Bildhauerkunst

[174] Bildhauerkunst.

Wiewol der Name dieser Kunst anzuzeigen scheinet, daß sie nur Bilder aus harten Materien aushauet, so gehört auch das Formen der Bilder in weiche Materien, und das Giessen derselben in Metalle, dazu. Nicht nur steinerne und hölzerne Bilder, sondern auch aus Ton, Gyps und Metall geformte, oder gegossene, sind Werke dieser Kunst. Sie beschäftiget sich zwar mit Verfertigung allerley Arten von Bildern, hauptsächlich aber mit solchen, die Menschen oder Thiere in ihrer ganzen körperlichen Gestalt vorstellen.

Wenn diese Kunst würdig seyn soll, eine Gespielin der Beredsamkeit und der Dichtkunst zu seyn, so muß sie nicht blos bey der Belustigung des Auges stehen bleiben, und ihre Werke müssen nicht blos zur Pracht, oder zur Verzierung der Gebäude und der Gärten dienen, sondern starke, daurende und vortheilhafte Eindrüke auf die Gemüther der Menschen machen. Dieses kann sie auch so gut, als irgend eine der andern schönen Künste thun, ob sie gleich in den Mitteln weit eingeschränkter ist, als die meisten andern.

Der wichtigste aller sichtbaren Gegenstände ist der Mensch. Nicht wegen der Zierlichkeit seiner Form, wenn diese gleich das schönste aller sichtbaren Dinge wäre; sondern deswegen, weil diese Form ein Bild der Seele ist; weil sie Gedanken und Empfindungen, Charakter und Neigungen in körperlicher Gestalt darstellt. Der Leib des Menschen ist nichts anders, als seine sichtbar gemachte Seele. Also bildet diese Kunst Seelen, mit allem, was sie interessantes haben, in Marmor und Erzt. Die Seele selbst aber scheint ein Bild des höchsten Wesens, des erhabensten, vollkommensten und besten Gegenstandes zu seyn. Diese Kunst kann demnach das höchste, was der Mensch zu denken und zu empfinden im Stand ist, dem Gesichte darstellen. Man sagt von dem Jupiter des Phidias, es habe ihn niemand ansehen können, ohne von der Majestät des göttlichen Wesens gerührt zu werden. Wer also die Kunst besitzt, wie Phidias sie besessen hat, der kann alles, was groß und edel ist, abbilden, und dadurch in jedem fühlbaren Herzen Rührungen von der höchsten Wichtigkeit erweken.

Daß die Bildhauerkunst nicht zu dieser Absicht ist erfunden worden, daß sie selten zu einem höheren Zwek, als zur Ergetzung des Auges, oder zur Pracht angewendet wird, kann ihre höhere Bestimmung nicht aufheben, noch vereitlen. Da überhaupt die Absicht dieses Werks nicht ist, die schönen Künste in der Gestalt zu zeigen, die sie würklich haben, sondern diejenige merkbar zu machen, die sie haben können, so sehen wir hier mehr auf das Mögliche, als auf das Würkliche. Warum sollten wir anstehen, einer Sache dasjenige zuzueignen, was würklich in ihrer Natur liegt? Warum sollten wir bey einem geringen Gebrauch stehen bleiben, so lange ein wichtigerer möglich ist? Dieser höhere Gebrauch ist hier um so viel mehr zu suchen, da die Bildhauerkunst grössere Anstalten und mehr Aufwand, als andre Künste erfodert. Ihre [174] Werke sind kostbar und höchst mühsam; also muß auch der Zwek derselben groß seyn.

