Nordische Verskunst

[767] Nordische Verskunst. Allen Erzeugnissen der altisländischen (und altnorwegischen) Dichtung sind strophische Gliederung u. Stabreim gemeinsam. Zeitlich lassen sich zwei Kunstformen unterscheiden, die allerdings nicht ganz unvermittelt aufeinander folgen: eine ältere, volksmäßige, welche die Verse lediglich durch die Alliteration band, und eine jüngere, die den Reim (Binnenreim oder Endreim) einführte. Zu den ältern Metren, die in der alten Volksdichtung, der die Lieder der Edda (s. d.) angehören, ausschließlich angewandt, aber auch von den Kunstdichtern (den Skalden) hin und wieder noch gebraucht wurden, gehören das Fornyrdislag (metrum antiquum), der Ljódaháttr und der Málaháttr. Das erste entspricht (abgesehen von dem nie übertretenen Gesetz der Einteilung in Strophen) im allgemeinen dem Versmaß, dessen sich die Westgermanen (Deutsche und Angelsachsen) in ihren alliterierenden Dichtungen bedienten. Die Strophe (Visa) enthält vier Langzeilen, von denen jede durch eine Zäsur in zwei Halbzeilen geteilt wird; jede Halbzeile hat zwei gewöhnlich zweisilbige Füße, deren jeder eine Hebung enthält; doch ist es auch gestattet, daß ein Fuß aus drei Silben besteht (von denen dann die zweite oder dritte einen Nebeniktus tragen muß): in diesem Falle muß jedoch der andre Fuß einsilbig sein. Die Hebungen erfordern gewöhnlich eine lange Silbe (an deren Stelle jedoch auch ein iambischer oder pyrrhichischer Zweisilbler treten darf); nur unter gewissen Einschränkungen kann auch eine einzelne kurze Silbe die Hebung tragen. Auftakte und mehrsilbige Senkungen sind nur in beschränktem Maß und in bestimmten Fällen gestattet. Von den vier Hebungen der Langzeile sind 2–3 durch den Stabreim gebunden. In der ersten Halbzeile stehen der Regel nach zwei Reimstäbe (Stollen), oft auch nur einer; in der zweiten steht einer, der Hauptstab. Eine Abart des Fornyrdislag ist der Kviduháttr, in dem die erste Halbzeile nur drei Silben enthält. – Im Ljódaháttr, der höchstwahrscheinlich erst aus dem Fornyrdislag sich entwickelt hat, hat die Strophe der Regel nach vier Zeilen; Zeile 1 und 3 sind Langzeilen mit Zäsur, deren durch den Stabreim verbundene Hälften 2–3 Hebungen auf zwei, drei und mehr Silben enthalten dürfen; Zeile 2 und 4 dagegen zäsurlose Vollzeilen, die nur in sich selbst alliterieren und in der Regel drei Hebungen aufweisen. Eine Erweiterung des Ljódaháttr (durch Wiederholung und Variierung der 2. oder 4. Zeile) ist das Galdralag. – Der Málaháttr ist eigentlich nur eine Abart des Fornyrdislag, indem jede der acht Halbzeilen um eine Silbe vermehrt ist. Fornyrdislag und Málaháttr fanden mehr in erzählenden, der Ljódaháttr mehr in didaktischen Gedichten Anwendung. Der Kunstdichtung der Skalden gehören an das Dróttkvætt (Dróttkvædr háttr) und die Runhenda (Runhendr háttr). Das seit dem 9. Jahrh. bezeugte Dróttkvætt (der »Hofton«) hat diesen Namen erhalten, weil es vorzugsweise in Lobliedern auf Fürsten Verwendung fand (vgl. Drâpa). In ihm hat die Strophe acht Zeilen, von denen je zwei (1 und 2, 3 und 4 etc.) durch den Stabreim verbunden sind (die ungeraden Zeilen enthalten stets zwei Stäbe, die geraden nur einen). Der wesentliche Unterschied dieses Versmaßes vom Fornyrdislag besteht in einem außer dem Stabreim angewandten Binnenreim, der entweder Vokal und folgende Konsonanz betrifft (Adalhending) oder nur die Konsonanz (Skothending). In jeder Viertelstrophe[767] hat je der erste Vers Skothending, der zweite Adalhending. Jede Verszeile des regelmäßigen Dróttkvætt besteht aus sechs Silben (wobei jedoch zu beachten ist, daß zwei grammatische Silben metrisch öfter als eine gerechnet werden müssen), die sich in drei Füße gliedern. Fuß 1 und 2 entsprechen genau einer Fornyrdislag-Zeile; der dritte Fuß dagegen muß ausnahmslos ein Trochäus sein. Eine spätere Abart des Dróttkvætt ist die Hrynhenda, auch Liljulag genannt, weil in der Lilja (s. Drâpa) gebraucht; sie hat acht Silben in der Zeile. Eine weitere Abart mit kurzen Versen (vier Silben) ist das Toglag. – Die Runhenda (Runhendr háttr) unterscheidet sich vom Fornyrdislag durch Hinzukommen des Endreims, dagegen fehlt ihr der Binnenreim. Aus ihr entwickelten sich später (seit dem 14. Jahrh.) die Rímur, entsprechend unsern gereimten Gedichten. Sie bestehen gewöhnlich aus vierzeiligen Strophen mit gekreuzten Endreimen, neben denen sie regelmäßig auch noch den Schmuck der Alliteration bewahrt haben. – Die älteste Darstellung der isländischen Verskunst findet sich in der sogen. jüngern Edda. Das wissenschaftliche Verständnis eröffneten erst die Forschungen von Ed. Sievers, deren Ergebnisse zusammengefaßt sind in seiner »Altgermanischen Metrik« (Halle 1893), kürzer in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, Bd. 2 (2. Aufl., Straßb. 1905). Vgl. ferner Edzardi, Die skaldischen Versmaße und ihr Verhältnis zur keltischen Verskunst (in Paul und Braunes »Beiträgen«, Bd. 5, Halle 1878); die ausführlichen Erörterungen von Th. Möbius in seiner Ausgabe von Snorris »Háttatal« (das. 1879–81); A. Heusler, Der Ljódaháttr (Berl. 1890); H. Gering, Die Rhythmik des Ljódaháttr (»Zeitschrift für deutsche Philologie«, Bd. 34, Halle 1902); H. Pipping, Bidrag till Eddametriken (Helsingfors 1903). Kurze Darstellungen der altnordischen Metrik sind: Erik Brate, Fornnordisk metrik (Stockh. 1898), und Finnur Jónsson, Stutt íslenzk bragfrædi (Kopenh. 1892).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 767-768.
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