Indĭen

[793] Indĭen (India), bei den Griechen und Römern Bezeichnung für die gesamte jenseit des Indus, südlich und südöstlich vom Imaos (Himalaja) gelegene Ländermasse Asiens: das jetzige Vorder- und Hinterindien nebst einem Teil Chinas. Während die Ägypter und Phöniker schon sehr früh mit der Westküste Vorderindiens in Handelsverkehr standen, hatten d [e Griechen in älterer Zeit von I. nur dürftige Nachrichten, die sie über Persien (z. B. durch Ktesias) erhielten. Herodot kennt von I. nur die Gegend des Indus; bei der Beschreibung von Xerxes' Heer führt er die »dunkel-gefärbten« indischen Hilfstruppen an und nennt sie »Äthiopier vom Sonnenaufgang«. Sehr erweitert wurde die Kenntnis von I. durch den Zug Alexanders d. Gr. nach dem »Fünfstromland« (Pentapotamien, Pandschab) und durch Seleukos Nikator, der (305) bis zur Jamuna (Dschamna) vordrang, namentlich aber durch Megasthenes, der als Seleukos'[793] Gesandter längere Zeit zu Pataliputra, der Residenz des Inderfürsten Sandrokottos (Tschandragupta), verweilte. Eratosthenes (gest. 193 v. Chr.) kannte bereits die südliche Zuspitzung der vorderindischen Halbinsel sowie Taprobane (Ceylon), verlegte aber den Ganges, als den östlichen Grenzfluß Indiens, in die Nähe von Thinai (China). Unter Kaiser Claudius (gest. 54 n. Chr.) kamen Gesandte des Königs Rochias von Ceylon nach Rom. Der Geograph Ptolemäos (2. Jahrh. n. Chr.), der schon Vorder- und Hinterindien unterscheidet, erwähnt den »goldenen Chersones« (die Halbinsel Malakka) sowie Java und andre indische Inseln. Natur- und Kunsterzeugnisse Indiens waren schon seit den Zeiten der Seleukiden immer häufiger nach Europa gekommen; im Mittelalter gelangten sie teils auf dem Karawanenweg durch die Wüsten Innerasiens nach den Küstenländern des Kaspischen und Schwarzen Meeres, teils durch die Araber, die bereits in den ersten Jahrhunderten nach Mohammed die indischen Meere befuhren, nach Ägypten und von hier aus durch Vermittelung der Genuesen, Florentiner, namentlich aber der Venezianer nach dem Westen Europas. Neu belebt wurde das Interesse für I. durch die Reiseberichte Marco Polos, Odorichs von Pordenone und Niccolòs de' Conti, der im 15. Jahrh. das innere Vorderindien eingehend erforschte. Besonders auf die von Polo geschilderten Goldländer Kathai (China) und Zipangu (Japan), die man als zu Hinterindien gehörig betrachtete, lenkte sich die allgemeine Aufmerksamkeit. Daß das reiche I. bequemer mittels einer Fahrt nach W. erreicht werden könne, erschien um so wahrscheinlicher, als die Ostküste des Landes der Serer (China) von Ptolemäos um 51°, von Marinus Tyrius sogar um 96° zu weit gegen O. versetzt war, während auf der Karte des Toscanelli, die Kolumbus auf seiner ersten Entdeckungsreise als Führer diente, die Entfernung zwischen den Kanarischen Inseln und der Küste Ostasiens zu etwa 90° (nach Kolumbus' Umrechnung 1100 span. Meilen) angegeben war. Daher meinte Kolumbus, als er 1492 auf der Insel Guanahani landete, eine indische Insel unfern der Gangesmündung erreicht zu haben, und erst nachdem Vasco da Gama 1498 den Seeweg nach dem alten I. gefunden und Balboa 1515 zuerst den Stillen Ozean erblickt hatte, erkannte man, daß die neuentdeckten Länder im W. vom Lande der alten Inder im äußersten Osten weit getrennt seien. Gleichwohl ist der Name I. den von Kolumbus zuerst aufgefundenen Inseln Mittelamerikas verblieben, nur daß man dieselben als Westindien (s. d.) von dem eigentlichen I. im O. als Ostindien (s. d.) unterschied, ebenso wie man die Indianer, die Urbewohner des neuen Weltteils, von den Indern, den Bewohnern Ostindiens, unterscheidet. Vgl. Vivien de Saint-Martin, Etude sur la géographie grecque et latine de l'Inde (3 Teile, Par. 1858–60).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 793-794.
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