Sie soll also nicht eine flüchtige Ueberraschung der Einbildungskraft, nicht eine bloße Ergetzlichkeit des Auges, nicht die Bewunderung der Geschiklichkeit und des Reichthums, sondern etwas grösseres zum Endzwek haben. Sie sucht tiefe Eindrüke des Guten, des Erhabenen und des Grossen zu machen, die nach der Betrachtung des Bildes auf immer in der Seele übrig bleiben. Erst zieht sie das Aug durch die harmonische Schönheit der Formen auf sich; denn reizet sie dasselbe durch den Ausdruk zu ernsthafterer Betrachtung. Es sieht nun Gedanken, Empfindungen, Grösse des Geistes, und Kräfte, daraus jede Tugend entsteht, angedeutet, dringt durch das äusserliche in das innere, und stellt sich ein denkendes und empfindendes Wesen vor, das den Marmor belebt. Denn bestrebet sich der Geist und das Herz, die Vollkommenheit, deren Begriff durch das Bild erwekt worden ist, ganz zu fassen, seine eigene Gedanken und Empfindungen darnach zu stimmen; die ganze Seele strebt nun nach einem höhern Grade der Vollkommenheit. Dieses ist ohne Zweifel eine Würkung, die von vollkommenen Werken der Bildhauerkunst zu erwarten ist.1 Also weiß ein Phidias Seelen erhöhende Kräfte in den Marmor zu legen; ist vermögend, jede Vollkommenheit des Geistes, jede Tugend und jede Empfindung des Herzens, den Sinnen fühlbar zu machen. Was kann aber zur Bestrebung nach innerlicher Vollkommenheit nützlicher seyn, als wenn wir dieselbe fühlen? Unter allen sichtbaren Dingen ist der Mensch ohne allen Zweifel der wichtigste Gegenstand des Auges; in dem Menschen aber können alle menschliche Tugenden sichtbar werden – vielleicht auch übermenschliche; wenn nur die Muse dem Künstler ein höheres Ideal in seine Phantasie gelegt hat. Was also der Moralist mit ungemeiner Mühe dem Verstand vorstellt, grosse Muster jeder Vollkommenheit, das giebt der bildende Künstler, wenn ihm nur die Geheimnisse seiner Kunst geoffenbaret sind, dem Auge zu sehen. Dieses aber ist das Höchste der Kunst.

Auch in ihren geringern Werken, selbst da, wo sie blos zur Verzierung der Städte, der Gärten, der Gebäude und der Wohnungen arbeitet, ist sie noch eine nützliche Kunst, wenn sie nur von dem guten Geschmak geleitet wird. Das Schöne selbst in leblosen Formen, das Schikliche, selbst in gleichgültigen Dingen, das Ordentliche, das Angenehme und andre Eigenschaften dieser Art, haben allemal einen vortheilhaften Einfluß auf die Gemüther. S. Baukunst. Verzogene Gestalten aber, von denen das Auge nichts begreift; Formen, die die Natur verkennt; elende Nachahmungen natürlicher Dinge; Vermischung widerstreitender Naturen, sind Mißgeburten der Kunst, und Gegenstände, an die sich das Auge nicht ohne schädliche Würkung auf die Denkungsart, gewöhnet.

Die Bildhauerkunst kann also ihren Rang unter andern schönen Künsten, mit völligem Recht behaupten. Mittelmäßig scheinet sie von überaus geringem Nutzen zu seyn; aber in ihrer Vollkommenheit darf sie keiner andern nachstehen. Würkt sie gleich nicht auf so mancherley Art auf die Gemüther, als die Dichtkunst, so ist ihre Würkung desto nachdrüklicher.

Von dem Ursprung dieser Kunst weiß man nichts zuverläßiges. Aus der H. Schrift ist bekannt, daß schon zu den Zeiten der Patriarchen Bilder der Götter in Mesopotamien vorhanden gewesen. Dergleichen mögen bey mehrern Völkern selbiger Zeit im Gebrauch gewesen seyn. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Verehrung der Götter sichtbare Bilder derselben veranlaset, und daß durch diese die Bildhauerkunst nach und nach aufgekommen sey: wiewol auch der Einfall, durch Hieroglyphen etwas auszudruken, die Gelegenheit dazu mag gegeben haben. Bey verschiedenen Völkern mag sie durch verschiedene Veranlasungen entstanden seyn.

Unter den alten, aus der Geschichte bekannten Völkern, haben die Aegyptier, die Phönicier, die Griechen, sowol in Kleinasien, als in dem eigentlichen Griechenland, und die Hetrurier, diese Kunst vorzüglich ausgeübet; aber die Griechen, und nächst diesen die Hetrurier, haben sie zur höchsten Vollkommenheit gebracht. Winkelmanns Geschichte der Kunst, die in jedes Liebhabers Händen ist, enthält die richtigsten Nachrichten und Bemerkungen über den Ursprung, den Flor und den Verfall derselben.

