Höfische Dichtung

[415] Höfische Dichtung ist das bleibendste und schönste Denkmal der mittelalterlich-ritterlichen Bildung und zugleich eine wesentliche Kette in der Entwickelung der deutschen Litteratur überhaupt. Zwar geht der Dichtung des höfischen Standes eine Dichtung der unteren nichthöfischen Stände parallel; diese ist aber aus erhaltenen Denkmälern kaum, also fast bloss aus Zeugnissen abgeleiteter Art bekannt, und ihr Charakter bestand überhaupt mehr in der Erhaltung der vorhergehenden Bildungsperiode, als in einem Fortschritte der nationalen Bildung; der eigentliche Träger des mittelalterlichen Geistes ist die höfische Poesie. Sie ist der litterarische Ausdruck jener Bildung, die sich seit der Aufnahme des Christentums und seit der Gründung des fränkischen Weltreiches sehr langsam und durch mannigfache Übergänge hindurch erst im 11. und 12. Jahrhundert zu einer nach Form und Inhalt eigenartigen, in sich selber abgerundeten Bildung vollendete. Was ihr vorausgeht, sind in erster Linie die Bemühungen[415] der christlichen Apostel, Missionäre, Kleriker und Mönche um eine bloss auf den Umfang der christlichen Religion stehende Litteratur, deren bedeutendste Denkmäler die christlichen Epen Heliand und des Otfried sind; sodann die Bemühungen Karls des Grossen und seiner Freunde um sofortige Wiedererweckung des Geistes und Inhaltes des klassischen Altertums, eine grosse, aber voreilige Renaissance, an welcher die deutsche Litteratur, wenige Spuren hinterlassend, vorübergegangen ist, während die Geschichtschreibung ihr Denkmäler von hoher Bedeutung verdankt; endlich das zähe Leben der nationalen Heldensage, die, nur vereinzelt, wie im Walthariliede, in die Litteratur eintritt, dagegen im Volke sich dauernd erhält und auf die Zeit wartet, wo günstigere Verhältnisse sie von neuem in den Kreis nationaler Bildung einführen werden.

Diese Verhältnisse erscheinen in der geistigen Ausbildung des höfischen Rittertums, welcher natürlich die staatliche Bildung des Lehnsstaates vorausgegangen sein musste, bevor eine Blüte des geistigen und litterarischen Lebens daraus hervorgehen konnte. Und wirklich knüpft sich die höfische Dichtung nur mit schwachen Fäden an die vorhergehenden Bildungen an; sie erscheint schnell und als etwas Neues, als eine Ausstrahlung des höfisch-konventionellen Lebens, durchaus ein Produkt der Zeitbildung, mit ihr kommend und verschwindend. Ihr unmittelbar voraus und das 11. Jahrhundert füllend, gehen Versuche geistlicher Dichter, den nahenden weltlichen Geist des Rittertums neuerdings in das jetzt sich ebenfalls erneuernde geistlich-kirchliche Leben zu bannen.

Die höfische Dichtung ist wie der Stand und die Gesellschaft, von welcher sie getragen wird, eine allgemein europäische Erscheinung; Anteil an ihr nehmen nur diejenigen Völker und Sprachen, welche aus dem Schosse des fränkischen Reiches hervorwachsen; die skandinavischen Völker besitzen daher keine höfische Litteratur. Die höfischen Weltlitteraturen sind die südfranzösische oder provenzalische, deren Bereich sich nach Nordspanien und über ganz Italien erstreckt, die nordfranzösische, besonders von den Normannen getragen und durch sie auch in England zur Herrschaft erhoben, und die deutsche, deren Sprache man die mittelhochdeutsche nennt. In Südfrankreich erwächst die höfische Bildung und Dichtung; etwa ein Menschenalter später tritt sie in Nordfrankreich und wieder nach einem Menschenalter in Deutschland auf. Kenntnis der französischen Sprache gehörte bei dem sonstigen Mangel an jeglicher wissenschaftlichen Bildung zur guten Erziehung des deutschen Ritters. Die Kreuzzüge sind Unternehmungen des europäischen Gesamtrittertums, und im allgemeinen weisen sämtliche der Litteraturen nach Inhalt und Formi dieselben Erscheinungen auf.

