[713] Berufsgenossenschaften, im weiteren Sinne: Vereinigungen von Angehörigen desselben Berufs oder derselben Berufsgruppen zur Wahrung und Förderung ihrer besonderen Interessen. Im engeren Sinne: Unternehmerverbände, durch die in Deutschland nach Maßgabe der Unfallversicherungsgesetze vom 30. Juni 1900 die Versicherung gegen die Folgen der bei dem Betriebe sich ereignenden Unfälle erfolgt (s.a. Unfallversicherung).
Für Industrie und Gewerbe sind die Unternehmer der versicherten Betriebe nach Gewerbszweigen (Industriegruppen oder Betriebsarten), z.B. Eisen-, Holz-, Textilindustrie, Baugewerbe u.s.w. für den ganzen Umfang des Reiches oder für örtlich begrenzte Wirtschaftsgebiete zu 66 Berufsgenossenschaften vereinigt; für Land- und Forstwirtschaft dagegen wurden 48 Berufsgenossenschaften nach örtlichen Bezirken gebildet. Die Berufsgenossenschaften unterstehen der Aufsicht des Reichsversicherungsamts und zum kleineren Teil von besonderen Landesversicherungsämtern, deren Errichtung für solche Berufsgenossenschaften zugelassen ist, deren Bezirk sich nicht über das Gebiet eines Bundesstaats erstreckt. Ein alphabetisches Verzeichnis der Gewerbszweige und ihrer Zuteilung zu den Berufsgenossenschaften enthält die Nr. 7 der Amtlichen Nachrichten des Reichsversicherungsamts (Berlin) von 1903. Die Berufsgenossenschaften können unter ihrem Namen Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, vor Gericht klagen und verklagt werden, sind also selbständig rechtsfähig. Für die Verbindlichkeiten der Berufsgenossenschaften haftet den Gläubigern derselben nur das Genossenschaftsvermögen. Sofern eine Berufsgenossenschaft zur Erfüllung der ihr gesetzlich auferlegten Verpflichtungen leistungsunfähig werden sollte, haftet für ihre Verbindlichkeiten das Reich, bei den einem Landesversicherungsamt unterteilten Berufsgenossenschaften der betreffende Bundesstaat. Zur Sicherung ihrer Leistungsfähigkeit haben die Berufsgenossenschaften einen Reservefonds anzusammeln, über dessen Höhe und die Art und Weise keiner Aufbringung die Gesetze eingehende Vorschriften enthalten. Die Berufsgenossenschaften haben bei Erledigung ihrer gesetzlich bestimmten Angelegenheiten weitgehende Selbstverwaltungsrechte. Die Verwaltung erfolgt nach Maßgabe eines von ihnen aufgehellten und vom Reichsversicherungsamt oder dem zuständigen Landesversicherungsamt genehmigten Statuts. Die Berufsgenossenschaften können nach statutarischer Bestimmung in örtlich abgegrenzte Sektionen eingeteilt werden, die mit bestimmten selbständigen Befugnissen ausgestattet sind. Organe der Berufsgenossenschaft sind der Genossenschaftsvorstand, die Genossenschaftsversammlung, der Sektionsvorstand und die Sektionsversammlung. Außerdem kommen noch besondere Kommissionen oder Ausschüsse (Entschädigungsfeststellungsausschuß u.s.w.) vor, nach dem Unfallversicherungsgesetz für Land- und Forstwirtschaft auch ein Genossenschaftsausschuß zur Entscheidung über Beschwerden. Als örtliche Genossenschaftsorgane können Vertrauensmänner eingesetzt werden. Die Mitglieder der Vorstände und die Vertrauensmänner verwalten ihr Amt als unentgeltliches Ehrenamt, sofern nicht durch das Statut eine Entschädigung für den durch Wahrnehmung der Genossenschaftsgeschäfte ihnen erwachsenden Zeitverlust bestimmt wird. Der Vorstand der Genossenschaft kann unbeschadet seiner eignen Verantwortung bestimmte Geschäfte besoldeten Geschäftsführern übertragen. Nähere Vorschriften hierüber erläßt das Reichsversicherungsamt. Die Ueberwachung der Betriebe erfolgt durch technische Aufsichtsbeamte hinsichtlich der Befolgung der zur Verhütung von Unfällen erlassenen Vorschriften (s. unten) und durch Rechnungsbeamte hinsichtlich der Arbeiter- und Lohnnachweisungen. Die Betriebsunternehmer sind verpflichtet, den als solchen legitimierten technischen Aufsichtsbeamten der beteiligten Genossenschaft auf Erfordern den Zutritt zu ihren Betriebsstätten während der Betriebszeit zu gestatten und den Rechnungsbeamten die in Betracht kommenden Bücher und Listen an Ort und Stelle zur Einsicht vorzulegen. Sie können hierzu von der unteren Verwaltungsbehörde durch Geldstrafen bis zu 300 ℳ. angehalten werden. Zur Sicherung des Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses und der sonstigen berechtigten Geschäftsinteressen sind besondere Vorschriften erlassen. Für die land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften können durch die Landesgesetzgebung abweichende Bestimmungen, namentlich auch hinsichtlich der Verwaltung und der Organe derselben getroffen werden. Der Tiefbauberufsgenossenschaft, den Baugewerksberufsgenossenschaften und der Seeberufsgenossenschaft sind für bestimmte Personen, Betriebe oder Arbeiten, z.B. für die Regie-(Eigen-)Bauarbeiten, Versicherungsanstalten angegliedert, deren Angelegenheiten nach Maßgabe eines besonderen Nebenstatuts verwaltet werden.
