[616] Menschwerdung, eine in der Geschichte des religiösen Geistes bedeutsame Idee, sofern schon der Begriff der Religion an sich eine Wechselbeziehung des unendlichen und des endlichen Geistes in sich schließt. Dieser Prozeß der gegenseitigen Beziehung Gottes auf den Menschen und des Menschen auf Gott wird da auf dem Gipfel stehen, wo entweder Gott Mensch oder der Mensch Gott wird. Der zwischen der asiatischen und der europäischen Menschheit stattfindende Gegensatz der Denkweise bringt es mit sich, daß dort mehr von M. Gottes, hier mehr von Gottwerdung des Menschen die Rede ist (s. Apotheose). Die klassische Heimat der Idee einer Inkarnation (Fleischwerdung) oder Inkorporation (Verkörperung) Gottes ist das alte Indien, wo die höchste Weisheit und Liebe in Buddha (s. d.) Menschengestalt annimmt und den Menschen zu Hilfe kommt. Erst seither fand der Begriff auch Eingang in die brahmanische Religion, wo übrigens nicht Brahma (s. d.), sondern Wischnu das Subjekt der Inkarnationen ist. Auf ganz neue Weise vereinigt das Christentum, in allem eine eigentümliche Synthese orientalischer und okzidentalischer Denkweise, M. und Gottwerdung in dem griechischen Kirchenlehrern geläufigen Satz: Gott sei Mensch geworden (in Christus, nach Joh. 1,14), damit die Menschen vergottet, göttlicher Natur teilhaftig würden. Die Kirchenlehre hat vorzugsweise die erste Hälfte dieses Wechselverhältnisses kultiviert, ohne darüber die andre ganz vernachlässigt zu haben (die sogen. unio mystica cum Deo). In der Geschichte der neuern Theologie ist das Dogma von der M. besonders durch die an Schelling und Hegel sich anschließende spekulative Schule kultiviert worden, indem man dabei über die historische Frage, ob die Realisation der Idee sich ohne weiteres mit dem christlichen Dogma decke, so lange ziemlich leichtfertig hinwegsah, bis Strauß die Frage entschieden verneinte und eine M. Gottes nicht in dem Individuum, sondern in der Gattung behauptete. S. Christologie.