Poesie

I.

[544] Ohne jeden Zweifel ist unser stimmungsvolles Wort dichten von lat. dictare herzuleiten, das schon bei den Römern außer der Bedeutung diktieren auch noch (besonders bei den Juristen) die von verfassen hatte. Das deutsche Lehnwort dichten wurde mehr und mehr auf die Abfassung poetischer Werke eingeschränkt. Während noch Otfried mit tihton sein Schreiben bezeichnete, im Gegensatze zu den alten gesungenen Liedern, wurde Gedicht schon im Mittelalter üblich für eine poetische Schöpfung, und im 16. Jahrhundert erscheint Dichter bald als Übersetzung von poeta, bald im Sinne von Schriftsteller, Autor.

Das Fremdwort Poet wurde erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch für die deutsch schreibenden Dichter üblich; vorher hatte man darunter nur einen griechischen oder lateinischen Poeten verstanden. Der Humanismus machte das Wort beinahe zu einem Titel; man wurde zu einem poeta ernannt, gekrönt; gekrönter Poet ist eine Lehnübersetzung von poeta laureatus. Aber der freidenkende Aventin legte dem Worte schon 1524 etwas von der höheren Weihe bei, die heute die Schaffenden mit ihrer Arbeit verbinden möchten: »Poet ist ein kriechisch Wort, ist in unser Sprach Schöpfer oder Macher, heißt einen, der etwas beschafft und aus nichtig (nichts) etwas macht, wie Gotts des Allmächtigen Art ist, in Beschaffung der Welt.«

Der spätere Kampf um den Ausdruck ist fast nur ein Kampf des Purismus. Da ist es nun interessant, wie der zu unrecht viel verspottete Zesen das Fremdwort zwar abschaffen will, aber mit Dichter, weil es jeden Schriftsteller bezeichnete, nicht zufrieden ist: »So folget auf den Reimenschmied (Pritschmeister) ein[544] Reimer, auf den Reimer ein Reimdichter, auf den Reimdichter ein Dichter und auf den Dichter endlich der vollkommene Dichtmeister, der den ewigen Preis allein davonträgt.«

Dichter ist jetzt bei uns zum Siege gelangt; es bezeichnet allgemein eine Art Gegensatz zu Schriftsteller, zu dem allgemeinen Berufstitel, dessen häßliche Bildung kaum mehr empfunden wird. Nicht jedermann wird auch bei Dichtkunst das Gefühl haben, ein häßliches Wort zu hören. Opitz sagte Poeterei (von poetria) und dachte dabei mehr an Poetik als an Poesie; Zesen übersetzt darum ganz gut mit: Dicht- und Reimkunst. Erst seit Gottsched (»Versuch einer kritischen Dichtkunst«, 1730) wird Dichtkunst üblich, zuerst für Poetik, dann leider auch für Poesie.

Das griechische Wort poiêsis ist international geworden und klingt mir, trotzdem es eigentlich die Mache bezeichnet, erfreulicher als der immer an Schweiß erinnernde deutsche Ausdruck Dichtkunst. Für die Zufallsgeschichte alles Bedeutungswandels scheint es mir ein gutes Beispiel zu sein, daß wir heute Sätze bilden können wie: »Die Poesie des ärztlichen Berufs kommt im Kampfe um eine gute ärztliche Praxis selten zum Bewußtsein«, daß aber Poesie und Praxis ursprünglich nur Nuancen des gleichen Begriffs waren, daß die Wortgeschichte dem Worte praktisch recht gut zur Bedeutung von poetisch hätte verhelfen können, und umgekehrt, man denke auch daran, daß die Römer von dem Grundworte, aus dem unser dichten gebildet worden ist, den international gewordenen Titel dictator geformt haben.

Überall bedeutet Poet oder Dichter einen Schriftsteller, der sich für seine Arbeiten einer gebundenen Form bedient; ganz neuerdings erst konnte man wieder darüber zu streiten anfangen, ob ein führender Geist wie Ibsen ein Dichter gewesen sei (man hört den neuen Gefühlston im Dichtertitel) oder nur ein großer Schriftsteller wie Voltaire, wie Swift.

II.

Es liegt auf der Hand, daß der Bedeutungswandel und die Geschichte der Bezeichnungen für Dichtkunst und Dichter uns[545] über das Wesen der Poesie nicht belehren können; sie stammen aus jüngerer historischer Zeit und verraten uns nichts über die Anfänge der Poesie. Über den Ursprung der Poesie und über die Zusammenhänge dieser Kunstgattung mit Musik und Tanz hat zum ersten Male Licht verbreitet Büchers prachtvolle Untersuchung über »Arbeit und Rhythmus«; ich kann zur Einführung meines Gedankens, daß nämlich die Poesie bei den Alten etwas ganz anderes war als bei uns, und daß gerade jetzt der Begriff der Poesie sich wieder vollständig wandelt, nichts Besseres tun, als die wichtigsten Ergebnisse aus Büchers Arbeit auszuschreiben1. Poesie und Musik werden ursprünglich niemals getrennt vorgefunden; keine Sprache baut ihre Wörter und Sätze von selbst rhythmisch; in die sog. gebundene Sprache ist der Rhythmus von außen hinzugekommen, die Poesie war an Körperbewegungen und deren einfache Rhythmik gebunden. Der Rhythmus der verschiedenen Arbeitsbewegungen stand fest; von Improvisatoren wurden dem Rhythmus Worte unterlegt, Worte, die sich gern auf Tagesbegebenheiten bezogen; und diese Worte konnten je nach Gelegenheit mehr einen dramatischen, einen epischen oder einen lyrischen Charakter annehmen. Den Wert so unterlegter Texte haben selbst praktische Männer der Religion von jeher eingesehen und benützt: mit Arbeitsliedern soll der Buddhismus in China eingeführt worden sein; Arius soll seine Lehre durch Schiffer-, Müller- und Fuhrmannslieder verbreitet haben; christliche Missionare sollen Sündenfall und Erlösung durch ein Refrainlied den indischen Kuli beigebracht haben; ich erinnere noch daran, daß auch in unsern Tagen die Heilsarmee ihre religiösen Empfindungen nach bekannten Melodien vorträgt. Bücher weist sehr gut darauf hin, daß übrigens die Arbeit der Naturvölker nicht Arbeit im Sinne unserer Fabriken[546] war, sondern die unumgänglich notwendige Körperbewegung für die nächsten Zwecke der Lebensnotdurft, und daß diese Bewegungen gern spielerisch ausgeführt wurden; er sagt darum mit vorsichtiger Wahl der Worte: »Es ist die energische rhythmische Körperbewegung, die zur Entstehung der Poesie geführt hat, insbesondere diejenige Bewegung, welche wir Arbeit nennen.« Bücher glaubt selbst nicht, daß auf diesem Wege sich jedes Rätsel der antiken Metrik lösen lasse; aber er hat uns die einfachsten Versfüße aus dem Arbeitsrhythmus alter Handwerke, die ursprünglichsten Musikinstrumente aus alten Arbeitswerkzeugen verstehen lassen.

