Auge [1]

[383] Auge, das Sehorgan der höher organisierten Tiere. Bei den niederen Tieren hat sich die Lichtwahrnehmung noch nicht auf ein besonderes Organ konzentriert, sie ist noch eine allgemeine Fähigkeit der Haut. Bei der Ausbildung des Sehorgans hat die Natur zwei Wege versucht. Soll nämlich das Sehorgan der Orientierung im Raum dienen, so genügt es nicht, daß allgemein die Eindrücke von Licht und Dunkel zur Empfindung gelangen, vielmehr muß jedem von andrer Richtung kommenden Strahlenbüschel auch eine andre Stelle des wahrnehmenden Organs entsprechen, das Auge muß ein Bild der Außenwelt erzeugen, in dem jedem leuchtenden Punkte außerhalb, der sein Licht zum Auge sendet, ein Bildpunkt im Sehorgan entspricht. In dem Facettenauge der Insekten ist dieser Zweck dadurch erreicht, daß die einzelnen lichtempfindenden Nervenfäserchen ihr Licht durch besondere kegelförmige Gallertstäbchen erhalten, die das kugelförmig gewölbte Sehorgan in radialer Stellung bedecken, gegeneinander durch undurchsichtige Pigmentschichten geschieden. Da die Zahl dieser Facetten zum Teil bis 25000 beträgt, so zerfällt das Bild des ganzen Gesichtsfeldes in ein aus ebensoviel Teilen bestehendes Mosaik. Bei den Wirbeltieren und einigen wirbellosen finden wir eine höhere Stufe der Organisation. Das Auge ist eine Camera obscura, in der durch ein optisches System, dessen Hauptteil eine lichtbrechende Linse ist, auf der Ausbreitungsfläche des Sehnerven ein reelles Bild der Außenwelt entworfen wird.

Beistehende Figur zeigt die Anordnung der einzelnen Teile des Augapfels. Das eindringende Licht durchdringt der Reihe nach: 1. die Hornhaut F (lat. cornea), den durchsichtigen Teil der im übrigen undurchsichtigen weißen harten Haut J (tunica sclerotica); 2. die mit wässeriger Flüssigkeit (humor aqueus) gefüllte vordere Augkammer; 3. die von der undurchsichtigen Regenbogenhaut (iris) J gelassene Oeffnung, das Sehloch (pupilla) P; 4. die Kristalllinse (lens crystallina) L, aus stark brechenden durchsichtigen Gallertschichten bestehend; 5. die Glasfeuchtigkeit (humor vitreus) Gl, und fällt auf die Netzhaut, wo sich das reelle Bild der Außenwelt entwirft. Die Netzhaut (retina) Ν bildet die Ausbreitung des von hinten in den Augapfel eintretenden Sehnerven (nervus opticus) 5. Obgleich außerordentlich dünn (0,1–0,2 mm), zerfällt die Netzhaut in eine größere Anzahl einzelner Schichten, deren wichtigste die Stäbchenschicht ist. Die Außenseite der Stäbchen enthält den Sehpurpur, eine ungemein lichtempfindliche Substanz, die durch das Licht zerstört wird und aus der unter der Netzhaut liegenden Aderhaut (tunica choroidea) den Stoff zu ihrer Erneuerung erhält. Für die mathematische Untersuchung des Strahlengangs im Auge substituiert man den verschiedenen brechenden Substanzen eine einzige von Gestalt einer Konvexlinse (Listings reduziertes Auge).

Damit Gegenstände deutliche Bilder auf der Netzhaut entwerfen, müssen sie sich in Sehweite und in der Verlängerung der Augachse befinden. Sehweite oder Entfernung des deutlichen Sehens heißt diejenige Entfernung eines Gegenstandes vom Auge, für die das reelle Netzhautbild scharf wird (s. Linse), sie beträgt bei normalem Auge 25 cm. Gegenstände außerhalb oder innerhalb Sehweite geben, ohne besondere Anstrengung des Sehenden, undeutliche Bilder, jedem Punkt des Gegenstandes entspricht, statt eines Punktes, im Bilde ein Zerstreuungskreis. Die Fähigkeit, durch die Muskeln des Auges die Gestalt der Kristallinse derart zu ändern, daß auch Gegenstände, die nicht in Sehweite sind, deutliche Netzhautbilder erzeugen, heißt Akkommodationsvermögen. Die kleinste Entfernung, für die Akkommodation möglich ist (normal etwa 1015 cm), heißt Nahpunkt, die größte (normal unendlich) Fernpunkt.[383] Je nachdem die Sehweite kleiner oder größer als normal in, heißt das Auge kurzsichtig, myopisch, brachymetropisch, oder fernsichtig, hypermetropisch. Im Alter werden die Augen presbyopisch, indem infolge kleinen Akkommodationsvermögens der Nahpunkt über 20 cm liegt. Astigmatische Augen haben gar keine genau bestimmte Sehweite, infolge verschiedener Krümmung der Kristallinse in vertikaler oder horizontaler Richtung. Alle diese Refraktionsanomalien der Augen können durch passende Brillen ausgeglichen werden; s. Brille.

