Mysterien [2]

[276] Mysterien, mystères oder auch miracles, nannten die romanischen Völker des Mittelalters geistliche Schauspiele, von den Moralitäten (s. d.) unterschieden, insofern ihr Stoff aus dem Leiden und Sterben Jesu Christi oder großer Heiligen genommen wurde. Die den deutschen Oster- und Passionsspielen entsprechenden M. kamen auf, indem die zur Passionszeit übliche Vorlesung der Leidensgeschichte in der Kirche allmälig dramatisirt wurde. Man vertheilte die Rollen, das Erlernte wurde frei vorgetragen, der Vortragende zog ein seiner Rolle entsprechendes Kostüm an; man machte Einschiebsel von Reden, Gesangstücken und neuen Personen, Teufeln u. Engeln, spielte auch im Freien; eine lächerliche Person, namentlich Judas Iskarioth, vertrat das volksthümliche Element in mehr oder minder derbkomischer oder burlesker Weise, die anfangs lat. Sprache mußte der deutschen weichen u.s.f. Schon unter Kaiser Otto I. (936–73) dichtete Hroswitha, die Nonne von Gandersheim, geistliche Schauspiele, von Wernher von Tegernsee ist ein ludus paschalis de adventu et interitu Christi vorhanden; die Wunder der hl. Katharina, das Stück vom Leiden Jesu Christi, welches Hoffmann herausgab, ist noch meist lateinisch, das Osterspiel: Marienklage, das Alsfelder Passionsspiel u.a. sind berühmte M. Schon als Theodorich Schernberg das Märchen von der Päpstin Johanna als das »Spiel von Frau Jutten« behandelte (um 1480), begannen Uebersetzungen von Terenz u. Plautus, seit 1520 auch aus dem Spanischen; noch 1571 wurde Holzwarths Saul aufgeführt, ein Stück von 10 Akten mit 600 Schauspielern u. bis heute haben sich bei den Basken, in der Bretagne, im Tyrol, namentlich auch im Oberammergau in Oberbayern Reste der M. erhalten. Vgl. Moneʼs Schauspiele des Mittelalters (1816); Devrient: Das Passionsspiel im Oberammergau (Leipzig 1851).

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 276.
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