[340] Gral oder Graal. Der heilige Gral war der Mittelpunkt eines ausgedehnten Dichtungskreises der mittelalterlichen Romantik, woran die Ritterwelt sich erbaute und durch dessen Bearbeitung die Dichter sich die Seligkeit zu verdienen glaubten. In der Gralsage meinte man die unerforschlichen Geheimnisse des Glaubens, die Wunder des Christentums und die segensreichen Lehren des neuen Bundes zu ergründen, in Symbolen anschaulich[340] zu machen und an die poetischen und historischen Traditionen im Geiste des christlichen Rittertums anzuknüpfen. Der Bestand der ursprünglichen, wahrscheinlich aus Spanien durch maurische Vermittelung nach Frankreich gekommenen Sage ist bis jetzt nicht klar gelegt worden; wir kennen sie bloss in derjenigen Gestalt, in welcher sie in Verbindung mit der Geschichte Parzivals und der gesamten Artussage als Lieblingsstoff der französischen, später der deutschen Epiker auftritt. Man besitzt zwar ein altfranzösisches Gedicht des Chrestien de Troyes, Contes del Gral; dieses ist jedoch nicht die Quelle der beiden Graaldichtungen Wolframs von Eschenbach, des Parzival und des Titurel; vielmehr nennt Wolfram selber als seine Quelle einen französischen Dichter Kyot von Provence, welcher sich, nach Wolframs Angabe, seinerseits wieder auf eine Schrift des Flegetanis in heidnischer Sprache beruft, der ein Heide von Vaterseiten, von Mutterseiten Jude aus Salomons Geschlecht, in der Sternkunde erfahren, ein Kalb anbetete und in den Sternen vom Gral las; diese Schrift will Kyot zu Toledo gefunden haben; da sie indessen nur allgemeine Angaben über den Gral enthielt, forschte er weiter nach in den Chroniken von Britannien, Frankreich und Irland und fand endlich zu Anjou die rechte Märe. Von diesen Quellen, die etwas zweifelhafter Natur sind, ist nichts weiteres bekannt.
Das Wort Gral wird bei den alten Schriftstellern in der Bedeutung Gefäss nachgewiesen; zahlreiche andere Ableitungen, wie Sang real oder royal, oder vom hebräischen garalah = Vorhaut, sind falsch.
Seinem Wesen nach ist der Gral das höchste, was auf Erden nur gewünscht werden kann, ja das über allen wunsch noch weit hinausreicht, das dem Himmelreiche selbst gleichkommt, ein Gefäss so schwer, dass die ganze sündige Menschheit es nicht von der Stelle zu bewegen vermöchte, und gleichwohl doch auch so leicht, dass es mühelos von der zarten Hand Urrepansens sich tragen lässt, deren hohe Reinheit sie zu ihrem Amte als Gralträgerin heiligt. Mit dem Stein, aus welchem der Gral geschaffen ist, verbrennt sich der Vogel Phönix, um schöner zu einem neuen Leben wiedergeboren zu werden; der Stein bewirkt also Zerstörung, Wiedergeburt und Auferstehung. Am Karfreitage schwingt sich eine weisse Taube vom Himmel herab, legt eine kleine weisse Oblate auf das Gefäss und fliegt dann wieder empor zum Himmel. Durch dieses Mysterium erhält der Gral alle die göttlichen Wundergaben, die weit über alle menschliche Kraft und irdische Herrlichkeit hinausgehen und unendliche Wonne und unaussprechliches Heil wirken. Ursprünglich war der Gral im Himmel bei Gott und von Engeln bedient; nach dem Sündenfalle der Engel und Luzifers Empörung wurden die teilnahmlos gebliebenen Engel aus dem Himmel verstossen und verurteilt, dem Gral auf Erden zu dienen, bis Gott sie in die ewige Verdammnis verstiess, und nun das Heiligtum den durch kiusche und triuwe, diese Kardinaltugenden, ausgezeichneten Auserwählten der Menschen anvertraute. Diese mussten aber Getaufte sein; Gott ernannte sie selbst und berief sie durch seinen Engel zu dem erhabenen Dienste, und Titurel war der erste, dem das hohe Schirmeramt als Gralskönig anvertraut wurde. Der Gral ist auch nur den Getauften sichtbar. Die vom Gral berufenen Diener sind von allen Todsünden befreit, der Weg zum Himmel ist ihnen eröffnet und die höchste Seligkeit ist ihr Lohn im jenseitigen Leben. Der Gral erwählte die Seinigen ohne Ansehen des Standes oder Geschlechtes;[341] die zum Gral Berufenen müssen aber durch ihr