[872] Epische Dichtung (epische Poesie) ist diejenige Gattung der Poesie, in der das epische oder erzählende Element die Herrschaft besitzt. Das erzählende Element besteht in der Darlegung von Begebenheiten, d.h. von Vorgängen und Veränderungen der äußern wie der innern Welt, gleichviel, welcher Art die Ursachen dieser Veränderungen seien. Der Begriff der Begebenheit ist von dem des Ereignisses einerseits und von dem der Handlung und der Tat anderseits zu unterscheiden. Ereignis ist eine besonders in die Augen fallende Begebenheit, eine Begebenheit von eindringender Bedeutung; unter dem Begriff der Handlung verstehen wir dagegen eine Begebenheit, die aus dem Willen des Menschen entspringt, und Tat ist eine derartige Handlung von hervorragender Bedeutung. Wenn die e. D. auf die Darstellung von Begebenheiten angewiesen ist, so ist damit ausgedrückt, daß sie nicht, wie das Drama, nur oder überwiegend solche Vorgänge darstellen darf, deren Ursachen in dem menschlichen Willen gelegen sind (also Handlungen), sondern vielmehr Geschehnisse jeglicher Art, und daß Handlungen in dem eben angegebenen Sinne des Wortes nur einen Teil von diesen bilden. Der Unterschied des erzählenden und dramatischen Elements macht sich insbes. aber auch dadurch geltend, daß der Epiker nicht, wie der Dramatiker, das Wort an seine Phantasiegestalten abgibt, sondern selbst führt. Die Grundform der epischen Mitteilung bildet der Aussagesatz, nicht der Befehlssatz und der Gefühlssatz, die vielmehr im lyrischen Element zum Ausdruck kommen: so läßt sich auch die Grenzlinie zwischen dem epischen und dem lyrischen Element leicht feststellen. Anderseits steht dem erzählenden Aussagesatz der beschreibende Aussagesatz zur Seite, und dementsprechend ist das beschreibende Element der Poesie das dem erzählenden oder epischen Element nächst verwandte. In der Tat vermag die erzählende Dichtung der Schilderung der Objekte und Zustände einen breiten Raum zuzuweisen; und wie in jeder Gattung der Poesie ein Element das herrschende ist, die andern aber in bescheidener Form diesem herrschenden Element zur Seite treten dürfen, so kann auch in der epischen Dichtung neben dem erzählenden und beschreibenden Element das lyrische, das reflektierende und das dramatische Element innerhalb gewisser Grenzen Geltung gewinnen. Am ehesten beeinträchtigt wird das erzählende Element, wenn sich das dramatische einerseits oder das lyrische anderseits zu stark neben ihm geltend machen wollen. Der Ruhe des epischen Vortrags steht der aufgeregte Affekt des dramatischen Elements ebenso entgegen wie der mannigfaltige Wechsel lyrischer Stimmungen. Anderseits kann sich die ruhige Überlegung des reflektierenden Elements ohne Schaden (und fast in demselben Maße wie das beschreibende Element) mit der epischen Dichtung vereinigen. Wenn die in jedem einzelnen Falle verschiedene Mischung dieser poetischen Elemente für ein Werk charakteristisch ist, so ist es ebenso zweifellos, daß dasjenige epische Erzeugnis seinem Zweck am besten entspricht, in dem das erzählende Element unbedingt die Oberherrschaft bewahrt.