Daneben aber wirkt jede dieser Litteraturen auch national, zumal die deutsche, deren Gebiet zugleich staatlich geeint war. Hatten einst alle Freien zusammen die Reichspflichten, die Reichsrechte und die Reichsinteressen vertreten, so war jetzt der weitaus grössere Teil der Nation, alle diejenigen, die im Schweisse ihres Angesichtes auf Acker und Weide ihr und ihrer Herren Brot verdienten, von den Reichsinteressen abgelöst. Der thüringische, fränkische, schwäbische Bauer fühlte sich in erster Linie nicht mehr als Deutscher, sondern als Thüringer, Franke, Schwabe. Seinen Anteil weckte wohl, was in seinem engeren Umkreise geschah; an der Centralgewalt des Reiches und an dem, was davon ausging, hing er bloss durch Vermittelung[416] des Herrn. Die Gesamtheit der Herren, der Ritterstand, vertrat von Rechts wegen die Nation: seine Dichtung ist die nationale, seine Sprache die nationale. Bei ihm geht das landschaftliche Leben im grossen Gesamtleben auf, seine Dichtungen gehören der ganzen Nation an, werden in diesem Sinne geschaffen und aufgenommen. Auch die Person des Dichters ist national, und die Bezüge zu derjenigen Landschaft, die ihn geboren und erzogen hat, sind stets sehr untergeordneter Natur. Sie selber und ihre Zeitgenossen haben es nicht für nötig erachtet, ihre engere Heimat aufzuzeichnen.

Auch darin sind die höfischen Dichter national, dass sie mit verschwindenden Ausnahmen kaiserlich und nicht päpstlich gesinnt sind; ihr Auge schaut nach dem Königshofe, in dem auch ihr gesellschaftliches Leben seine höchste Ausbildung erhalten hat. Ja, man findet bei ihnen schon die Keime einer patriotischen Poesie im engeren Sinne, wie sie der altepischen Poesie durchaus unbekannt war und deren weitere Ausbildung noch Jahrhunderte auf sich warten lässt. Dahin gehört das Walthersche Lied:


Ich hân lande vil gesehen

unde nam der besten gerne war;

übel müeze mir geschehen,

kunde ich ie mîn herze bringen dar,

daz im wol gefallen

wolde fremeder site.

nû waz hulfe mich, ob ich unrehte strite?

tiusche zuht gât vor in allen!

Tiusche man sint wol gezogen,

rehte als engel sint diu wîp getân,

Swer si schildet, derst betrogen,

ich entkan sîn anders niht verstân.

Tugent und reine minne,

swer die suochen wil;

der sol komen in unser lant: da ist wünne vil:

lange müeze ich leben dar inne!


Mit der Eigenschaft der höfischen Dichtung als Nationallitteratur hängt die bedeutende Zahl wahrhaft grosser Dichter aus dieser Zeit zusammen; ie Vereinzelung der Litteratur nach landschaftlichen Stämmen, welche in folgenden Jahrhunderten eintritt, lässt grosse, Herrschaft besitzende Talente kaum aufkommen. Die Epik nennt die drei Namen Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Strassburg, die Lyrik Walther von der Vogelweide und Nithart von Rüwental.

