Aristoteles welcher angemerkt hat, daß jeder Gegenstand, der ein schönes ganzes ausmacht einen Anfang und ein Ende habe, sagt: der Anfang sey dasjenige, dem in derselben Sache nichts vorher gehen könne, und was allen andern Dingen vorher gehen müsse. Der Anfang der Begebenheiten, welche die ganze Handlung der Ilias ausmachen, ist der Streit, zwischen Achilles und Agamemnon; denn alles, was nachher geschehen ist, war eine Folge dieses Streits: hingegen gehört das, was diesem Streit vorher gegangen, nicht zu dieser Handlung. [50] Man kann die ganze Handlung vollkommen begreifen, wenn man auch von dem, was diesem Anfang vorher gegangen ist, keine Nachricht hat: es liegt ganz außer der Kette dieser Begebenheit.
Ohne einen Anfang kann man sich demnach keine Reyhe von Dingen vollkommen vorstellen; weil man nicht begreift, warum die Sachen da sind. Es gehört nothwendig zu der Vollkommenheit eines Werks von Geschmak, daß es einen bestimmten Anfang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der Ilias besungen hätte, ohne uns zu sagen, warum Achilles sich von dem Heer entfernt habe, und warum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, so würde uns das Vornehmste der Handlung gefehlt haben: dieses aber der Erzählung vorher gesezt, giebt uns den vollen Aufschluß zu der Sache; und wir bekommen dadurch eine vollständige Vorstellung, dessen, was der Dichter hat besingen wollen; wir werden völlig befriediget, nachdem wir den Anfaug, den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt haben.
Hieraus folget, daß der epische Dichter, welcher eine vollständige Handlung erzählt, oder der dramatische, der sie uns auf der Schaubühne vorstellt, sorgfältig seyn müssen, den Anfang der Handlung deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben sie einige Vorsichtigkeit nöthig, weil dieses mit mehr oder weniger guter Würkung geschehen kann. Die Sache ist der Mühe werth ausführlich entwikelt zu werden.
Weil der Anfang das erste in der Sache ist, dem nichts, was zu derselben gehört, vorhergehen kann, so muß die Handlung mit nichts anfangen, was würklich vor ihr gewesen ist. Dieses wäre ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorstellungskraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht gehört, beschäftiget. In diesen Fehler ist Euripides bisweilen gefallen. In der Hekuba läßt er zum Anfange der Handlung diese Königinn auftreten und kläglich thun, noch ehe der der Zuschauer weiß, welches Elend, das eigentlich der Inhalt des Stüks ist, ihr bevorsteht. Der wahre Anfang dieser Handlung ist der Entschluß der Griechen, die Tochter dieser Königinn auf dem Grabe des Achilles zu opfern. Dieses hat uns der Dichter gleich sollen bekannt machen. Denn alle Klagen der Hekuba, über die ihr vorher begegneten Unglüksfälle, gehören nicht zu dieser Sache. Eben so läßt er in der Iphigenia bey den Tauriern, diese Prinzeßin zum Anfang der Handlung erscheinen, ehe sie weiß, daß Orestes und Pylades angekommen; da doch die Handlung erst durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen Eingänge sind würklich von der Handlung abgerissen und also der Einheit der Vorstellung entgegen.
Ein andrer Fehler ist es in epischen und dramatischen Gedichten, wenn man den Anfang mit sehr entfernten Veranlassungen zu der Handlung macht. Es würde ungereimt seyn, wenn man, wie Horaz sagt, die Erzählung des Trojanischen Krieges von dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die Ursache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen weite Umschweife geben der Vorstellung eine Unvollkommenheit, die scharfsinnigen Lesern anstößig ist. Der Dichter muß demnach ohne Umschweife gleich zur Sache kommen, und sein Werk beym unmittelbaren Anfang der Handlung anheben.
Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten so an einander, daß in strengem metaphisischen Sinn keine, die mitten aus der Geschichte der Welt heraus genommen wird, ein für sich bestehendes ganzes ausmacht. Allein da der Dichter seinen Plan so machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet, als ein für sich bestehendes ganzes erscheine; so muß er einen solchen Anfang suchen, der unsre Vorstellung befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu suchen übrig lasse. Hat er ein Mißtrauen in die Fruchtbarkeit seiner Erfindungskraft, so nimmt er einen entfernten Anfang, damit die Menge der Begebenheiten den Mangel der Erfindungen erseze. Vielleicht würde Homer die Aeneis von der Ankunft des Helden in Italien angefangen haben. Virgil glaubte einen entfernten Anfang nöthig zu haben. So würde ein minder fruchtbarer Dichter sich kaum getraut haben, die Meßiade, wie Klopstok gethan hat, mit dem lezten Einzug des Erlösers nach Jerusalem anzufangen.
Dem Dichter bleibt also immer die Freyheit den Anfang seiner Handlung näher oder entfernter von dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieses genau beobachten, daß er seinem Gedicht einen wahren Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege, noch unvollständig sey. Je näher der Anfang der Handlung an dem Ende derselben liegt, je enger kann das ganze zusammen getrieben werden, daß es [51] mit einem Blike zu übersehen ist. Ist der Anfang vom Ende sehr entfernt, so wird das Werk zu weit ausgedehnt, oder es entstehen in der Handlung große Lüken, welche der Lebhaftigkeit der Vorstellung viel Schaden thun.
Die dramatische Handlung erfodert nothwendig, daß der Anfang nahe am Ende genommen werde. Wenn der Dichter dieses versäumt, so ist er genöthiget, entweder die ganze Handlung so einzuschränken, daß er uns gleichsam nur einen Auszug davon sehen läßt, oder er muß einen großen Theil hinter der Bühne geschehen lassen. In beyden Fällen ist es unmöglich, daß sich die Charaktere der Personen hinlänglich entwikeln. Die Alten haben dieses fast allemal sehr genau beobachtet, und eben deswegen sehen wir überall so gut entwikelte Charaktere in ihren dramatischen Stüken. Wir können sie auch darin den Neuern empfehlen, daß sie in Bestimmung des Anfangs meistens sehr sorgfältig gewesen. Sie legen uns gemeiniglich bey dem ersten Auftritt den Anfang der Handlung so deutlich vor Augen, daß wir gleich von dem Inhalte derselben und von dem Charakter der Hauptpersonen hinlänglich unterrichtet werden. Dieses wird in viel neuen Stüken so sehr versäumt, daß wir ofte eine lange Zeit nicht wissen, worauf es bey der Handlung ankommt. Man wird dieses insonderheit lebhaft fühlen, wenn man den Anfang des Oedipus in dem Trauerspiele des Sophokles mit dem Anfange vergleicht, den Voltaire seinem Oedip gegeben.
In der Musik muß jedes Tonstük so anfangen, daß das Gehör auf nichts vorhergehendes geführt werde. Die Harmonie muß ganz und vollständig seyn, der Gang oder die Figur nicht abgebrochen. So viel immer möglich, muß gleich die erste Periode den Charakter des ganzen Stüks enthalten. Indessen giebt es doch Gelegenheiten, besonders wenn Arien auf Recitative folgen, und dieselbe Empfindung in der Arie nur fortgesetzt wird, daß der bestimmte Anfang unnöthig wird. In dem Tanze muß ebenfalls ein bestimmter Anfang gesetzt werden, damit man nicht glaube, man sehe nur ein Stück desselben. Dieses geschieht bisweilen in den Balleten, da die Tänzer mit einem Sprung aus den Culissen hervor kommen, und uns glauben machen, daß der Tanz, den wir sehen, nur eine Fortsetzung der Handlung sey, die außer unserm Gesichte ihren Anfang genommen hat.
Es ist überhaupt in allen Werken des Geschmaks nöthig, den Anfang so zu machen, daß man natürlicher Weise nicht auf den Gedanken kommen könne, was dieser Sache, die wir itzt sehen oder hören, könnte vorher gegangen seyn. Denn diese Frage würde offenbar anzeigen, daß man uns nicht ein Ganzes, sondern nur ein Stük vorstelle. Hermogenes erinnert, daß es sehr unschiklich und bäurisch sey, wenn man in einer Abhandlung gleich in die Sache hineinspringt.1 In einer förmlichen Rede, darin etwas abgehandelt wird, ist nicht der Eingang, sondern der Vortrag der Sache, der eigentliche Anfang.
In den Werken der Kunst, die sich auf einmal darstellen, wie alle Werke der zeichnenden und bilden den Künste sind, scheinet zwar weder Anfang noch Ende zu seyn. Dennoch ist unumgänglich nothwendig, daß sie mit einer Art von Anfang und Ende, als ganz beschränkte und für sich bestehende Dinge, in die Augen fallen. S. ⇒ Ganz.
1 | Hermog. de Invent. L. II. c. 1. |
Buchempfehlung
Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.
64 Seiten, 5.80 Euro