce qui arrive à l'âme, lui naît de son propre fonds, sans qu'elle se doive acoommoder au corps dans la suite, non plus que le corps à l'âme. Chacun suivant ses lois, et l'un agissant librement, l'autre sans choix, se rencontre l'un avec l'autre dans les mêmes phénomènes« (Gerh. II, 58). Der Seele und dem Leibe hat Gott eine Natur verliehen, »dont les lois mêmes portent ces changements, de sorte que selon moi les actions des âmes n'augmentent n'y diminuent point la quantité de la force mouvante, qui est dans la matière, et n'en changent pas même la direction« (Gerh. III, 121 f.). Endlich besteht auch eine Harmonie zwischen dem »Reiche der Natur« und dem »Reiche der Gnade«, d.h. zwischen dem Handeln und dessen Folgen. Die Dinge führen auf natürliche Weise zur Gnade, zum verdienten Zustand, zum Glücke, die Sünden, das Schlechte zur Strafe, so daß alles aufs schönste, beste, gerechteste geordnet ist (Monadol. 87, 88, 89). Die Gegenwart geht mit der Zukunft schwanger, in jeder Seele könnte man die Schönheit des Alls lesen (Princ. de la nat. 13). Mechanisches und zweckvolles Geschehen sind miteinander in Harmonie. »Je me flatte d'avoir pénétre l'harmonie des différents règnes et d'avoir vu, que les deux partis ont raison, pour rien qu'ils ne se choquent point; que tout ce fait mécaniquement[431] et metaphysiquement en même temps dans les phenomènes de la nature« (Gerh. III, 607). – Mit Modificationen wird die prästabilierte Harmonie gelehrt von CHR. WOLF, BAUMGARTEN (Met. § 462 ff.), BILFINGER (De harmon. praest. p. 73 ff.) u. a. Gegner dieser Lehre ist u. a. RÜDIGER, der an der Influxustheorie (s. d.) festhält. Von einer »constabilierten Harmonie« spricht SWEDENBORG. In seiner vorkritischen Periode nimmt KANT eine (aber nicht vorbestimmte) »Harmonie der Dinge« mit wirklicher Wechselwirkung an (Princ. prim. sct. III). Bei verschiedenen neueren Philosophen kommt der Gedanke der Weltharmonie zur Geltung, so bei SCHELLING (Syst. d. transc. Ideal. S. 65; Vom Ich S. 201 f.), HERBART, HILLEBRAND (nach welchem Denken und Sein in prästabilierter Harmonie miteinander sind (Philo(s. d.) Geist. I, 5), LOTZE, J. H. FICHTE, der von einem allgemeinen »Harmonismus« der Dinge spricht (Psychol. II, 21) und FECHNER (Zend-Avesta II, 152); auch bei M. WARTENBERG (Probl. d. Wirkl. 1900, S. 136). Vgl. Identitätsphilosophie, Parallelismus, Seele, Wechselwirkung, Trieb.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 430-432.
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