Die höfische Periode bereichert zum ersten Male die deutsche Dichtung mit der Lyrik. Überall auf indogermanischem Boden tritt die Lyrik, die Dichtung des subjektiven Gefühles, erst auf, wenn das Epos sich vollendet hat. Lyrik wäre der deutschen Dichtung auch ohne das Christentum zugekommen; doch hat dieses der Zeitigung der Lyrik ohne Zweifel Vorschub geleistet. Zur Zeit der Christianisierung Deutschlands gab es schon eine reiche griechische und lateinische christliche Lyrik; die Kirche brachte dieselbe mit, wo sie hinkam; zu den ersten altdeutschen Denkmälern zählt eine Interlinearversion der Ambrosianischen Hymnen. Otfried soll seine vierzeilige Reimstrophe der lateinischen Hymnenpoesie entnommen haben, und die Geschichte der Hymnologie zählt aus dem karolingischen Zeitalter eine ganze Anzahl deutscher Dichter auf: Notker Balbulus, Tutilo und Ratpert aus St. Gallen, Walafrid Strabo und Hermann Contractus aus der Reichenau, Rabanus Maurus; sogar Karl der Grosse wird als Verfasser des Veni creator spiritus genannt. Auch religiöser Volksgesang in deutscher Sprache muss schon früh in Deutschland aufgekommen sein, hat sich aber der lateinischen Kirchenpoesie gegenüber immer nur mühsam behauptet. Über die Entstehung weltlicher Lyrik sind wir[417] nur wenig unterrichtet; gewiss war eine solche vorhanden, bevor die Lyrik der Höfe ins Leben trat; das Ludwigslied und anderes gewährt spärlichen Einblick. Neben einer älteren volksmässigen Lyrik war es dann die provenzalische Hoflyrik der Troubadours, welche den nachhaltigen Anstoss zur Entstehung und Ausbildung der höfisch-deutschen Lyrik gab; die provenzalische Lyrik ist die Mutter der deutschen.

Die höfische Lyrik steht in engster Beziehung zur Minne und zum Frauendienst, ihre Ausübung war ein Teil, eine Seite des Frauendienstes; zwar kennt auch die Epik Minne und Frauendienst, aber als dichterisches fremdes Objekt; mit seinem Liede steht der Minnesänger thatsächlich im Dienste seiner Dame. Dabei lässt sich erwarten, dass die konventionelle Haltung des höfischen Wesens überhaupt und des Frauendienstes insbesondere auch in der Lyrik mitspielt und diese eintönig, nach einer gewissen Schablone heraus gearbeitet macht; das Standesbewusstsein war eine Schranke des Gemütslebens geworden, daher auch wohl der Umstand, dass es so wenig wahrhaft grosse Namen unter den Lyrikern dieser Zeit giebt, ausser dem unbestrittenen Walther nur Nithart.

Die höfische Dichtung ist ferner wesentlich Kunstdichtung. Das zeigt sich darin, dass sie, wenige Dichtungen ausgenommen, an bestimmten einzelnen Dichtern hängt, welche ihre bewusste Kunst zwar nicht in eigentlichen Sängerschulen lernten, aber doch, wenn nicht in persönlichem Umgange mit Meistern, an den lebenden Vorbildern älterer und erfahrener Dichter: in Österreich hat Walther singen und sagen gelernt; darin ferner, dass neben diejenige Art der Dichtung, welche nach alter Übung gesungen wird, jetzt eine bloss gesagte tritt; dass das Epos meist in der Form der Epopöe erscheint, in ausgeführten, umfangreichen epischen Gebilden, die von vornherein ihrer ganzen Anlage nach nicht mehr von Mund zu Mund gehen können und deren Schöpfung ohne ein bedeutendes Mass architektonischer Durcharbeitung nicht möglich ist; dass in der Epik wie noch mehr in der Lyrik eine sehr komplizierte, ja schon früh ans Gekünstelte grenzende technische Kunstthätigkeit und Kunstfertigkeit zu Tage tritt; dass jetzt die Einfügung einer leitenden sittlichen Idee in der Dichtung, wie bei den Nibelungen und im Parzifal, möglich und thatsächlich wird; dass überhaupt jetzt die altepische objektive Poesie einer durch und durch vom Subjekt getragenen Dichtung Platz macht. Es wird kaum je auszumachen sein, wie diese Kunstthätigkeit eigentlich zustande kam; jedenfalls hängt sie zusammen mit dem im ganzen Leben und Weben des höfischen Standes sich offenbarenden Triebe zu höher gesteigerter Lebensthätigkeit. Der Ritter war und fühlte sich als der Herr der Zeit, der Welt; seine Lebensstellung, sein Reichtum, seine feinere Sitte, seine; Weltbildung, sein weiter Blick, seine Abwendung von allem Erwerb durch der Hände Arbeit riefen eine gesteigerte Kraftäusserung hervor, die in allen Beziehungen sich nicht zufrieden gab, bis sie das Höchste geleistet hatte. Damit hängt zusammen, dass diese Dichtung sich nicht über ein halbes Jahrhundert auf ihrer Höhe erhält, ihre Blüte dauert für Deutschland etwa von 1190 bis 1240. Alle grossen höfischen Dichter sind Zeitgenossen gewesen.