Leben sich der ihnen sonder Verdienst zugeteilten Gnade würdig machen, daher der hôchvart, ungenuht, des valsches sich entschlagen, diemüet üben, in kiusche leben und damit ihre triuwe bewahren. Insbesondere müssen die Gralritter weltlicher Minne entsagen; nur der König darf vermählt sein; wer aber vom Gral in ein fremdes Land als dessen Herrscher gesandt wird, darf dort sich vermählen, damit sein Geschlecht wieder dem Gral diene. Besonders aber muss der Ritter zur Ehre und Verteidigung des Grals das Schwert führen und stets zum Kampfe dafür gerüstet sein. Er darf weder Pardon geben noch nehmen, und so dem Gral in Leben und Tod geweiht, büsst er die eigene Sündenschuld zu seiner Heiligung, sühnt damit aber auch zugleich die Sündenschuld der Menschheit und bereitet sich seine Seligkeit. Der Gral steht aber auch seinen Dienern in Todesgefahr bei. Sämtliche Graldiener werden eine Brüderschaft genannt; der Gral spendet ihnen alle Bedürfnisse, Kleidung und Waffen, Speise und Trank, und zwar der köstlichsten Art. Der Gral gewährt seinen getreuen Dienern aber noch höhere Gaben: wer ihn erblickt, kann in einer Woche darnach nicht sterben, er erhält ihn in voller Jugendblüte, und würde er auch zweihundert Jahre alt. Der König ist Schirmer über des Grals Geheimnis, sein Reich erstreckt sich über die ganze Erde und weiter bis in die Sterngefilde; denn es ist die ganze Schöpfung, in welcher der Gral waltet; aber er ist nicht Herr über den Gral selbst, sondern nur das Haupt der Gralgemeinde, der Wächter über die Erfüllung seiner Gesetze. Der König des Grals führt im Wappen die Turteltaube, das Sinnbild der Reinheit und treuen Liebe. Unter diesem Zeichen hat die Ritterschaft zur Verherrlichung des Grals zu kämpfen und der König vom heiligen Geist erfüllt zu regieren.
Das Heiligtum des Grals wird in einem Tempel aufbewahrt, der sich zu Munsalväsche befindet, im mons salvationis, der Gralburg und Residenz des Königs. Von hier aus wird der heilige Samen in die Welt ausgestreut. Das dazu gehörige Land, 30 Meilen ringsum, heisst Terre de Salvâtsche, darin entspringt die Fontâne la salvâtsche, an welcher die Klause Trevrizents (trêve recent, der neue Friede) liegt, wo Parzival seine Heilsbelehrung empfängt. Das Gralgebiet ist ein Bannforst, den niemand ungestraft betreten darf, und mit Wachen und Warten umstellt. Die Burg liegt unüberwindlich auf steilem Berge, aber grosses Geheimnis umgiebt sie. Wer sie sucht, wird sie nicht finden; denn nur, wen der Gral selbst zu sich beruft, kann zu ihm gelangen, er ist mit Waffen nicht zu erstreiten. Zweimal im Jahr, bei hohen Festen, wird mit ungemeinem Aufwande von Pomp und Personen das heilige Gefäss mit der blutenden Lanze im grossem Saale vor den König und seine Ritterschaft getragen. Ein ritterliches Fest wird auf der Burg nicht begangen, alles ist in tiefer Trauer; denn die Gralgemeinde befindet sich in der Busse, und zwar wegen der Schuld des Amfortas; dieser König Grals hatte sich nämlich gegen das Gebot durch unkeusche Minne zur Heidenkönigin Secundilla und demnächst zur verführerischen Orgeluse vergangen, und im Dienste der letzteren erhielt er beim Kampfe mit einem Heiden, der den Gral erstreiten wollte, durch dessen vergifteten Speer eine unheilbare, unsägliche Schmerzen bereitende Wunde. Die treuen Gralritter wandten vergebens alle natürlichen und übernatürlichen Heilmittel an, bis sie bussfällig zum Gral beteten; dieses Gebet wurde zwar dem Kranken nicht zur Genesung,[342] doch seinen Rettern zur Hoffnung; es erschien nämlich eine Schrift am Gral, dass Amfortas genesen werde, wenn ein Ritter kommen würde, der unaufgefordert fragte. Als dieser Ritter, Parzival nämlich, beim Grale erschien, that er die verhängnisvolle Frage nicht; Amfortas aber nimmt dieses für eine göttliche Prüfung an, und als Parzival, der schon ernannte Gralkönig, zum zweiten Male erscheint, widmet er sich demütig dem heiligenden Graldienst, indem die Krone des Grals auf Parzival übergeht.