Es scheinet, daß die Aegyptier blos einen religiösen Gebrauch davon gemacht haben, dabey aber bey der hieroglyphischen Bedeutung der Bilder stehen geblieben seyn. Wenigstens ist kein ägyptisches Bild bekannt, das ausser seiner hieroglyphischen Bedeutung[175] etwas vorzügliches hätte. Die Phönicier haben sie allem Ansehen nach auch zur Auszierung ihrer Gebäude, und zur Verschönerung der Geräthschaften gebraucht, und zugleich zum Vortheil der Handlung angewendet. Eigentliche Werke der Bildhauerkunst von diesem Volke haben sich nicht erhalten. Einen weitern Umfang scheinet die Kunst bey den Hetruriern gehabt zu haben. Sie hatten nicht nur vielerley Bilder der Gottheiten, von hieroglyphischer Bedeutung, und mancherley Bilder, wodurch ihre religiöse Begriffe sinnlich vorgestellt wurden; auch politische und sittliche Gegenstände beschäftigten die bildenden Künste. Eine Menge historischer Bilder aus der ältesten Geschichte ihrer Stammväter, und unzählige Vorstellungen, die sich auf das Sittliche in ihrem Charakter und in ihrer Lebensart beziehen, sind noch itzt vorhanden. Die bildenden Künste scheinen überhaupt bey diesem Volke von einem so sehr ausgebreiteten Gebrauch gewesen zu seyn, daß selbst die gemeinesten Geräthe, die gewöhnlichsten zum täglichen Gebrauch dienenden Gefässe, ein Gepräge davon hatten. Was man von Werken der mechanischen Künste in die Hände bekam, hatte etwas bildliches an sich, das gewisse religiöse, oder politische oder sittliche Begriffe erwekte. Auf diese Weise konnten die bildenden Künste einen unaufhörlichen Einfluß auf die Gemüther haben. Allein auch dieses geistreiche Volk scheinet die wichtigste Art der Kraft in den Werken der bildenden Künste, wenig gekennt zu haben. Ihre Vorstellungen hatten wenig mehr als hieroglyphische Bedeutung. Nur den Griechen war es vorbehalten, das höchste in der Kunst zu erreichen. Sie allein scheinen empfunden zu haben, daß nicht nur menschliche, sondern so gar göttliche Eigenschaften dem Auge könnten empfindbar gemacht werden. Also erhob sich die Bildhauerey unter den Händen der griechischen Künstler nach und nach zu dem höchsten Gipfel der Vollkommenheit, bis sich Phidias getraute, die Hoheit Gottes in erhöhter menschlicher Bildung auszudrüken. Wie weit es den griechischen Künstlern gelungen, nicht nur erhabene menschliche Seelen, sondern so gar höhere Kräfte sichtbar zu machen, können wir aus verschiedenen übrig gebliebenen Werken der griechischen Kunst abnehmen. Der Gebrauch, den die Griechen von den bildenden Künsten machten, ist der höchste, den man davon machen kann. Denn von allem was in ihrer Götterlehre, in ihrer Geschichte und überhaupt in dem menschlichen Charakter groß ist, suchten sie ihren Mitbürgern eine Empfindung zu erweken, indem sie in den Statuen der Götter, der Helden und der tugendhaften Männer nicht sowol ihre körperliche Gestalt, als die Grösse des Geistes abbildeten. Dieses war die höchste, wiewol nicht die einzige Bestimmung der Kunst. Gegenständen, in denen ihrer Natur nach keine moralische Kräfte liegen, konnte die bildende Kunst auch keine geben; aber sie gab ihnen, was sie geben konnte, Schönheit und Schiklichkeit der Formen.