Die Berufsgenossenschaften haben bei Betriebsunfällen dem Verletzten oder seinen Hinterbliebenen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen Schadenersatz zu leisten, gegen dessen Feststellung durch die Organe der Genossenschaft Berufung an ein Schiedsgericht (in der Regel das örtlich zuständige »Schiedsgericht für Arbeiterversicherung«) stattfindet; gegen die Entscheidung desselben ist in den gesetzlich bestimmten Fällen Rekurs an das Reichsversicherungsamt oder das zuständige Landesversicherungsamt zulässig (s.a. Unfallversicherung). Die Mittel zur Deckung der Entschädigungsbeträge und der Verwaltungskosten werden durch Beiträge aufgebracht, die von den Mitgliedern der Berufsgenossenschaft entsprechend den Löhnen und Gehältern der Versicherten und der mit den Betrieben verbundenen Unfallgefahr jährlich[713] erhoben werden. Letztere wird ihrem Grade nach aus einem von der Genossenschaftsversammlung aufgestellten Gefahrentarif bestimmt. Für die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften gelten auch hier abweichende Bestimmungen, ebenso sind für die Seeberufsgenossenschaft und die Versicherungsanstalten besondere Bestimmungen vorgesehen. Die Genossenschaften sind befugt und können im Aufsichtswege angehalten werden, über die von ihren Mitgliedern zur Verhütung von Unfällen in ihren Betrieben zu treffenden Einrichtungen und Anordnungen und über das zu gleichem Zwecke von den Versicherten zu beobachtende Verhalten Vorschriften zu erlassen, auch können sie bei Zuwiderhandlungen Strafen verhängen (s. Unfallverhütung). Mit Genehmigung des Reichsversicherungsamts dürfen die Berufsgenossenschaften Heil- oder Genesungsanstalten aus ihren Mitteln errichten, ferner sind sie mit Genehmigung des Bundesrats berechtigt, Einrichtungen zu treffen a) zur Versicherung der Betriebsunternehmer und der ihnen in bezug auf Haftpflicht gleichgestellten Personen gegen Haftpflicht; b) zur Errichtung von Rentenzuschuß- und Pensionskassen für Betriebsbeamte sowie für die Mitglieder der Berufsgenossenschaft, die bei ihr versicherten Personen und die Beamten der Berufsgenossenschaft sowie für die Angehörigen dieser Personen. Soweit es sich um Haftpflichtansprüche aus der reichsgesetzlichen Unfallversicherung handelt, darf bei der Einrichtung unter a) nicht mehr als zwei Drittel durch Versicherung gedeckt werden.
Literatur: Laß und Klehmet, Grundriß der deutschen Arbeiterversicherung (Sonderabdruck aus dem Dammerschen Handbuch der Arbeiterwohlfahrt), Stuttgart 1903, S. 54 ff.; Dammer, Handbuch der Arbeiterwohlfahrt, Bd. 2, Stuttgart 1903, S. 210 ff.; Die Kommentare zu den Unfallversicherungsgesetzen; Götze-Schindler, Jahrbuch (früher Taschenkalender) der Arbeiterversicherung, Berlin, alljährlich neu erscheinend; »Die Berufsgenossenschaft« (Organ der Berufsgenossenschaften), Berlin, seit 1886; Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamts, Berlin, seit 1885.
Köhler.