Der Rhythmus ist nun aber kein Produkt der Kunst, sondern seine psychologische Wirkung ist tief begründet in der Natur des Menschen; Musik fährt in die Beine der Tänzer, und wenn Soldaten mit Musik vorbeiziehen, so marschieren alle natürlichen, also müßigen Menschen mit. »Der Rhythmus hat etwas Zauberisches; sogar macht er uns glauben, das Erhabene gehöre uns an«, sagt Goethe. Und Nietzsche, der das Bild vom Tanze herzunehmen so liebte, meint einmal, man versuche durch den Rhythmus die Götter zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben (Fröhliche Wissenschaft S. 105). Ich werde auf die Zusammenhänge von Mystik, Religion, Liebe und Poesie (Kunst) noch zurückkommen.

Nun wissen wir trotz unendlicher Bemühungen der Philologen äußerst wenig über die Art, wie die Griechen etwa der Perikleischen Zeit, wie gar die Griechen der Homerischen Zeit die verschiedenen Gattungen der Poesie genießend aufnahmen; wir glauben nur zu wissen, daß damals Musik mit dem Vortrage der Poesie eng verbunden war, und wir wissen ganz bestimmt, daß der Rhythmus der Verse (einerlei wie entstanden) ein musikalischer Rhythmus war, nach zeitlichen Längen und Kürzen gemessen, daß die Sprache der Dichter sich dem Rhythmus zu fügen hatte. Ich möchte nun mit einigen Zügen es wahrscheinlich zu machen suchen, daß es ungefähr 2000 Jahre gedauert hat, bis die Poesie sich langsam und ruckweise vollständig von ihrer Verbindung mit der Musik loszulösen vermochte, bis die[547] Poesie erst in der Gegenwart und eigentlich nur bei den germanischen Völkern die letzten Reste ihrer Abhängigkeit von der Musik verlor; ich möchte dann vorsichtig darauf hindeuten, wie diese Emanzipation der Poesie gerade heute dazu geführt hat, daß wir Poesie nennen, was unsere Eltern noch nicht Poesie genannt haben. Es versteht sich für diesen Standpunkt von selbst, daß Wagners Streben nach einem Gesamtkunstwerk ein gigantisches Mißverständnis war; daß er die Musik übrigens, die sich längst zu einer völlig selbständigen und unvergleichlichen Kunst entwickelt hatte, besonders durch seine Leitmotive wieder vom Worte abhängig machte; daß er endlich, da er in seinem eigensten Werke den alten Stabreim an Stelle des modernen Reimverses setzen wollte, die Entwicklung nur zurückschraubte.

Die Entwicklung des Stoffs oder des Inhalts der Poesie hat gegenwärtig wie die Entwicklung der Form zu einer Revolution geführt; wir werden uns davor zu hüten haben, die Entwicklung der Form und die Entwicklung des Inhalts deshalb als parallel zu betrachten. Die Geschichte der Dichtkunst ist ebenso wenig eine logische Begriffsentwicklung wie die Weltgeschichte. Hier haben wir es vorläufig mit der Form der Poesie zu tun; und ich will zu zeigen versuchen, wie in dieser Beziehung der Kampf der modernen Nationalliteraturen bis in unsere Tage hinein nichts andres war als der Kampf der reinen Sprachform gegen die musikalische Sprachform der alten Poesie. Schon die jungem Griechen und die Lateiner wußten mit der alten griechischen Prosodik, die die Verse nach einem der Sprache fremden Rhythmus singen lehrte, nicht viel anzufangen. Die romanischen Völker, die Italiener und die Franzosen, blieben noch im Banne der alten Musikpoesie, da sie die Silben zwar nicht mehr messen, aber immer noch zählen. Die uralte Tradition ließ die Romanen glauben, sie besäßen immer noch die antike Poetik. Aber in den germanischen Ländern hatte sich längst, und schon in der lateinischen Kirchenpoesie des Mittelalters, eine ganz andre Schönheit oder Gedächtnishilfe des Sprachrhythmus durchgesetzt: der Reim, welches Wort doch vielleicht nicht mit Unrecht aus rhythmus abgeleitet wird.[548]

Wir empfinden heute die Versuche der germanischen Humanisten, das neue Reimprinzip und den Reimvers auf antike Verse zurückzuführen, als unsäglich geschmacklos, und auch die praktische Poetik von Opitz und den Seinen ist unsern Ohren heute ein Greuel. Die Gelehrten erfanden für das moderne Reimprinzip den Schimpfnamen Knüttelvers, und ich übertreibe nicht, wenn ich den Kampf um die neue Form, der durch Jahrhunderte zwischen den Gelehrten und den Dichtern geführt wurde, einen Kampf um den Knüttelvers nenne.

III.

Unter den Erklärungsversuchen des Wortes ist der hübscheste und einfachste am gründlichsten fehlgegangen. Um das Jahr 1700 herum lebte als Abt des Cistercienserklosters Schöntal a/Jagst (der Begräbnisstätte Götzens von Berlichingen) ein Benedictus Knüttel oder Knittel, der alle Ecken und Wände mit lateinischen und deutschen Versen seiner Faktur bemalen ließ. Nichts lag näher, als die Bezeichnung auf den Namen dieses Knütteldichters zurückzuführen. Nur daß um die gleiche Zeit das Wort Knüttelvers schon genau in der heutigen Bedeutung in der Poetik geläufig war, und daß es sich in einer altern Bedeutung volle zweihundert Jahre weiter zurückverfolgen läßt.

Wilhelm Feldmann hat (Z. f. d. W. IV, S. 277 ff.) ausführlich über die Wortgeschichte gehandelt; leider gibt er nur Beiträge zur Wortgeschichte, sehr gut, reichlich und übersichtlich, versucht aber keine Erklärung der Etymologie.