Was die besonderen Dichtungsarten der höfischen Periode betrifft, so begegnet man zuerst dem nationalen Volksepos. So zerstörend hatte der Eifer der Geistlichkeit doch nicht gewirkt, dass jetzt schon alle epischen[418] Volkserinnerungen vernichtet gewesen wären. Noch in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts hatte der St. Galler Mönch Ekkehart das Lied von Walther und Hiltgunt gedichtet, lateinisch und nach Vergils Vorbilde, aber nicht allein aus einem der Heldensage entnommenen Stoff, sondern zugleich in der Frische der Auffassung, der männlichen Stärke und der zarten Innigkeit durchaus deutsch. Wo freilich der St. Galler Mönch die Sage her hatte, wissen wir so wenig, als wir die Quellen des Nibelungenliedes mit irgend welcher Sicherheit nachweisen können; man vermutet, dass ein verlorenes lateinisches Gedicht eines gewissen Konrad, Schreibers des Bischofs Pilgerim von Passau, und lebende deutsche Heldenlieder dem höfischen Epos von den Nibelungen zu Grunde gelegen haben. Denn dem höfischen Stande hat der Dichter des Nibelungenliedes angehört; er ist mit der Bildung des höfischen Standes wie mit der poetischen Technik desselben enge vertraut, wenngleich seine Liebe und Teilnahme mehr dem kräftigeren Heldentume der Vorfahren gilt. Das Nibelungenlied sowohl als die übrigen Dichtungen der nationalen Heldensage, Gudrun, Rosengärten, Hugdietrich, Wolfdietrich und andere, sind bloss Eigentum der deutschen Bildung; die Franzosen, Normannen nicht ausgenommen, hatten mit dem Verluste ihrer germanischen Volkssprachen längst auch ihr germanisches Epos eingebüsst.

Tiefer aber als die genannten Dichtungen wurzelte in der Liebe und Gunst der deutschen Höfe und ihrer Gesellschaft das neue höfische Kunstepos. In ihm sind die reichsten Schätze des geistigen Lebens jener Zeit niedergelegt, in ihm gipfelt die romantisch-höfische Poesie. Es ist das Epos des Rittertums überhaupt; in ihm sind die Ideale, die Ehre, Zucht, der Frauendienst, aber auch die Verirrungen des Rittertums wie nirgends anders zu finden. Sein Ursprung ist französisch.

Die Bewohner Frankreichs besassen seit Jahrhunderten kein eigenes Nationalepos mehr. Von der römischen Kultur war das gallische Nationalepos, das so gut als das germanische einst existiert haben muss, verdrängt worden, und auch den germanischen Einwanderern, den Franken, Goten, Burgundern war es nicht gelungen, ihre Stammsagen auf diesem Boden festzuhalten. So war also den Franzosen kein anderes Epos mehr vorhanden als das, welches ihnen die gelehrte Litteratur der Alten bot: die trojanische Sage, besonders was die Äneide Vergils daraus gemacht, und ein geschichtlicher Held, dessen Gestalt schon fast zu seinen Lebzeiten die Sage zu umspinnen begonnen hatte, Alexander. Das konnte eine Quelle werden für das romantische Epos der Franzosen, aber eine schnell auszubeutende. Und die Freude an abenteuerlichen erzählenden Gedichten, an Aventüren, war mächtig erstarkt, seitdem sich die Normannen auf französischem Gebiete niedergelassen, daselbst ihre Sprache und damit ihre heimatlich germanische Sage, aber keineswegs ihre Lust am epischen Gesange verloren hatten. Nun hatte es sich getroffen, dass gerade zu der Zeit, wo die Normannen sich dem französischen Boden einverleibten, in Frankreich die Person des grossen Frankenkönigs Karl mehr und mehr sagenhafte Züge erhielt und dadurch den sangeslustigen normannischen Franzosen als vortrefflicher Held ihrer Dichtung sich anbot. Bald sammelte sich um ihn ein reicher Kranz von Aventüren; er erhielt eine Tafelrunde mit Paladinen, Roland vor allem, dann Milon, Haimon, Olivier, auch den Normannenherzog Richard findet man zuletzt in dieser Gesellschaft. Im Jahre 1066 erobern die Normannen England, richten sich dort[419] ein, und französische Epik ist von da an in England heimisch. Aber noch ist der Hunger dieser Sänger nach neuen Stoffen nicht gestillt; ein Mönch weist den Sängern durch eine von ihm zusammengestoppelte Chronik der altbritischen Könige den Weg zu einem längst verschollenen König Artus; sie greifen ihn auf, und bald windet sich um ihn ein ganzer Knäuel romantischen Aventürenstoffes. Während Artus selber mehr zurücktritt, treten seine Paladine ins hellere Licht: Parzifal, Iwein, Grawein, Erek, Tristan, Lanzelot; mit der Artussage verknüpft ein erfindungsreicher Kopf endlich die aus dem Orient stammende Gralsage.