Während Amfortas sich durch offen bewusste Verletzung des Gral- oder Gottesgebotes versündigt, ladet Parzival die Schuld auf sich durch seine Gerechtigkeit. Parzivals einsame Erziehung im Walde öffnete nicht sein Herz dem Lichtblicke des Glaubens; mit edlen hohen Anlagen, von angebornem Thatendrange getrieben, mit trotzigem Selbstgefühle sich von der Mutter losreissend stürmt er in die Welt, erzwingt sich die Ritterschaft, gewinnt ein herrliches Weib, vollbringt die grössten Heldenthaten, erringt überall Sieg und Ruhm und die höchste Ehre am Plimizol, wo Artus ihn in die Zahl der Tafelrundritter aufnimmt. Dennoch hat er mit fast jeder seiner wohlgemeinten, das ihm gegebene Gesetz nur befolgenden Handlungen Unheil hinter sich gelassen, ohne dass er es weiss oder begreift, weshalb es so kommen musste. Da reisst Kundrins Donnerwort ihn aus dem Taumel des Glücks, und statt Ehre giebt sie ihm den Fluch aller Guten. In dem Bewusstsein gewissenhaftester Erfüllung aller ihm kundgegebenen Pflichten, unfähig, die Schande, die ihn getroffen, zu tragen, wendet sich empört sein Gemüt gegen Gott, und er fällt dem Zweifel und der Verzweiflung anheim. Da belehrt ihn Trevrecent zum erstenmal über die unendliche Liebe Gottes und bezeichnet ihm Reue, Busse und Demut als den Weg zum Heile. Als ein neuer Mensch setzt er sein Forschen nach dem Gral fort, den er um seines eigenen Heiles willen und im Glauben an die Kraft des Grals aufsucht und findet.
Nach dieser, dem verdienten Parzival-Forscher San Marte entlehnten Erläuterung des Grals stellt sich nun als Idee des Grals im Geiste Wolframs eine christliche Genossenschaft entgegen, ein Reich der Gläubigen und Auserwählten des Herrn, eine christliche Gemeinschaft ohne römische Hierarchie, ohne Bann, Interdikt und Ketzergerichte, worin Gott selbst durch den Gral im Geiste des reinen Evangeliums Herrscher und Richter seiner Gemeinde ist; vom Tempelherrenorden aber entlieh der Dichter die Hülle zu seiner idealen Gestaltung dieser Genossenschaft. Seiner Idee gemäss steht das Gralreich im Gegensatz sowohl zum orthodoxen Christentum als zum Heidentum, obgleich er sich der Polemik enthält. Nach San Marte ist der Gral und das Tempelrittertum, wie es von Wolfram geschildert wird, ein der freien Dichtung angehöriges Phantasiegeschöpf, dem der Boden wirklichen Volksglaubens fehlt, zu dem jedoch die Färbung von sehr mannigfaltigen Seiten entlehnt ist. In indischen Mythen wurzelt die Sage von einer Stätte auf Erden, die ihrem Bewohner mühelosen Genuss und ungetrübte Freude gewährt, ein irdisches Paradies; ähnlicher Auffassung entstammt die Zeit des Saturn, das goldene Zeitalter der Griechen; der Islam besitzt sein mit den glühendsten Farben ausgestattetes Paradies, und nicht minder die Religion der Kelten in der Insel Avalon, dem glückseligen Lande, wohin Artus nach der Schlacht von Cambula entrückt ward. Den Stein, aus dem der Gral besteht, hat man geglaubt in Beziehung[343] bringen zu dürfen mit dem schwarzen Steine der Kaaba; er soll einer von den Edelsteinen des Paradieses und mit Adam herab auf die Erde gefallen sein. Der Tempel zu Mekka heisst auch der unverletzliche, unnahbare, wie Muntsalvatsche im Titurel der behalten berc heisst. So denkt man auch an den altägyptischen Hermesbecher, den Becher des Dschemschid, des Herkules und Bacchus, der zugleich Weltspiegel, Zauberspiegel und Gefäss des Heiles ist. Erst spätere französische Prosaromane, deren noch mehrere bis ins 16. Jahrhundert verfasst wurden, setzten den Gral mit Joseph von Arimathia in Verbindung und nannten ihn die Schüssel, aus der der Herr mit den Jüngern gespeist und in der Joseph das Blut aufgefangen habe, das den Wunden des Herrn bei seiner Beerdigung entströmte. Auch die Ableitung der blutenden Lanze von derjenigen, womit Longinus dem Heiland am Kreuze in die Seite stach, weshalb sie stets und bis zum Tage des Wehgerichts bluten wird, ist spätern Datums. Nach San Marte in Ersch und Gruber, Artikel Graal, vgl. auch desselben Forschers Parzival-Studien. Birch-Hirschfeld, die Sage vom Gral, Lpz. 1877. Bartsch in der Einleitung seiner Parzifal-Ausgabe.
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