Gott [1]

[171] Gott oder, abstrakt ausgedrückt, Gottheit nennen wir den einheitlich vorgestellten Gegenstand alles religiösen Glaubens. Tatsächlich ist mit jeder positiven Stellung zur Religion die Setzung irgend eines Gottesbegriffs verbunden. Denn die Vorstellung Gottes entspringt zuletzt dem Bedürfnis nach Aufhebung eines Zwiespalts, den der religiöse Mensch unvermeidlich in sich fühlt und mit sich herumträgt, nach Sicherstellung des Wertes seines persönlichen Daseins inmitten einer dagegen gleichgültigen Naturwelt. Nur sofern in den primitivsten Formen der Naturreligion der Gottesgedanke sich erst dunkel ankündigt oder noch latent ist, kann man heutzutage dem Satz des Altertums, daß alle Menschen (so Aristoteles, »De coelo«, I, 3) oder alle Völker (so Cicero, »Tuscul.«, I, 13) eine Vorstellung von der Gottheit hätten, durchgängige Gültigkeit aberkennen. Mit größerm Recht wird man immerhin dem früher aus dieser Behauptung für das Dasein Gottes geführten Beweis (e consensu gentium) die verbindliche Kraft absprechen. Denn die mehr oder weniger ausgebildete Vorstellungswelt, die Natur- und Kulturreligionen uns in ihrer mythologischen Götterlehre darbieten, enthüllt sich der wissenschaftlichen Analyse mit Leichtigkeit als Produkt eines noch ganz naiven, aller so liden Mittel der Befriedigung entbehrenden Kausalitätsbedürfnisses auf der einen, ausschweifender Phantasie, die unter dem Staunen und Furcht erzeugenden Eindruck übermächtiger Naturerscheinungen allerorts und jederzeit üppig aufwuchert, auf der andern Seite. Aber in demselben Maß, als der Wirklichkeitssinn erstarkt, verlieren jene Götter, die nur die Lücken des Wissens ergänzen, an Lebensfähigkeit; sie erhalten sich über dem Grab der ihnen gewidmeten Dienste nur da noch recht am Leben, wo die Phantasie, die sie hervorgebracht hat, eine ästhetisch disziplinierte war, wie bei dem formenfrohen und schönheitssinnigen Volk der Griechen. Aber gerade hier strebte der denkende Geist schon früh über die vielen Göttergestalten der Volksreligion hinaus dem Monismus zu, wie denn auch der Olymp der Poesie sich je länger, je mehr in seinem Haupte, dem »Vater der Menschen und Götter«, einheitlich zuspitzte.

Von einer andern Seite her stellt sich noch unvermeidlicher und mit der Übermacht offenbarungsmäßiger Gewißheit der einheitliche Gottesgedanke ein, wo das oben angedeutete religiöse Motiv des Gottesglaubens reiner und kräftiger wirkt und Interessen nicht sowohl des Wissens als vielmehr der sittlichen Persönlichkeit maßgebend dafür sind. Eine prinzipiell ethische Religion, wie die iranische Zoroasters, erkennt trotz ihrer dualistischen Mythologie doch nur dem einen guten G. den schließlichen Sieg zu. Die gleiche Tendenz auf Vereinfachung und Vereinigung der vielen Volksgötter in einer einheitlichen Spitze weist auch die Entwickelung des Gottesgedankens in Ägypten, Assyrien und namentlich in Indien auf, wo freilich das[171] persönliche All-Eins, das Brahma hieß, im Buddhismus in das Nichts umschlug und sich uns solchergestalt das denkwürdige Schauspiel einer ursprünglich atheistisch gemeinten, freilich sofort zur Vergötterung ihres Urhebers fortschreitenden Religion darbietet. Und wenn weiterhin die vergöttlichten Naturkräfte auch den ursprünglichen Hintergrund aller semitischen Religionen bilden, so hat doch wenigstens in der hebräischen Religion die Disposition zur monotheistischen Zusammenfassung durchgeschlagen und ist der Polytheismus durch einen seit Moses allmählich erstarkenden, von den Propheten mit sittlichem Gehalt erfüllten, dabei immer transzendenter gefaßten Theismus überwunden worden. So kam es zu der einheitlichen und persönlichen Spitze des hebräischen Monotheismus, den dann der Islam teils seines sittlichen Gehalts beraubt, teils aber auch noch abstrakter gefaßt, noch schärfer zugeschliffen hat, während eine gewisse Korrektur der semitischen Transzendenz schon in den ersten Kundgebungen des Christentums gefunden werden kann (Apostelg. 17,28; Eph. 4,6; Röm. 11. 36; 1. Kor. 15,28; vgl. auch Sir. 43, 27).