Alle genannten französisch-normannischen Sagenstoffe, die antiken, karolingischen und artusischen, in vielen französischen Aventüren dargestellt und zu den idealen Trägern der höfischen Romantik geworden, werden nun von der deutschen höfischen Kunstdichtung aufgenommen, so zwar, dass der deutsche Dichter meist seine mündliche oder schriftliche Quelle nennt, dabei jedoch den Stoff frei nach Neigung und persönlicher Stimmung durch- und ausarbeitet. Die drei Klassiker des Kunstepos, Hartmann, Wolfram und Gottfried, haben alle Helden aus der Artussage zum Mittelpunkte ihrer Hauptdichtungen gemacht. Jeder der drei hat seine selbständige, charakteristische Stelle in der Litteraturgeschichte ihrer Zeit, und die späteren gehen meist einseitig auf den von den drei Meistern gebahnten Wegen. Im Sinne der Zeit, aber in unserer Sprache, hätte man jene französischen Stoffe die modernen nennen dürfen, im Gegensatze zu den einheimischen, als veraltet angesehenen Sagenstoffen.

Gehörte die grosse Mehrzahl der klassischen Dichtungen dieser Zeit, soweit sie Kunstepen sind, den genannten drei Stoffen an, so hat doch die fruchtbare, unerschöpfliche Phantasie noch sehr viel geliefert, was anderen Kreisen entnommen ist: Orientalische Geschichten von der reichsten Phantasie, hervorgerufen durch den infolge der Kreuzzüge vornehmlich erwachsenen Verkehr des Orients mit dem Occident; sodann religiöse Stoffe, besonders Legenden in grosser Zahl, unter denen sich oft uralte Überbleibsel germanischen Volksglaubens verstecken; endlich vereinzelte echte Sagenbildungen späteren Datums, die sich an Otto den Grossen, Heinrich den Löwen, Herzog Ernst von Schwaben anschliessen. Nur vereinzelt ist in der höfischen Epik das humoristische Element vertreten.