Das Wort findet sich zuerst im Anfang des 16. Jahrhunderts als Bezeichnung spruchartiger Verse überhaupt; fünfzig Jahre später nennt man Knüttelverse die leoninischen lateinischen Verse und gelegentlich auch die lateinisch-deutschen Scherze der maccaronischen Poesie. Um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, zur Zeit der prächtigen deutschen Puristen, bedeutet Knüttelvers tadelnd oder spottend schon den regelwidrigen Vers, d.h. den deutschen Vers, der sich der gelehrten lateinischen Prosodie nicht fügt. Diese Bedeutung bleibt nun erhalten, aber das Werturteil ändert sich. Schon die erste Auflage von Gottscheds »Kritischer[549] Dichtung« (1730) spricht über diese Form mit überraschender Freundlichkeit. (Aber auch Canitz, sogar Christian Wernicke waren in bewußtem Gebrauch burlesker Knüttelverse vorangegangen.) »Man pflegt zum Schertze auch Knittelverse zu machen, das ist, solche altfränckische, achtsylbige, gestümpelte Reime, als man vor Opitzens Zeiten gemacht. Die Schönheit dieser Verse besteht darin, daß sie wohl nachgeahmet seyn. Wer also dergleichen machen will, muß den Theuerdanck, Hans Sachs, Froschmäuseler und Reincke Fuchs fleißig lesen und sich bemühen, die altfränckischen Wörter, Reime und Redensarten, imgleichen eine gewisse ungekünstelte natürliche Einfalt der Gedanken, nebst der vormahligen Rechtschreibung der Alten recht nachzuahmen« (S. 492). In der Ausgabe von 1751 fügt er hinzu: »Dieses nun nach rechter Art zu tun, ist gewiß eine Kunst.« Besonders zu bemerken ist, daß dem ledernen Gottsched von den beiden Proben, die er mitteilt, die zweite »Auf Hrn. M. Stübners Magister-Promotion« gar nicht so übel gelungen ist. Es ist wohl kein Zweifel, daß der junge Goethe unter diesen Einflüssen stand, als er sich in den Knüttelvers des Hans Sachs verliebte und nicht nur das tolle Lachen seiner überschäumenden Kraft ein wenig archaisierend (nicht so absichtlich und pedantisch wie Gottsched) in diese volkstümliche Form bannte, sondern gar das Herrlichste und Ungeheuerste, seinen ersten Faust, mit durch diese Form volkstümlich machte. Der Knüttelvers, im siebzehnten Jahrhundert anfangs verachtet, von Gottsched halb mit Erbarmen gelobt, wurde so durch den jungen Goethe der deutsche Vers der literarischen Revolution2.[550]

Es fügt sich recht drollig, daß das Wort in Goethes Entwicklung selbst sich von seinem Anfange abzukehren schien. Er war mit den Jahren Klassizist geworden, besonders in der Form, und dazu kam, daß er der »Deutschtümelei« auch politisch widerstrebte. In einer Gruppe von Xenien, die die äußerste Unzufriedenheit gegen die deutschen Fürsten und die deutschnationalen Führer zur Zeit des Wiener Kongresses atmen, stehen die folgenden Verse:

»Ein ewiges Kochen statt fröhlichem Schmaus!

Was soll denn das Zählen, das Wägen, das Grollen?

Bei allem dem kommt nichts heraus,

Als daß wir keine Hexameter machen sollen,

Und sollen uns patriotisch fügen,

An Knüttelversen uns begnügen.«

Die Abkehr des alternden Goethe hat dem deutschen Verse nicht geschadet. Der junge Goethe hat über den alten gesiegt, der erste Teil des Faust über den zweiten.

Die Geschichte dieses Bedeutungswandels von ziemlich genau dreihundert Jahren läßt sich auf eine vereinfachte Formel bringen, die mir nicht wertlos scheint. Mit Knüttelvers bezeichnete man eigentlich immer das Gleiche: den nationalen, gereimten Vers der jungen Völker gegenüber dem prosodischen Vers der Alten. Der Bedeutungswandel ist nur ein Bewertungswandel und schließt sich eng an die Geschichte der Bewertung des Volkstümlichen überhaupt. Bevor ich aber diese Verwandlungsformel für meinen Versuch einer etymologischen Erklärung benütze, möchte ich die interessante, fast volksetymologische Erklärung des Wortes Knüttelvers abtun.

Knüttel erinnert uns an einen Knotenstock. Den Vers, der mit einer Keule verglichen wurde, hatte die alte Poetik schon bei Homer gefunden, versus rhopalicus genannt und oft in lateinischen[551] Kunststücken nachgeahmt, z.B.: Spes deus aeterna, stationis conciliator. Der Witz: jedes folgende Wort des Hexameters ist um eine Silbe länger; die Keule wird immer dicker. Als nun die deutsche Poetik das Wort Knüttelvers bereits besaß und von Knüttel (Knotenstock) ableitete, wurde versus rhopalicus, von Leuten offenbar, die den alten Witz nicht verstanden, mit Knüttelvers übersetzt. Schon 1597. Dann sehen wir 1630 die versus rhopalici mit den leoninischen Versen durcheinander geworfen. Und Zesen identifiziert 1643 den leoninus und den rhopalicus, nennt beide deutsch Knittel Versch. Ich lasse dahingestellt, ob der deutsche Sprachgebrauch sich da an den niederländischen hielt oder umgekehrt. Jedenfalls entspricht das nl. Klüppel Versgen in Geschichte und innerer Sprachform völlig dem deutschen Knüttelvers; sie wurden schon zu Anfang des 16. Jahrhunderts mit baculi feri ins Lateinische zurückübersetzt. Wenn ich nun bedenke, daß diese Art sprichwörtlicher Reime auch Stockregel genannt wurden, so kann ich mich der Vorstellung nicht verschließen, daß diese Verse vielleicht damals, in Deutschland oder in den Niederlanden, zu einem Kinderspiel gedient haben mögen, bei dem zum Schlagreim mit dem Knüttel scherzhaft, wie mit der Pritsche, zugeschlagen wurde.

Noch eine Möglichkeit als Vermutung. Im 17. Jahrhundert findet sich für Knüttel öfter der Ausdruck Knüttelhard oder Knüttelhardus, mitunter aber auch das noch unerklärlichere Herr Leonhard. Schottelius kennt auch das Adjektiv Knuttelhardisch. Ganz von ferne möchte ich darauf hinweisen, daß der Spaß vielleicht von einer grotesken Figur Leonardus aus dem berühmtesten maccaronischen Gedichte von Merlin Coccaï (1517) herstammen kann. Darum möchte ich neben »Knüttel aus dem Sack« (nach meiner Deutung: den Schlagreim) die sonst unerklärliche Redensart stellen, die Wander in seinem deutschen Sprichwörterlexikon gebucht hat: »mit Knittelhardis herumwerfen«. Diesem ganzen Gebrauch liegt wie gesagt die volketymologische Anlehnung von Knüttel an Knotenstock zugrunde. Wie aber entstand das Wort Knüttelvers in Wirklichkeit?

Ich schicke das Ergebnis meiner Untersuchung jetzt voraus. [552] Knüttelvers ist der Nudelvers oder der Knödelvers, und damit wurde der sehr populäre maccaronische Vers wortwörtlich übersetzt. Ich muß aber Schritt für Schritt nun die Zusammenhänge nachweisen.

Daß der alte Keulenvers (rhopalicus) von Zesen mit dem leoninischen Verse verwechselt wurde, der beide Knittelversch nannte, das habe ich schon gesagt. Der leoninische Vers war, kurz gesagt, der alte klassische Hexameter dann, wenn das neue Poesiegesetz, der Reim, in ihm Eingang gefunden hatte. Zu einer Zeit, als die Reime von Cäsur und Versende als eine Barbarei gegen den klassischen Geist noch empfunden wurden, vernahm der neue Volksgeist den Reim bereits als eine Annehmlichkeit, zunächst für das Gedächtnis. Frischlin schreibt 1596: Adiuvandae memoriae causa Knuttelianos versus componere. Das Einprägsame, Spruchartige, Refrainartige der Reimpaare ist das Wesentliche; so bei Luther, bei Fischart und auch im Niederländischen. Auch bei Schottelius. Und bald nach Schottelius läßt Tscherning (1658) die Einschränkung auf den Hexameter fallen und tadelt schon den Reim von Cäsur und Versende beim Alexandriner, der ja lange Zeit als moderner Hexameter betrachtet wurde. »Solche Verse werden bei den Lateinern leonini, bei den Deutschen Knittelverse genennet.« Daß die Schule das tadelte, daß inzwischen der spruchartige Reim, der in der deutschen Volkspoesie niemals, ausgestorben war, weiterlebte und kaum 50 Jahre nach Tscherning die Bezeichnung Knüttelvers in lobendem Sinne als den Namen einer Kunstform eroberte, das lasse ich jetzt beiseite. Hier war es mir vorläufig darum zu tun, daß unter den Neubegründern einer deutschen Poetik mit Küttelvers häufig der leoninische Vers bezeichnet wurde, d.h. der lateinische Vers, der vom neuen Sprachgeiste den Schmuck des Reims übernommen hatte. Und ich kann nicht umhin, zu bemerken, daß von der ganzen lateinischen Poesie des Mittelalters einzig und allein einige gereimte, also gewissermaßen leoninische Gedichte (Dies irae, Stabat mater) wirksam auf uns gekommen sind.

Es wird also vielleicht nicht mehr überraschen, wenn ich es[553] für möglich halte, daß mit Knüttelvers auch ein andrer (schlechter) lateinischer Vers übersetzt wurde: der maccaronische Vers. Mir scheint für diese Gleichsetzung eben schon das Wort Nuttelvers bei Fischart (ich komme gleich darauf zurück) beweisend. Glücklicherweise aber finde ich einen älteren Beleg für die Gleichsetzung. Rädlein, Europ. Sprachschatz (1711) setzt gleich: Pritschenmeisterverse, Knüttelverse, maccaronische Verse.

Denkt man bei maccaronischen Versen an die Nachahmungen in deutscher Sprache, so ist allerdings keine Ähnlichkeit mehr zwischen der volkstümlichen Poesie des Knüttelverses und der burlesken Parodie der deutschen Schulpedanten.

Spracharum Wörtra duarum

in binos studuit Zeilorum einschließere reimos:

Nos binas sprachas in Wortum einbringimus unum.

Solcher Spaß steht weit ab von unserem Knüttelvers.

Aber etwas andres ist der maccaronische Vers in Italien und in Frankreich. Hundert Jahre vor dieser Probe aus dem Jahre 1593 war in Italien der maccaronische Vers schon populär. Und der nahverwandte Sprachklang zwischen dem Italienischen und dem Lateinischen hatte die Wirkung, daß italienische maccaronische Verse in der Tat oft wie eine Aufpfropfung von Volkspoesie auf den alten Stamm erscheinen. Etwas Ähnliches zeigt ja auch die maccaronische Poesie der Franzosen. Der köstliche Übermut des Nachspiels vom Malade imaginaire ist im Deutschen nicht wiederzugeben. Noch spruchartiger wirken viele maccaronische Verse bei Rabelais. Und im Italienischen mischen sich der alte und der neue Sprachgeist noch viel inniger. Auf einem ganz andern Wege bemerkt Schneegans (Geschichte der grotesken Satire, S. 121), daß die maccaronische Poesie das quantitative Prinzip des Lateinischen mit dem rhythmischen der neuern Sprachen zusammenwirft. Ohne zu unterstreichen bemerke ich dazu, daß auch die deutsche Alliteration in den maccaronischen Versen der Italiener oft hörbar wird, und daß bei Hans Sachs mitten unter Knüttelversen gelegentlich maccaronische Scherze vorkommen. Und noch eins: Maccaronische Verse, wenn gereimt,[554] sind immer auch leoninisch; leoninische gehen oft in maccaronische über.

Ich habe also bisher gezeigt, daß man im 16. und 17. Jahrhundert zwar die beiden ersten Silben des Wortes Knüttelvers auf den Knüttel oder Knotenstock bezog, daß man aber trotzdem schulgemäß die beiden Modernisierungen der lateinischen Poesie, das lateinische Reimgedicht und das halblateinische Scherzgedicht, Knüttelvers nannte.

Was bedeutet nun der ursprüngliche Name: Maccaronische Poesie? Man ist einig darüber, daß er von der Lieblingsspeise der Italiener genommen ist, den maccheroni. Oft genug ist darauf hingewiesen worden, daß viele Völker ihren Hanswurst nach ihrer Lieblingsspeise nennen. Ich füge den bekannten abendländischen Beispielen noch ein indisches hinzu; guru paramantar (Lehrer Nudel) heißt in einer Provinz Hindostans der beliebteste Spaßmacher. (Gehring, Indien², I. 254). Aber ein noch überraschenderes Glied der Gleichung Hanswurst = Jean Potage = Pickelhering usw. habe ich beizubringen, wenn ich mich anders für arabischen Sprachgebrauch auf einen spanischen Dichter berufen darf. Calderon nennt in seinem Drama »El gran Principe de Fez« (zur größeren Ehre der Jesuiten erfaßt) den Hanswurst »Alkuskus«, nach dem Lieblingsgerichte der afrikanischen Araber; Kuskus ist eine ganz köstlich schmeckende Teigware oder Maccaroni. Sollte Calderon das Wort in dieser Bedeutung frei erfunden haben, so war ihm wenigstens die Metapher (Lieblingsspeise für Narr) bewußt; denn der Hanswurst Alkuskus sagt, nachdem er sich hat taufen lassen (III. Akt), er sei nun ein christlich Essen. Die maccaronischen Verse Italiens sind die nationalen Hanswurstverse. Das Adjektiv macheronico bezeichnet auch allgemein einen plumpen, rüpelhaften Menschen, eine gemeine Sprache, in weiterem Sinne ogni discorso goffo sproposito.

Identifizierten nun die Neuschöpfer der deutschen Poetik, die zugleich begeisterte Sprachreiniger waren, den spruchartigen, kurzen deutschen Vers, den Vers des Hans Sachs, der damals schon altertümlich, aber noch lebendig war, mit der neulateinischen[555] Spruchpoesie der Italiener, wollten sie – wie ich eben annehme – den richtig oder falsch gesehenen Begriff des maccheronischen Verses ins Deutsche übertragen, so konnten sie das Wort frei oder genau übersetzen. Beides ist geschehen. Die freie Übersetzung lautete: Pritschenmeistervers, d.h. Narrenvers. Die Pritschenmeister waren die Spaßmacher und Stegreifdichter, »hielten die gereimten Festreden und straften mit der Narrenpritsche« (Freytag: »Bilder«). Freilich fällt jedem da wohl ein, daß die strafende Narrenpritsche wieder an den scherzenden Knüttelschlag im Kinderspiel erinnert.

Zu viel Gewicht möchte ich diesem Motiv nicht beilegen. Ein neueres Wort, das der Bedeutung von Knüttelreim sehr nahe kommt, Gassenhauer, scheint in seinem zweiten Teile wieder an Schlagen zu erinnern. Das ist aber gewiß nur Zufall. Gassenhauer, das auch in seiner Wertgeschichte dem von Knüttelvers nicht unähnlich ist (der Kreis von Bürger konnte dessen »Lenore« bona fide einen Gassenhauer nennen) bezeichnete wohl zuerst einen Tanz oder ein Tanzlied, bei dem die Steine gehauen, gestampft wurden. Wie in den österreichischen Alpen ein Gestrampfter Tanz und Lied bedeutet. Halte ich nun das Hauen in Gassenhauer für einen zufälligen Anklang, so muß wohl dennoch die übereinstimmende Vorstellung des Schiagens beim Keulenvers (rhopalicus), Knüttelvers und Pritschenmeister auf das zurückgehen, was ich einmal gelehrte Volksetymologie genannt habe.

Auch für die genaue, wortwörtliche Übersetzung findet sich ein Beispiel, eben der Satz in Fischarts Geschichtsklitterung (Ausg. v. Scheible, S. 36): »Schreibet doch Merlin Cocai in seinen Nuttelversen: Plus Roma parit quam Francia Gallos.« Daß Fischart hier die Speise maccheroni mit Nuttel (Nudel), den maccheronischen Vers mit Nuttelvers einfach übersetzt habe, das ist nicht etwa eine neue Vermutung von mir. Das D. W. (Lexer) führt Fischarts Wort geradezu unter Nudelvers auf, und Schneegans (S. 446) findet »maccaronische Verse« durch Nuttelverse (Nudelverse) zutreffend übersetzt. Daran ist kein Zweifel, daß Fischart mit seinem Nuttelvers den maccaronischen Vers[556] deutsch wiedergegeben habe. Zweifeln mag man nur an der Richtigkeit meiner Vermutung, daß wir in diesem Nuttel- oder Nudelvers die Erklärung von Knüttelvers (bei Schottelius noch Knüttelvers) besitzen. Fischart selbst hat freilich für die Sache häufig den nl. Ausdruck Klippel Verslein, für lateinische und später auch für deutsche Knüttelreime. Darin liegt keine Gegeninstanz. Fischart kann recht gut an jener Stelle zuerst oder beiläufig die deutsche Übersetzung des maccaronischen Verses versucht haben. Und noch etwas möchte ich der Erwägung anheimgeben: wenn Fischart das Wort Nuttelvers an jener Stelle nicht momentan erfunden und neu geschaffen hätte, so hätte er bei seiner fast pathologischen Assoziationsjagd wohl schwerlich darauf verzichtet, das ihm geläufigere Wort Klippelverslein unmittelbar folgen zu lassen.

Daß Fischart, wie wohl Lexer im D. W. angenommen haben muß (wenn ihm bei Nuttelvers überhaupt die Erinnerung an Knüttelvers kam) – daß Fischart nicht etwa genau unterschied, mit Nuttelvers den maccheronischen, mit Klüppelvers den deutschen und den lateinischen Reimspruch bezeichnete, das wird durch eine andre Stelle seiner Geschichtsklitterung (Ausg. Scheible, S. 299) völlig klar. Hier übertreibt er wieder einmal, was im Original (I. Buch, Kap. 21) fast nur ein bescheidenes Loblied auf die Faulheit und das Saufen ist, ins Groteske. Und mitten in diesen Platzregen von unanständigen Reimen und noch unanständigeren maccheronischen Versen hinein ruft er plötzlich: »Hey, wie sauber Klüppelverß für die Jugend« und gleich darauf: »mit Eselen Fartzis streite, sie non eges arzis«. Fischart hat also offenbar Nuttelvers und Klüppelvers gelegentlich in gleichem Sinne gebraucht.

Wort- und lautgeschichtlich ist wohl gegen die Gleichstellung von Nuttelvers und Knüttelvers nichts einzuwenden. Auf die Beziehung von Knote zu nodus, Nudel zu nodulus mag ich nicht eingehen, weil die gegenwärtige Sprachwissenschaft ihre Gründe hat, Knote nicht als ein Lehnwort von nodus anzusehen. Aber daß Nudel (auch Knudel, Knuddel, Knödel) zu Knote (Knode) gehöre, das scheint ja wohl ausgemacht. Auch daß Knüttel und [557] Knödel (Knütel) Diminutiva von Knote (Knoten) seien. Auch die Bedeutung der Worte geht vielfach ineinander über. Knoten heißt (D. W. V. Sp. 1502) auch soviel wie Kloß, Mehlkloß, besonders Bauernknoten soviel wie der grobe Bauernknödel. Aber auch figürlich (man erinnere sich an maccheronico, auch gnocco, Mehlkloß, Tölpel, österr. fade Nocken) findet sich bald (1707) Knoten im Sinne von plumper Kerl. »Ihr groben Bauersknoten.« Seit mehr als 100 Jahren ist dieser Gebrauch in die Studentensprache übergegangen. Aber selbst für Knüttel wird im D. W. V. Sp. 1533 die Bedeutung Grobian gebucht.

Zum Ausklang möchte ich noch zwei schöne Bemerkungen aus dem deutschen Wörterbuch hersetzen.

Campe hat von den Knüttelversen ganz richtig bemerkt, sie seien »Verse, die nur der Reim zu Versen machte«.

Und Hildebrand selbst nennt den Knüttelvers »den letzten Rest einer Kunstform aus längst vergangener Zeit, die man unter eintretender Mißkennung ihrer Gesetze mit Spott hat verwildern lassen, die aber im Sprachgefühl, sozusagen im Instinkt, noch nachlebt... Sie war... die Fortbildung der kurzen Reimpaare, die in der mhd. Zeit die herrschende Form der erzählenden und Spruchdichtung waren, und insofern diese wieder an den ältesten nationalen Vers der deutschen Völker, den alliterierenden, in ihrer Entwicklung sich anschlossen, sind die Knüttelverse ein bloß entartetes Erbe aus der ältesten Väterzeit.«

IV.

Im jungen Goethe war die neue Form der Poesie zur Vollendung gediehen. Die Melodie der Sprache hatte über die Musik gesiegt, die man der Sprache hatte aufzwingen wollen. Wieder wurden Goethes Lieder gesungen, ihm zu Dank nach Kompositionen tüchtiger Handwerker, überall sonst nach Kompositionen der Meister Mozart und Beethoven, Schubert und Schumann. Aber es war nicht mehr die Unterwerfung der Sprache unter einen von außen gekommenen Rhythmus; es war die freie Verbindung zweier frei und selbständig gewordener Künste. Kein Grieche hätte eine Ähnlichkeit finden können zwischen seinen[558] nach festen Gesetzen vorgetragenen alten Liedern und den Liedern Goethes, welche etwa von Schubert komponiert und mit einer stimmungsvollen Begleitung versehen waren. Ich weiß wohl, daß der reifere Goethe selbst sehr viele Verse gemacht hat, die sich der antiken Form nähern; aber der Rückfall Goethes in eine veraltete Form der Poesie beweist nichts gegen die Tatsache, daß die neue Form, die Schönheit aus der Sprache heraus, durch Goethe oder meinetwegen durch die Zeitgenossen Goethes zur Vollendung gediehen war. Und auch übertrieben, wie man mir zugeben wird, wenn man der mancherlei Spielereien gedenkt, zu denen der alternde Goethe sich im Westöstlichen Divan, im zweiten Teil des Faust und sonst durch seine Herrschaft über die Sprache verführen ließ. Und in diesem Zuge, der spielerischen Freude an Verskünsten, erblicke ich doch ein Zeichen, daß die Entwicklung der neuen Poesieform ihren Höhepunkt überschritten habe. Heinrich Heine beherrscht den Reimvers beinahe mit noch größerer Virtuosität als Goethe; aber die Kunstform ist ihm ein Spiel geworden, ein Spiel sogar die unübertreffliche Nachahmung der sog. Volkspoesie. Ein Spiel mit Formen ist in England, Frankreich und dann auch in Deutschland das Streben einer neuen Schule, malerische und musikalische Wirkungen dem Klange der Sprache abzupressen. Es ist nur eine Karikatur dieser Artistenlyrik, wenn unsre Verskünstler eitel darauf sind, die groteske Mode der Schüttelreime mitzumachen. Wie einst zur Zeit des sinkenden Hellenentums die Heiligkeit und die Notwendigkeit der uralten Rhythmen nicht mehr gefühlt wurde, und wie gerade darum die verzwickten und für uns fast unauffaßbaren Rhythmen der Chorlieder und auch schon der Pindarischen Gesänge erfunden wurden, so hat unsere Zeit die Empfindung für die Heiligkeit und die Notwendigkeit der Reimbildung eines Verses eingebüßt, und erfindet eben darum über die verhältnismäßig einfachen Strophen der alten italienischen, uns noch als Muster dienenden Lyrik hinaus neue und unerhörte komplizierte Formen.

Wer den Versuch wagen wollte, die Entwicklung der Poesie aus der Unterwerfung unter eine ihr fremde Rhythmik zu der Sprachmelodie der germanischen Melodie und dann den Niedergang[559] dieser neuen Poesie durch das Virtuosentum ausführlich darzustellen, der sollte an den äußern Beziehungen zwischen Schrift (Buchdruck) und Poesie nicht achtlos vorübergehen. Für die Urzeiten, in denen alles Merkenswerte dem Rhythmus einer Arbeit angepaßt werden mußte, um fest im Gedächtnisse zu haften, mußte die Erfindung der Schrift eine Revolution bedeuten; das Merkenswerte konnte nun in Stein geritzt werden, ohne Rhythmus. Die Prosa, welche immer gesprochen worden war, konnte nun auch geschrieben werden; vor Erfindung der Schrift hat es gewiß keine Dichtungen in Prosa gegeben, und heute, wie übrigens auch im 17. Jahrhundert, gibt es wunderliche Gesellen, welche den Buchdruck zu einer räumlichen Veranschaulichung der poetischen Formen mißbrauchen möchten.

Ich fürchte, ich habe meine Gedanken über die Entwicklung der poetischen Form, über die Ersetzung des musikalischen Rhythmus durch die Sprachmelodie, allzu sprunghaft vorgetragen. Ein gründliches Buch über diesen Gegenstand wäre eine kleine Lebensarbeit; ich mußte mich auf Anregungen und Notizen beschränken. Ebenso in den folgenden, allzu flüchtigen Ausführungen über den Stoff der Poesie. »Nachdem ich das Schäflein meines ästhetischen Gleichgewichts ins trockene gebracht habe« (wie Raabe einmal von sich selber in einem Briefe sagte), hoffe ich über Stoff und Form der Poesie mehr sagen zu dürfen, sobald Raum und Gelegenheit zu Gebote stehen.

V.

Typische Beispiele für die Umwandlung des neuen Poesiebegriffs sind Keller und Ibsen. Beide haben in jüngeren Jahren Verse genug geschrieben; die Bedeutung beider liegt in ihren Prosaschriften der späteren Jahre. Besonders beachtenswert ist die Spielerei in Ibsens letztem Versdrama, der »Komödie der Liebe«. Aber noch wichtiger sind für unsere Betrachtungen diese beiden Dichter, wenn wir nun von der Form der Poesie absehen und auf ihren Inhalt allein blicken. Der Inhalt der ältesten Poesie war alles Merkenwerte. Für die älteste historische Zeit können wir darum inhaltlich zwischen Religion, Philosophie und[560] Poesie kaum genau unterscheiden. Für uns ist es seit mehr als hundert Jahren ausgemacht, daß didaktische Poesie keine richtige Poesie sei; das gilt nicht für die Griechen, kaum für Lucretius. Für uns ist es seit einigen Jahrzehnten ausgemacht, daß Unterhaltungsliteratur keine richtige Poesie sei; dieser Satz gilt aber keineswegs für das Mittelalter, gilt auch nicht für die Neuzeit, wenn wir eben die allerjüngste Entwicklung der Poesie ausnehmen. Sehnsuchten aus der prosaischen Wirklichkeit hinaus waren von jeher Religionen, Philosophien und Poesien gewesen, Sehnsuchten alle Künste. Die Sehnsucht der Religion wurde im Bilde des Mythus ausgedrückt, die Sehnsucht der Philosophie durch eine scheinbar bildlose Sprache, durch die wissenschaftliche Sprache; die Sehnsucht der Künste wurde durch Farben und Formen, durch Töne und Rhythmen ausgedrückt, die Sehnsucht der Poesie zuerst durch Worte und Musikrhythmen, dann durch Worte und Sprachrhythmen. Sehnsucht ist wohl fast immer auch bei der Unterhaltungspoesie dabei gewesen, sehr viel bei den großen und den kleinen Gedichten der Troubadours und ihrer deutschen Nachahmer, ein wenig bei den alten italienischen Novellen, bei den neuen Novellen und Romanen aller Länder. Man darf nur von der eigentlichen Schundliteratur absehen, die in frühern Jahrhunderten nicht so wucherte, wie heutezutage, um ein wenig Sehnsucht auch aus den mittlern Erzeugnissen der Poesie herauszuhören.

Der Gegensatz, in welchem die Sehnsucht der Poesie zu der Prosa des Lebens von jeher stand, läßt sich vielleicht so ausdrücken: beide haben es einzig mit der Natur und dem Menschen zu tun: während aber die Prosa des Lebens die Natur und den Menschen nehmen muß. wie sie sind. möchte die Sehnsucht der Poesie die Natur und den Menschen heroischer, abenteuerlicher. schöner haben. Daher sind die Gegenstände aller Poesie Abenteuer. Helden, übermenschliche Gefühle gewesen (ähnlich war der Übergang von der heroischen Landschaft zu unserer intimen Landschaft), bis die Entwicklung dazu führte, in der stillen Natur, in dem Alltagsmenschen das wahre Abenteuer, das wahre Wunder anzustaunen. Und noch eins vollzog sich: man sah den Menschen nach so vielen Jahrhunderten des menschlichen Größenwahns[561] nicht mehr außer oder gar über der Natur, sondern bescheiden als einen Teil der Natur. Der Mensch wurde naturalisiert, und damit wurde der Poesie ihr alter Gegenstand genommen: der Held. Auch in dieser Beziehung war Goethe ein Vollender. (Vgl. Art. Natur).

Und wir haben es erlebt, daß die Grenzen zwischen Poesie und Philosophie (diesmal war es Psychologie) sich abermals verwischten wie vor Jahrtausenden, daß Dichter wie Keller und Ibsen die neue Psychologie des Menschen, die sie für die Psychologie des neuen Menschen hielten, in Symbolen auszudrücken strebten, bevor noch die Wissenschaft die abstrakten Begriffe gefunden hatte, Ibsen erfand die poetische Formel:

»Leben heißt – dunkler Gewalten

Spuk bekämpfen in sich.

Dichten – Gerichtstag halten

Über sein eigenes Ich.«

VI.

Die Systemmacherei ist in der substantivischen Welt zu Hause, der Welt der Mystik. Wie hat man die Reihenfolge der Begriffe Kunst, Philosophie und Religion (ich setze sie alphabetisch her) permutiert, um entweder ihre historische oder gar ihre axiologische Reihenfolge herauszubekommen. Jede mögliche Anordnung hat ihre Vertreter gefunden. Hegel sagte: Kunst, Religion, Philosophie; Vischer: Religion, Kunst, Philosophie. Und alle die führenden Geister haben nicht bemerkt, daß gerade in ihrem Innersten, in ihrer Weltanschauung, nur künstlich eine begriffliche Trennung der drei Gebiete herzustellen war, daß in ihrem Verhältnisse zu den letzten Fragen Antworten aller drei Sprachen sich mischten, daß eben nicht drei Wissenschaften des Geistes, sondern nur drei verschiedene Zeichensprachen in drei Gruppen geordnet waren. Ich möchte wissen, wie man es anstellen sollte, bei Platon den religiösen Griechen, den Denker und den Dichter auseinanderzureißen.

Poesie gehört in jedem System unter den Begriff der Kunst, obwohl auch der Kunstbegriff vor dem Auftauchen der ästhetischen Wissenschaft, also vor 1750, nicht recht definiert worden[562] war. Doch unbewußt hatten immer Religion und Philosophie auf die Kunst eingewirkt (besonders auch auf die Poesie), wegen der Ähnlichkeit des sprachlichen Ausdrucksmittels; unbewußt Religion und künstlerische Phantasie auf die Philosophie, unbewußt Philosophie und Kunst auf die Religion (vgl. Art. verbale Welt).

Und jetzt sind wir wieder einmal in einem Übergang mitten inne, der den Begriff der Kunst, besonders der Poesie, auf den Kopf stellen möchte. Das Ende des alten Christentums und die Popularität einer pessimistischen Philosophie hat auch solche Dichter ergriffen, die sich um Religion und Philosophie wenig zu kümmern scheinen. Und so radikal ist die Änderung der Seelensituation bei den Dichtern, daß die (nach unserem Geschmack) wertvollsten Dichtungen der letzten Jahre wirklich nicht mehr unter das zu fallen scheinen, was man tausend Jahre lang Poesie nannte. Wie freilich auch das Beste der tausendjährigen Christenzeit nicht unter den Begriff fallen würde, den die Griechen mit der Poesie verbanden. Man vergleiche Homeros mit Dante, mit Zola. Noch stärker ist, was durch die gleiche traditionelle Technik nicht ganz verschleiert werden kann, der Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Drama. Dort Schiller oder Racine, meinetwegen Shakespeare, hier Ibsen. Die geradlinigen, durchsichtigen Charaktere der alten Helden, Liebhaber, Intriganten, Verbrecher gehörten mit zum Bestande einer optimistischen Psychologie. Sie konnten von jedem mittelmäßigen Komödianten gemimt werden, weil alle diese Menschen (auch die Hypokriten wie Richard III.) so erbärmlich schlechte Lebensschauspieler waren. Von der Galerie herunter konnte und sollte man die Charaktere auseinanderhalten können. Das hörte langsam schon vor Ibsen auf. Und Julianus, Noras Gatte, Hjalmar Ekdal, Baumeister Solness, alle sind sie im Leben so vollendete Schauspieler, Und der Dichter bleibt so objektiv im Hintergrunde, daß die Leute auf der Galerie wirklich nicht sagen können, ob der Mann auf der Bühne z.B. ein guter oder ein böser Mensch sei.

Es ist ganz gleichgültig, ob wir wissen, was die Poesie eigentlich ist, oder ob wir es nicht wissen. Wir brauchen keine Definition der Poesie, um Dante, Shakespeare, Goethe zu genießen. [563] Sollen wir aber die Frage beantworten, ob irgendein überragender Schriftsteller, dessen höchst anregende Persönlichkeit nur ein krasser Pedant herunterziehen könnte, ob ein Ibsen oder ein Nietzsche nun im Grunde ein großer Poet sei oder nicht, sollen wir den Begriff Poet von einem solchen Schriftsteller aussagen, ja dann muß zwischen Frage und Antwort Einigkeit hergestellt werden über die Vorfrage: was ist uns Poesie? Die Größe von Nietzsche, die Größe von Ibsen bestand darin, daß sie der feigen Welt wieder einmal herrisch die Wahrheit sagten. So tapfer, wie geniale Menschen nur sind, bevor sie was Guts in Ruhe schmausen mögen. Tapfer bis auf die Rücksicht auf den eigenen Ruhm. Dieses Wahrsagen allein kann sie nicht zu Dichtern stempeln. Denn nicht nur Kinder und Wilde werden finden, daß Poesie und Lüge nahe beieinander wohnen.

Besonders der Fall Ibsen ist kritisch. Sollen wir den Begriff Poesie umbilden und umgießen, nur um dem großen Anreger Ibsen den Ehrennamen eines Poeten ohne Abzug geben zu dürfen? Oder sollen wir Ibsen nur einen großen Schriftsteller nennen, etwa einen vom Range Voltaires, damit Begriff und Titel Poet unverändert auf die Nachkommen übergehe? Was man so unverändert nennt. Denn der Wert des Titels Poet müßte ja plötzlich etwas sinken, wenn der stärkste Dramatiker unserer Tage nicht Poet heißen dürfte. Nicht wahr? Ich meine nicht. Ibsen sei ein geringerer Mann als ein Dutzend berühmter Schriftsteller, die voll und ganz den Titel eines Poeten verdienen. Ich meine nur, daß die angewandte Psychologie und Theatralik Ibsens nicht das ist, was vor ihm in Mitteleuropa Poesie hieß. Ich meine überhaupt nur, daß auch der Begriff Poesie eine Entwicklung, eine Geschichte gehabt habe. Ich beneide nicht die Herren, die mit schwieligem Sitzfleisch und schwieligen Fingern eine Geschichte der Weltliteratur oder eine der gesamten deutschen Literatur (unter Literatur verstehen solche Bücher fast nur Poesie) geschrieben oder abgeschrieben haben, ohne je zu bemerken, daß jedes Jahrhundert unter Poesie etwas anderes verstand. (Und ich verteidige, nicht die Schönheit, aber die Richtigkeit des Bildes »mit dem Sitzfleisch abschreiben« gegen jedermann.)[564] Es wäre bequem und leicht, wie ein philosophisches Kolleg für Chemiker, eine Definition des Begriffs Poesie zu geben, die so ungefähr auf die alten und auf die neuen Vorstellungen paßte. Es wäre die schwerste Aufgabe der höheren Analyse, für die geschichtliche Entwicklung des Poesiebegriffs eine wirklich brauchbare und wissenschaftlich anständige Formel zu finden.

Wie alles auf der Welt, so läßt sich auch Poesie in Stoff und in Form zerlegen; dem Stoffe nach ist Poesie teils Gestaltung, vor allem Menschengestaltung, also angewandte oder vorweggenommene Psychologie, teils Fabulierkunst, der Form nach ist Poesie Wortkunst, nichts als Wortkunst.

Bleiben wir bei der alten Vorstellung von Poesie, so hat es niemals einen bedeutenden Poeten gegeben, der nicht ein Meister seiner Muttersprache gewesen wäre. Ein Sprachgewaltiger und zugleich ein Virtuose des Worts. Der Abstand zwischen Luther und der durchschnittlichen Sprache seiner Zeitgenossen, zwischen dem jungen Goethe und der durchschnittlichen Sprache seiner Zeitgenossen ist ungeheuer. Wie zwischen dem Reiten eines gemeinen Dragoners und dem Reiten eines meisterlichen Herrenreiters. Dieser ungeheure Abstand zwischen einem Beherrscher der Wortkunst und einem geschickten Worthändler scheint für die Gegenwart aufgehoben. In Deutschland und Frankreich, in England und in Italien wimmelt es jetzt von Sprachkünstlern. Leute, die nie in ihrem Leben eine Gestalt gesehen haben, denen nie in ihrem Leben auch nur die kleinste Fabel eingefallen ist, setzen ihre Worte mit geduldigem Enthusiasmus wie Teppichmuster nach Tonvaleurs zusammen. Es scheint eine Freude, zu leben. Wie die verrenkte Linie der Sezession, nachdem sie erst von einem talentvollen Schalk erfunden war, sich mit dem andern Komfort der Neuzeit in siegreichem Wandel durch unsere Kulturländer auch die letzte Provinzstadt sicher erobert hat, wie dort am Ende des stillen Ganges das mystische OO auf der allerletzten Türe freundlich in der verrenkten Linie der Sezession dem eiligen wie dem beschaulichen Besucher sinnig entgegenleuchtet, so gibt es auch in der Poesiesprache unserer Kulturländer eine sezessionistische Linie, auf die niemand verzichten darf, der nicht etwa[565] trotzig dabei bleiben wollte, die eigene Nase im Gesichte zu behalten. Wohllaut, Süße, Weiche, Rhythmus und wieder Süße.

Die Gefahr besteht darin: wie der Schauspieler nur ein Diener am Worte des Dichters sein kann, so kann in aller Poesie (bei jedem Wandel dieses Begriffs) das Wort, die Form sich zum Stoffe nur dienend verhalten, dienend in Freiheit; die Wortkünstler aber, die nichts zu sagen haben und dennoch gedankenlos neu sein möchten, sind zu Virtuosen der Sprachform geworden, genau so wie just zur Zeit der Umwandlung des Poesiebegriffs die besten Darsteller des eben veraltenden Dramas zu Virtuosen der Schauspielkunst herabsanken.

1

Die Hypothese Scherers, daß die Poesie aus Nachahmungen des Liebesspiels entstanden sei, widerspricht doch nicht völlig den Lehren Büchers; die brutalen Hochzeitsgebräuche der Naturvölker rhythmisieren auch den Akt der Begattung und fügen gern epische oder dramatische Momente hinzu. Ich unterlasse die Ausführung, weil eine solche Urgeschichte der Poetik ohne gewagte Konstruktionen nicht möglich ist.

2

Otto Flohr hat in seiner »Geschichte des Knittelverses vom 1700. Jahrhundert bis zur Jugend Goethes« (Berliner Beiträge zur Germ. u. Roman. Philologie) viel Material gesammelt. Die Bezeichnung wurde zur Zeit von Schottel auf den deutschen Alexandriner mit Innenreim angewandt; »solche Verse werden bei den Lateinern leonini, bei den Deutschen aber Knittelverse genennet« (Tscherning). Die Nachahmer und Schüler von Opitz verachten diesen Vers: Canitz, Wernike, Breitinger ahnen zuerst den Unterschied zwischen deutschvolkstümlicher und antik-klassischer Poesie. Der Umschwung setzt damit ein, daß die »alte deutsche« Versform für poetische Briefe, für Satiren, für Gelegenheitsgedichte, für Parodien benützt wird; Humor, Naturalismus, auch Obszönität machen sich in Knüttelversen breit. Wir stehen noch heute, trotz Goethes Faust, unter dem Zwange dieser Vorstellung. Etwa seit 1740 wird der Knüttelvers zur Lieblingsform für eingestreute poetische Einfälle, wie wir das noch in den Jugendbriefen Goethes bemerken können, die – bei allem Abstande – gar sehr an die Mode erinnern, die Gottsched eingeführt hatte.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 544-566.
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