Nicht das ganze auf die Netzhaut gelangende verkehrte Bild der Außenwelt wird vom Sehnerv mit gleicher Schärfe empfunden und zum Bewußtsein gebracht; vielmehr machen die von der Mitte der Netzhaut entfernteren Teile des Bildes nur einen verschwommenen Eindruck, ja eine bestimmte Stelle der Netzhaut (blinder Fleck) vermittelt gar keinen Lichtreiz zum Bewußtsein. Die feinste Wahrnehmung konzentriert sich auf den gelben Fleck, besonders das in demselben befindliche Netzhautgrübchen. Die von dem Netzhautgrübchen durch die Mitte der Pupille gezogene gerade Linie heißt die Augachse. Bei genauer Betrachtung eines Gegenstandes richtet sich die Sehachse des Auges nach demselben, so daß sein Bild auf den gelben Fleck fällt.

Das Sehen mit zwei Augen, binokulares Sehen, macht die Gesichtsempfindungen gleichsam aus zweidimensionalen zu dreidimensionalen Wahrnehmungen. Indem beide Sehachsen sich nach demselben Punkt der Außenwelt richten, ist der Richtungsunterschied dieser Achsen je nach der Entfernung des Gegenstandes verschieden; dieser Richtungsunterschied heißt der Gesichtswinkel. Er ist bei unendlich entfernten Gegenständen null und bei nahen Gegenständen mit der Entfernung stark veränderlich. Die Entfernungsschätzung ist daher für die letzteren leichter als für weit entfernte. Für die unwillkürliche Distanzbestimmung der letzteren dienen noch andre Mittel, so der Sehwinkel, unter welchem dem einzelnen Auge Gegenstände bekannter Größe (Menschen, Bäume, Häuser) erscheinen und die sogenannte Luftperspektive, der bläuliche Duft, in den eine ferne Landschaft gehüllt erscheint. Für nahe Gegenstände hat der Einäugige einen Maßstab ihrer Entfernung in der Art und Größe der Akkommodation, die er bei der Betrachtung betätigen muß. Akkommodationstäuschungen erzeugt das Stereoskop, welches das Auge verleitet, ein Bild statt zweier zu sehen. Bei dem Versuch von Pater Scheiner (1652) sieht man umgekehrt durch ein Kartenblatt mit zwei nahen Löchern statt eines Bildes eines kleinen Gegenstandes deren zwei.


Literatur: [1] Leuckart, Organologie des Auges, in Gräfe und Sämisch, Handbuch der gesamten Augenheilkunde, Leipzig 1875. – [2] Carrière, Die Sehorgane der Tiere, München 1885. – [3] v. Helmholtz, H., Handb. der physiologischen Optik, 2. Aufl., Hamburg und Leipzig 1892. – [4] Listing, Beitrag zur physiol. Optik, Göttingen 1845. – [5] Ders., Wagners Handwörterbuch der Physiologie, 1851, Bd. 4, S. 451. – [6] Wüllner, A., Einleitung in die Dioptrik des Auges, Leipzig 1866. – [7] Matthiessen, L., Grundriß der Dioptrik geschichteter Linsensysteme, Leipzig 1877. – [8] Fick, A., Dioptrik des Auges, in Hermanns Handbuch der Physiologie, Bd. 3. – [9] Czapski, Theorie der optischen Instrumente, Breslau 1893, S. 187 u. ff.

Aug. Schmidt.


Auge, in der Technik in sehr verschiedener Bedeutung gebrauchte Bezeichnung: in der Baukunst der innerste Teil der Schnecke bei dem ionischen Kapital, der in eine knopfartige Form endet; bei Werkzeugen in der Regel s.v.w. Oehr, Oese; in der Müllerei zentrische Oeffnung im oberen Mühlstein eines Mühlsteinpaares, durch die das Mehlgut den Zutritt zu der Mahlfläche findet (s. Mühlsteine); in der Metallurgie Abstichöffnung im Ofen, s. Oefen, metallurgische. – Vgl. a. Erz, Schriftgießerei, Weberei.

Auge [1]
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1904., S. 383-384.
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