Die Lyrik ist gegenüber der antiken wie der modernen deutschen Lyrik noch sehr einfach. Weitaus die meisten Dichtungen dieser Gattung gehören dem Frauendienst an, sind Minnelieder, wobei die Empfindung sich sehr oft an Frühling und Winter knüpft, der Minne Leiden an den Winter, der Minne Lust an den Lenz. Neben dem Frauendienst ist aber die Lyrik auch in den Dienst der Religion getreten, mit Gesängen auf Maria, welche zugleich der Minne höchste Verklärung darstellt, auf das gelobte Land, auf die Dreieinigkeit. Und der bedeutendste Dichter unter diesen Nachtigallen, Walther, hat die reichste Fülle seines Gemütes in denjenigen Dichtungen ausgegossen, die dem Herrendienste, der Ehre und Zucht der Fürsten und des Vaterlandes dienten. Schon die Lyrik der Troubadours hat die dreifache Art des Frauen-, Gottes- und Herrendienstes gekannt, aber die deutsche Dichtung ist tiefer, ernster, gehaltvoller. Zumal aber besitzt sie eine Art der Minnelyrik, von der die Franzosen nichts wussten. Wie oben schon bemerkt, war das konventionelle Gebahren des höfischen Standes dem Dienste echter Lyrik nicht gerade günstig; schickte sich[420] auch viel in den Augen des Ritters, darunter manches, was sich besser nicht geschickt hätte, so schickte sich doch nicht alles, was gerade das Liebesleben der Dichtung bieten kann. Nicht vergebens ist uns aus dem höfischen Minnedienst der Ausdruck überkommen: den Hof machen, die Cour machen, wozu eben keine Leidenschaft gehört. Daher ist es nicht zu verwundern, wie sich zur Zeit der höchsten Blüte des Minnegesanges eine mehr das natürliche Leben anpackende Richtung kundthut, die sich mit Entschiedenheit von dem Zwange der höfischen Formen loslöst, »die nicht mehr konventionelle, weiche, zarte Empfindungen und weiche Klagen ausspricht, sondern mit frischem Humor und naiver Sinnlichkeit sich dem Leben und der Liebe ergiebt und in ihrer kecken und toleranten Lebensanschauung die natürlichsten Dinge als etwas durchaus nicht Anstössiges behandelt.« Man hat diese Richtung der Minnelyrik als höfische Dorfpoesie bezeichnet, im Gegensatz zu der strengeren höfischen Hofpoesie. Ihr genialer Hauptvertreter ist Nithart von Rüwental, ein Bayer, bei dem auch sofort ein landschaftliches Element stärker hervortritt. Seine Lieder haben am längsten von allen Liedern der Minnesänger ausgedauert.

Zum Teil im Zusammenhange mit den Stoffen der Lyrik steht ihre Form. Auch sie ist dreierlei Art: Leich, Lied oder Spruch. Der Leich wird gesungen, ist unstrophisch gebaut und bedarf daher einer durchgehenden musikalischen Komposition; er wurde am liebsten zum Ausdrucke religiöser Empfindung angewendet, erscheint übrigens ziemlich selten. Das Lied ist eine oder mehrere gleichgebaute dreiteilige Strophen; die Strophe ist nach einem auch aus Frankreich herübergenommenen architektonischen Gesetze stets dreiteilig, d.h. sie besteht aus zwei rhythmisch kongruenten Teilen, den beiden Stollen, und dem dazu auf irgend eine Art in rhythmischem Gegensatze stehenden Abgesange. Die Strophe wird gesungen und dient vornehmlich zum Ausdrucke der Minne. Der Spruch endlich, dreiteilig wie die Strophen, wird bloss gesprochen und ist stets einstrophisch. Er hat zumeist politischen oder sonst didaktischen Inhalt. Je weiter die Dichtung sich von ihrem Höhepunkte entfernt, desto mehr nimmt der Spruch an Ausdehnung seines Gebrauches zu.

Dass eine poetisch so bewegte Zeit, wie die der höfischen Dichtung es war, auch der didaktischen Dichtung gepflegt hat, wer sollte das nicht erwarten? Jede Blütezeit der Dichtung wird eine solche Fülle von Ideen, Empfindungen, Anschauungen, Erfahrungen neben dem in der eigentlichen Dichtung niedergelegten Stoffe vorrätig besitzen, dass sie, einmal eingewöhnt in die Kunst der Rede und des Beifalls der Menge versichert, gern ihren Einfluss benutzt, um das sittliche Resultat ihrer Arbeit in schönem Gewande vorzuführen. Unter den Produkten dieser Art steht Freidanks Bescheidenheit obenan.

Schnell, wie sie gekommen war, hört auch die höfische Litteratur mit der höfischen Ehre, Zucht und Tugend auf; wohl versuchen sich bis ins 14. Jahrhundert noch manche Liebhaber der Dichtkunst, der Bahn höfischer Poesie getreu zu bleiben; aber der lebendige Geist ist erloschen und macht schnell anderen Richtungen der Bildung Platz, die man unter dem Namen volkstümlich-bürgerliche Litteratur zusammen zu fassen pflegt. Götzinger, Deutsche Dichter, Einleitung zur fünften Auflage; Wackernagel, Litteraturgesch.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 415-421.
Lizenz:
Faksimiles:
415 | 416 | 417 | 418 | 419 | 420 | 421
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon