Beweis

[157] Beweis. (Beredsamkeit)

Die Kunst einen Beweis zu führen scheinet der wichtigste Theil der Beredsamkeit zu seyn. In gerichtlichen Reden kommt auf die Beweise alles an; in Berathschlagenden sehr vieles: aber auch außer diesen Hauptgelegenheiten hat man fast überall nöthig das Urtheil andrer zu lenken, oder sein eigenes zu rechtfertigen. Eigentlich besteht die ganze Beredsamkeit darin, daß man sich so wol des Urtheils, als der Empfindungen der Menschen durch [157] die Rede bemächtige. Das erste geschieht durch überführende Beweise. Hiebey kommt es auf zwey Hauptstüke an, nämlich auf die Erfindung oder Ausforschung der Beweisgründe, und auf die richtige Anwendung und Ausführung derselben. Einige alte Lehrer der Redner haben jeden dieser beyden Punkte in besondern Abhandlungen ausgeführt. Die Wissenschaft der Erfindung und Erforschung der Beweisgründe wurd Topica genennt, und die, welche die Ausführung derselben lehrt, bekam den Namen Dialectica. Von der erstern wird in dem Artikel Beweisgründe gehandelt, und von der andern in dem Art. Beweisarten. Aristoteles und Cicero haben über beyde gründlich geschrieben, und die stoische Schule, wie Cicero sagt, hat sich allein in der zweyten hervorgethan.

Hier bleibet übrig von dem zu sprechen, was der Redner überhaupt, bey den Beweisen zu bedenken hat. Zu jedem Beweis werden zwey Eigenschaften erfodert, Wahrheit oder doch Wahrscheinlichkeit, und Deutlichkeit oder wenigstens große Klarheit.

Die Wahrheit der Sache hängt zwar nicht von dem Redner ab, sie muß in der Sache selbst liegen, aber bey ihm steht es sie zu erforschen und andern fühlbar zu machen. So lange der Redner die Wahrheit der Sache, die er behaupten will, nicht selbst einsieht, so ist es vergeblich den Beweis zu unternehmen; und wenn er so gar vom Gegentheil überzeuget ist, so muß er sich dieses nicht einfallen lassen. Wenn also der Redner sich in vorkommenden Fällen nicht bloßstellen will, so muß er überhaupt bey Erlernung der Kunst und in seinen Bemühungen in derselben vollkommener zu werden, sich eine große Gründlichkeit angewöhnen, und sich vor aller Spizfindigkeit, der falschen Gründlichkeit kleiner Geister, mit äußerster Sorgfalt hüten.

Zu dem Ende muß er sich in gründlichen Wissenschaften fleißig üben, damit er sich ein scharfes Nachdenken angewöhne und aus seinem eigenen Gefühl wisse, was wahre Ueberzeugung sey. Hiernächst befleiße er sich auch überhaupt durch beständiges Nachdenken die Gründlichkeit des Geschmaks zu bekommen, wodurch in jeder Sache das Große und Wichtige von dem kleinen und unerheblichen richtig unterschieden wird. Er gewöhne sich jede Vorstellung auf die Waage der gesunden Vernunft zu legen, um zu sehen, ob sie ein merkliches Gewicht habe. Das was würklich wichtig ist, halte er allein werth überdacht, und dem Gedächtniß anvertraut zu werden; alles andre lasse er fahren.

Am allermeisten hüte er sich für Spizfinndigkeit, wodurch irgend ein Schein für das Ansehen einer Sache erzwungen wird, dessen Nichtigkeit eher durch die gesunde Vernunft zu fühlen, als durch den Verstand deutlich aus einander zu setzen ist. Es ist beßer, daß man die Sachen, die nicht einen überwiegenden, sehr fühlbaren Grad der Wahrheit haben, für unausgemacht halte, wenn man sich gleich darin betröge, als daß man von leichtem Geiste regiert, alles scheinbare annehme, aus Furcht sich etwas gutes entgehen zu lassen.

Unumgänglich nothwendig ist es, um ein gründlicher Redner zu seyn, daß man keine falsche Sache zu beweisen übernehme, auch keine zu deren Erhärtung man nicht offenbare Gründe vor sich sieht. Denn in diesem Fällen muß man Beweise erzwingen oder erschleichen. Erkennt man die Sache mit überlegender Vernunft für wahr, so wird man durch genugsames Nachdenken allemal auch einen richtigen Beweis dafür finden.

Diesen Geschmak der Gründlichkeit muß man durch fleißiges Lesen der vorzüglich gründlichen Reden der besten griechischen und römischen Redner und Philosophen erhöhen. Fürnehmlich müssen die besten Reden des Demostehnes und Cicero vielfältig gelesen werden.

Zu der Gründlichkeit in dem Beweisen muß auch die Deutlichkeit hinzukommen. Zwar nicht die philosophische Deutlichkeit, die jede Vorstellung bis auf die einfachen Begriffe zergliedert, sondern die ästhetische Deutlichkeit, die bey dem klaren Gefühl der Sachen stehen bleibt. Der Redner bleibet in einzeln Begriffen bey der anschauenden Erkenntnis stehen, sucht aber denselben einen hohen Grad der Klarheit und Lebhaftigkeit zu geben. (S. Ueberzeugung.) Diese Fertigkeit deutlich zu seyn, bekommt man nicht ohne große Bemühung und lange Uebung. Die meisten Menschen haben aus einer angebohrnen Trägheit des Geistes sich angewöhnt, mit klaren und dabey verworrenen Begriffen und Vorstellungen zufrieden zu seyn. Diese unglükliche Trägheit muß der gute Redner schlechterdings überwunden haben. Er muß niemal zufrieden seyn, bis er jeder Vorstellung, die seinen Geist zu beschäftigen würdig genug ist, den höchsten Grad der Deutlichkeit, [158] der er fähig ist, gegeben hat. Zu dem Ende muß er sich unnachläßig in den Versuchen üben, alles deutlich zu sehen, und das, was er selbst so sieht, mit der höchsten Klarheit auszudrüken.

Eine wichtige Sache bey dem Beweisen ist auch der Ton, in welchem sie vorgetragen werden. Man bemerkt bisweilen einen gewissen Ton der Wahrheit und der Ueberzeugung von Seite des Redners, der uns sanft, aber unwiderstehlich, zum Beyfall nöthiget, wenn wir auch sonst die Stärke des Beweises nicht einsehen, ja selbst da, wo gar kein Beweis angegeben wird. Denn so wie wir geneigt sind, mit dem traurigen zu trauren und mit dem lachenden zu lachen, so fühlen wir auch einen Hang demjenigen Beyfall zu geben, wovon wir andre überzeuget sehen. Es wird nicht überflüßig seyn hier ein Beyspiel anzuführen, darin dieser Ton der Wahrheit sich klar bemerken läßt, da man ohne dem ihn nicht beschreiben, sondern nur an Beyspielen merklich machen kann.

In der Andromache des Euripides wird diese unglükliche Prinzeßin von der Hermione beschuldiget, daß sie durch allerhand Künste die Zuneigung des Neoptolemus gewonnen, und ihn ihr, als der rechtmäßigen Gemahlin und der Tochter des Menelaus entzogen habe. Andromache beweißt ihre Unschuld in folgender Rede.

»Sage mir doch, du junge, unerfahrne Königin, worauf sollte sich mein Vorsatz, dich aus dem rechtmäßigen Ehebett zu vertreiben, gründen können? Ist etwa itzt Sparta geringer als die phrygische Troja, und geht diese jener an Glükseligkeit vor? Bin ich etwa frey, oder jung oder zur Wollust gebildet? Kann ich etwa aus Stolz auf die Macht meiner (in der Asche liegenden) Vaterstatt, oder auf meine (umgebrachte) Freunde, es versuchen, an deiner Statt in deinem Hause zu herrschen? Sollte ich etwa Lust haben deine Unfruchtbarkeit hier zu ersetzen und Kinder zu gebähren, mir zur größten Last, und daß sie dir künftig zu Sclaven dienten? Bilde ich mir etwa ein, daß die Griechen des Hektors halber mich so sehr lieben, daß sie meine Kinder, wenn du keine hast, zu Königen dieses Landes machen? u. s. w.«.1 Jedermann fühlt den Ton der Wahrheit, womit Andromache hier ihre Unschuld beweißt.

Wenn dieser Ton der Wahrheit zugleich durch den würklichen Ton der Stimme, durch die Stellung und Gebehrdung des Redners unterstüzt wird, daß der Zuhörer fühlt, er rede aus innerster Ueberzeugung, so wird sein Beweis die volle Würkung thun. So lange der Zuhörer ohne Vorurtheil ist, wird man ihn sehr geneigt finden, dem Beyfall zu geben, der etwas auch ohne Beweis in dem Ton der Wahrheit versichert. Bemerken wir an dem Redner eine bescheidene Zuversichtlichkeit in seine eigene Ueberzeugung, und ein natürliches einfaches Wesen, womit er uns dessen versichert, so ersezt unser Herz, was dem Verstand fehlt, und wir glauben, ohne zu sehen. Läßt aber der Redner das geringste merken, daß er unsern Beyfall erzwingen will, so widersteht die Neigung der Ueberzeugung. Gar oft schadet der Redner seinem Beweis, wenn er sich bey klaren Sachen zu lange aufhält, um sie noch deutlicher zu machen. Die wahre Gründlichkeit ist einfach und kurz. Gewisse Gründe sprechen durch die Sache selbst am lautesten, und ihre Stimme wird durch übertriebenes Bemühen des Redners geschwächt. Hieher gehört auch, was wir im nächsten Artikel von den pathetischen Beweisen anmerken.

Durch die Art des Vortrages kann der Redner einem Beweis sehr aufhelfen, oder schaden. Der stärkste Beweis kann durch einen schlechten und schwachen Vortrag seine Kraft verliehren. Das klare kann durch die Aussprach und den Ton dunkel, das kurze, langweilig, und das lebhafte, schwach werden. Vornehmlich hat der Redner genau zu überlegen, wo eigentlich in seiner Rede der Ort ist, da natürlicher Weise verschiedene vorgetragene Gründe ihre Würkung nun auf einmal thun sollen. Da muß er alle Kunst anwenden sie gut zu vereinigen, den Verstand die Einbildungskraft und das Herz des Zuhörers auf einmal lebhaft anzugreifen.

Bey der Bestätigung des Satzes, wozu mehrerley Beweise angeführt werden, kommt auch ofte viel auf die Ordnung an, darin sie einander folgen. Die Frage ist ofte untersucht worden, ob die starken oder die schwächern Gründe zuerst sollen aufgestellt werden. Quintilian rathet von den schwächern den Anfang zu machen.2 Allein die Sache [159] scheinet mir nicht außer allem Zweifel. Wenn ein scharfsinniger Zuhörer einige schwache Beweise hintereinander anhört, so kann er leicht verdrießlich werden und die Aufmerksamkeit auf stärkere verlieren. Auf der andern Seite kann man sagen, daß die lezten Eindrüke immer die wichtigsten sind, Man findet also bey großen Rednern Beyspiele von beyden entgegen stehenden Ordnungen.

Am sichersten scheinet es zu seyn, daß man die Hauptbeweise zuerst vorbringe. Hat man wahrscheinlicher Weise damit den Zuhörer nahe an die Ueberzeugung gebracht, so häufe man schnell noch verschiedene geringere Beweise zusammen und lasse sie in geschloßnen Gliedern den Zuhörer angreifen, so wird die Würkung nach Wunsch ausfallen.

Zur Erläuterung dieser Regel wollen wir setzen, man habe eine geschehene Sache durch Zeugnisse erhärtet, oder einen Satz durch andre Gründe so wahrscheinlich gemacht, daß dem Zuhörer nur noch wenige Zweifel übrig seyn können. Nun setze man gleich noch verschiedene kleinere Gründe nach, welche zeigen, daß die Sache der Natur der Personen, den Zeiten, den Umständen u. s. f. gemäß sey, so wird aller Zweifel verschwinden. Dieses will ohne Zweifel Quintilian durch folgende Regel sagen: Die stärksten Beweise, sagt er, muß man einzeln wol ausführen, die schwächern kurz aneinander drengen. – Wenn man einen beschuldiget er habe einer Erbschaft halber einen Mord begangen (und hätte z. E. den Hauptbeweis durch wahrscheinliche Zeugnisse geführt; so kann man, wenn die Umstände so sind, folgende Gründe noch hinzu fügen.) Du hattest Anwartschaft darauf, du warst in Noth und damals von deinen Gläubigern am stärksten getrieben; dazu hattest du deinen Erblaßer damals beleidiget, und wußtest daß er das Testament eben ändern wollte. Man begreift leicht, daß solche geschlossene Gründe, eine Sache außer Zweifel setzen müssen, von welcher man schon durch andre stärkere Anzeigen bey nahe überzeuget worden.

Sind aber die Beweise so beschaffen, daß die schwächeren den stärkern zur Grundlage dienen, daß sie erst dem Zuhörer vorläufig einige Zweifel benehmen, ihn in die Denkungsart setzen, die zur Würkung der stärksten Beweise nöthig ist, so muß die erwähnte Ordnung nothwendig umgekehrt werden.

1Enrip. Androm. VI. 190-202.
2Prout ratio causæ cujusque postulabit ordinabuntur, uno (ut ego censeo) excepto, ne a potentiffimis ad lævissima decrescat oratio.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 157-160.
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