Der fernere Verlauf, den die Entwickelung des christlichen Gottesgedankens genommen hat, war bedingt durch die seitens der Kirchenväter von den spätern Platonikern entlehnte Kategorie des grenzenlosen, unbeschränkten, durchaus bestimmungslosen Seins, das eigentlich die religiöse Vorstellung von Gottes Persönlichkeit ausschließt und den allgemeinen Hintergrund einer pantheistischen Weltanschauung bildet. Während dieser Gottesbegriff den Vorteil bot, aller sinnlichen Elemente entledigt und von dem hebräischen Bodensatz des Anthropomorphismus und Anthropopathismus gründlich rein gefegt, auch der philosophischen Bildung der römischen Kaiserzeit unmittelbar verständlich zu sein, ragt anderseits allenthalben schon in das Bewußtsein der alten katholischen Kirche herein die jüdische Erbschaft einer Vorstellung Gottes als eines ins Ungeheure gesteigerten Menschen, der von außen her die Welt in Bewegung setzt und möglicherweise selbst von dem sittlichen Zweck verschiedene Zwecke in derselben verfolgt. Waren schon diese beiden sich ganz spröde zueinander verhaltenden Elemente schwer miteinander in Einklang zu bringen, so kamen nun noch hinzu die konkreten Bestimmungen der kirchlichen Dreieinigkeitslehre, die weder zu der massiven Gottesvorstellung und dem strengen Monotheismus des Hebraismus noch zu dem Platonischen Schema des Absoluten stimmen. Die verschiedenen Versuche, die gemacht wurden, um diese Unebenheiten zu glätten, bilden die Geschichte des christlichen Gottesbegriffs.

Ein bekanntes Kapitel machen die schon seit dem 2. Jahrh. angestrengten Beweise für das Dasein Gottes aus, die wenigstens den Wert denkender Nachzeichnung des Weges beanspruchen können, auf dem die Vorstellung Gottes zu deutlicherer Fixierung gelangt ist. Unter ihnen hatten sich jederzeit der kosmologische und der teleologische (physiko-theologische) des meisten Beifalls zu erfreuen. Zu jenem gelangte man, indem man von der Bewegung auf den Beweger (die aristotelische Scholastik), aus der Zufälligkeit aller Dinge und Vorgänge der Welt, für die der zureichende Grund nicht in ihnen selbst liege, auf ein letztes Bedingendes schloß (kosmologischer Beweis). Da aber in der Reihe von Ursachen und Wirkungen ein Letztes, darüber hinaus nicht weiter gefragt werden darf, nur willkürlich angenommen wird, spricht man jetzt lieber von einer gesetzmäßigen Wechselwirkung aller endlichen Ursachen, darin die einheitliche Grundursache zur Erscheinung komme. Weil ferner unser Denken ebenso wesentlich teleologisch wie kausal gerichtet ist, ersetzte man den Begriff der Ursache mit demjenigen des Endzwecks, indem man aus den mancherlei Symptomen von Anordnung, Absicht und Zweck in der Welt auf einen vernünftigen Welturheber schloß (teleologischer Beweis). Dabei konnte man sich jedoch auf die Dauer nicht verhehlen, daß der einen Kehrseite unsrer Erfahrungen, die zu solchem Schluß auffordert, eine andre gegenübersteht, die dagegen protestiert, so daß zuletzt die Schule Herbarts nur noch von einer auf diesen auch nach Kant achtungswürdigen Beweis zu gründenden höchsten Wahrscheinlichkeit sprach. Schon um 400 bereitete Augustin neben diesen aus dem Griechentum übernommenen Beweisen einen neuen vor, den dann um 1100 Anselm von Canterbury auf eine unglückliche Schulformel brachte (ontologischer Beweis), indem er von dem Begriff des vollkommensten Wesens auf seine Existenz schloß, weil, wenn ihm diese abginge, ein noch vollkommneres Wesen denkbar wäre. Also: »Diese Geschichte ist die schönste von allen, die ich je las, folglich muß sie auch eine wahre sein, sonst würde mir die unbedeutendste Geschichte, wenn sie nur wenigstens wahr ist, besser gefallen.«

Noch ehe Kant das Unzureichende aller dieser Beweise endgültig dartat, indem er an ihre Stelle, wenngleich nicht mit wissenschaftlicher Gültigkeit, den moralischen Beweis setzte, der von dem Vorhandensein des menschlichen Bewußtseins als eines sittlichen auf dessen urbildlichen Urheber und Bürgen für die Erreichbarkeit der Zwecke schließt und sonach nur eine Reflexion des frommen Bewußtseins über seine eignen Zusammenhänge und Existenzbedingungen darstellt, hatte die Aufklärung des 18. Jahrhunderts dem christlichen Gottesbegriff teils die trinitarische Bestimmtheit, teils den jüdischen Anthropomorphismus abgestreift und ihn so auf die farblose Idee des »höchsten Wesens« (être suprême) reduziert, dessen Unfähigkeit, das religiose Gefühl zu befriedigen, in dem Kultus der französischen Revolutionszeit in Erscheinung trat. Theoretisch wurde dieser leere Gottesbegriff überboten durch eine von Spinoza datierende, vorzugsweise aber durch Schelling und die Romantik, durch Fichte und Schleiermacher vertretene pantheistische Strömung. Man fand am rationalistischen Gottesbegriff namentlich auszusetzen, daß er G. als ein überweltliches Einzelwesen zu der Summe der übrigen Einzelwesen hinzurechne, wogegen die spekulative Philosophie sich wieder auf den Begriff des Absoluten zurückzog und es bald als Indifferenz (Schelling), bald als einfache Kausalität der Welt (Schleiermacher), bald als absolute, in der Welt sich realisierende Vernunft (Hegel), reine Tätigkeit der Weltbegründung, actus purus (Biedermann), immer aber unpersönlich faßte, wie auch Fichtes moralische Weltordnung im Unterschied zu Kants G. gewesen war. Dem gegenüber zeigen sich die neuern Religionsphilosophen und Theologen meist bemüht, den Begriff der Persönlichkeit mit demjenigen der Immanenz zu vereinigen, der als die dauernde Frucht unsrer neuern Philosophie galt, während eine neueste Schule von den philosophischen Voraussetzungen, unter denen sich die kirchliche Gotteslehre vom 2. Jahrh. an entwickelt hat, ganz abzusehen und alles, was an eine Substanz erinnert, aus dem Begriff herauszuschaffen, ja die ganze metaphysische Behandlung des Gottesbegriffs. abzustellen rät (Ritschl). Dieser Reformversuch bezieht sich auch auf die Lehre von den sogen. Eigenschaften [172] Gottes (attributa divina), die entweder durch Verneinung der dem menschlichen Geistesleben anhaftenden Schranken (via negationis) oder durch möglichste Steigerung von dessen Vorzügen (via eminentiae) gewonnen waren. Naturgemäß führte jener Weg zu leeren Abstraktionen, dieser zu unzureichenden Bildern. Aber nur die auf letzterm Wege sich ergebenden, meist dem konkreten alttestamentlichen Gottesbild entstammten Aussagen sind dazu angetan, das Verlangen des religiösen Gefühls nach einem lebendigen G. zu befriedigen. Dagegen gehören die auf dem erstern Wege gewonnenen Eigenschaften, wie Ewigkeit und Unveränderlichkeit, Allmacht und Allgegenwart, jenem philosophischen Schema des Absoluten an, das nur das Gegenteil der Welt bedeuten und religiös wertlos sein soll. Es haben daher viele Dogmatiker sich bemüht, gerade diese Eigenschaften einzuschränken oder möglichst zu neutralisieren, den Begriff Gottes nicht sowohl unter dem altherkömmlichen Gesichtspunkt der Kausalität, als vielmehr unter dem des Zweckes zu fassen, wie man zugleich philosophischerseits sogar bald von einem allmählich entstehenden, von einem werdenden G., bald von einem zwar nicht schöpferischen, wohl aber als oberstes Ideal dem sittlichen Prozeß vorstehenden G. geredet und die alte Verbindung von höchster Macht und sittlichem Gedanken im Gottesbegriff aufgelöst, ebendamit aber diesen letztern gefährdet hat. Da solchergestalt das eigentliche Problem schwerlich irgendwo gelöst ist, scheint es vielen zeitgemäß, sich nach den besonders seit Kant zugänglichen Gründen seiner Unlösbarkeit zu erkundigen und mit Trendelenburg u.a. die einfache Unerkennbarkeit Gottes zu behaupten. Die Rechte jener Bildersprache, der sich alles lebendige Gottesbewußtsein, jede kräftige Gotteserfahrung von jeher bedient hat und bedienen muß, werden aber auch von der andern Richtung nicht mehr angetastet, die, weil sie ein spekulatives Denken für im Gefolge der Religion unabkömmlich erachtet, an einer von dieser Seite her sich ergebenden Erkennbarkeit Gottes, d.h. an der Möglichkeit einer nicht bloß negativen Bestimmung des Begriffs des Absoluten, festhält. Was zu solchen Bildern greifen und mit ihrer Hilfe einen letzten Abschluß der praktischen Weltanschauung suchen und finden lehrt, ist schließlich immer eine Nötigung des persönlichen Geistes, der seine höchsten Werte unter Voraussetzung jeder andern, zumal einer rein materialistischen Weltanschauung mit dem Bann der Zweck- und Ziellosigkeit bedroht sieht.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 171-173.
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