Schon aus der Tatsache, daß nicht Handlungen, sondern Begebenheiten den Inhalt der epischen Dichtung bilden, ergibt sich mit innerer Folgerichtigkeit, daß in ihr keine so strenge und begrenzte Einheit herrscht wie im Drama. Das Drama schildert einen in sich geschlossenen Komplex von Willenshandlungen; die e. D., welche die Rückwirkung der Außenwelt auf die Innenwelt und jegliche Art von Geschehnissen, sie, die nicht nur aufgeregte, zur Entscheidung hindrängende Willensimpulse, sondern auch die allmählicher und sanfter sich vollziehenden psychologischen Veränderungen zur Anschauung bringen kann, sie darf den Kreis ihrer Darstellungen weiter ausdehnen und muß es tun, wenn sie alle Wirkungen erschöpfen will, deren sie fähig ist. Aber eine Einheit verlangt auch die e. D.: es müssen sich die von ihr dargestellten Geschehnisse zu einem organischen Ganzen runden; aber sie darf[872] sich, indem sie auch das minder Entscheidende mit heranzieht, mit Recht in »epischer Breite« ergehen; sie darf auch den Episoden einen größern Spielraum gewähren als das Drama. Sie unterscheidet sich von diesem insbes. aber auch durch den Zuschnitt und Aufbau der Handlung: während die dramatische Handlung in der Regel die (nach Goethes Ausdruck) vorwärtsschreitenden Motive anwendet, kann die e. D. nicht nur reichlich retardieren, sondern sich auch der rückwärtsschreitenden und der zurückgreifenden Motive bedienen; sie folgt in ihrer Darstellung nicht dem chronologischen Verlauf, sondern beginnt nicht selten mit einem vorgerückten Zeitpunkte der Handlung und trägt das Vorausliegende bei geeigneter Gelegenheit in der Erzählung nach. Durch die vorläufige Verschweigung wichtiger Tatsachen der Vorgeschichte erzielt die e. D. häufig die sogen. epische oder novellistische Spannung.
Die Stoffgebiete der epischen Dichtung sind, wie das schon aus dem Wesen des erzählenden Elements hervorgeht, so gut wie unbegrenzt, und dies um so mehr, als ja auch die andern poetischen Elemente zu gelegentlichem Ersatz herangezogen werden können. Während das Drama durch die Bedingungen der Bühne und den knappen Zuschnitt der in der Hauptsache auf Willensvorgänge beschränkten Handlung räumlich und zeitlich begrenzt ist, kann dagegen der epische Dichter alle Gebiete des Lebens und das unermeßliche Reich der Phantasie durch die Macht seines Wortes erschließen. Eine Hauptunterscheidung epischer Dichtungen wird, wie beim Drama, durch die Sonderung ernster (tragischer) und komischer Werke gewonnen. Weiterhin ist von Bedeutung der Unterschied des Stiles, an den sich dann die Unterschiede von Vers- und Prosadichtung anschließen. Das Epos (Volksepos, künstliches Volksepos, romantisches Epos, idyllisches Epos, komisches Epos) bedient sich stets des Verses, der Roman und zumeist auch die Novelle in der Regel der Prosa; die Erzählung, im engern Sinne des Wortes, unter der eine e. D. von wenig ausgeprägtem Charakter zu verstehen ist, erscheint sowohl in Versen als in Prosa. Ebenso wie das Epos wurzeln in den Anschauungen des primitiven und volkstümlichen Bewußtseins das Märchen und die Fabel, ersteres in der Regel in Prosa, letztere zumeist in Versen auftretend; dem Volksmärchen stellt sich das Kunstmärchen zur Seite, das gelegentlich (wie z. B. bei Brentano) parodistisch-satirische Nebenwirkungen erstrebt. In der Fabel drängt sich schon im Altertum neben dem erzählenden Element das reflektierende in den Vordergrund. In der Ballade sind, nach Goethes treffendem Worte, die Elemente der Poesie noch wie in einem Urei vereint; das erzählende, reflektierende, dramatische und lyrische Element kommen nebeneinander, doch in den verschiedenen Werken in ganz verschiedenen Mischungen, zum Ausdruck. Nur ist in neuerer Zeit das reflektierende Element in der Ballade meist zurückgetreten, immerhin aber bei einem der hervorragendsten Vertreter, bei Schiller, stark betont. Vgl. die Sonderartikel: Epos, Roman etc.