Die Römer hatten diese Kunst anfänglich ohne Zweifel von ihren Nachbaren, den Hetruriern, bekommen, und wie es scheinet, einen mäßigen Gebrauch davon gemacht, indem sie Bilder zur symbolischen Vorstellung ihrer Gottheiten, und andre, um das Andenken ihrer Voreltern und einiger ihrer verdienten Männer zu erhalten, aufstellten. Lange hernach aber, da sie erst in den griechischen Colonien, hernach in Griechenland selbst, ihre Eroberungen ausgebreitet, lernten sie die Werke der Griechen kennen. Es scheinet aber, daß sie dieselben blos als einen Gegenstand der Pracht, oder höchstens als Monumente der Kunst und des Geschmaks und auf die Weise geliebet haben, wie etwa gegenwärtig die sogenannten Liebhaber alle Werke der zeichnenden Künste lieben. Der ursprüngliche Gebrauch der Bilder wurde aus dem Gesichte verlohren, und man sah sie größtentheils als Zierrathen an, wodurch man den öffentlichen Plätzen, den Gebäuden, den Säälen und Gallerien ein Ansehen geben konnte. So wie die Ueppigkeit in Rom überhand nahm, stieg auch zugleich diese Liebhaberey an den Werken der griechischen Kunst, die zuletzt bis zur Raserey ausartete. Man weiß, daß der gute Cicero selbst nicht ganz frey davon war.

Man hat also in diesem Zweig der Kunst die Römer mehr wie blosse Liebhaber, als wie Künstler anzusehen. Sie plünderten ganz Griechenland aus, um durch die geraubten Werke der Kunst ihre Cabinetter zu bereichern;2 so wie itzt mancher [176] Naturaliensammler aus Osten und Westen Schmetterlinge und Muscheln einsammelt, nicht um die Natur kennen zu lernen, sondern ein reiches Cabinet zu haben. Schon daraus allein könnte man vermuthen, daß Rom keine Bildhauer von der ersten Grösse wird gezogen haben; denn dieses ist nur da möglich, wo die Künste zu ihrer höchsten Bestimmung angewendet werden. Jedermann kennt die schönen Verse, durch welche Virgil die Römer wegen Mangels dieser Kunst tröstet:


Excudent alii spirantia mollius æra:

–– –– –– –– ––

Tu regere imperio populos Romane memento:3


Man kann hieraus den nicht unwichtigen Schluß ziehen, daß die höchste Liebhaberey, und die reichsten Kunstsammlungen eben keinen grossen Einfluß auf die Erhöhung der Kunst haben. An keinem Orte der Welt sind jemal mehr schöne Werke der bildenden Künste zusammen gewesen, als in Rom, das zu den Zeiten des Augustus vermuthlich mehr Bilder aus Erzt und Marmor, als lebendige Menschen gehabt; und nirgend ist die Liebhaberey stärker gewesen: dennoch hat Rom wenig gute Künstler hervorgebracht. Selbst unter der Regierung des Augustus waren die meisten Bildhauer in Rom Griechen. Diese scheinen mehr die Werke ihrer ehemaligen grossen Meister nachgeahmet, als selbst grosse Werke erfunden zu haben. Indessen erhielt sich die Kunst unter den Kaysern, in dem Grad der Vollkommenheit, den sie unter Augustus gehabt hatte, noch eine ziemliche Zeit hindurch. Winkelmann setzt ihren Verfall in die Regierung des Severus, und ihren Untergang noch vor Constantinus dem Grossen.

Nachher war die Verehrung der Bilder in der christlichen Kirche eine Gelegenheit, wenigstens das mechanische der Bildhauerkunst von dem gänzlichen Untergange zu retten. Es wurden durch alle Zeiten der Barbarey, die auf die Zerstöhrung des abendländischen Reichs folgten, noch immer Bilder gehauen; und etwas, das dem Schatten der Kunst ähnlich ist, erhielt sich. Kayser Theodosius der Grosse hat eine Ehrensäule, nach Art der trajanischen setzen lassen, auf welcher Bildhauerarbeit seyn soll, in der man den guten Geschmak nicht gänzlich vermißt: die Academie der Mahler in Paris soll eine Zeichnung davon haben.4

Es sind also in Griechenland und vielleicht in Rom, alle Jahrhunderte durch, die von dem Untergang Roms, bis auf die Wiederherstellung der Wissenschaften, verflossen sind, Bildhauer gewesen: aber ihre Werke verdienten nicht auf uns zu kommen; oder wenn sie sich erhalten haben, so verdienen sie wenigstens unsre Aufmerksamkeit nicht. Es fehlet uns an einer gründlichen Geschichte von der Wiederherstellung dieser Kunst, so weit sie wieder hergestellt ist. Sie hat in Italien angefangen, sich wieder aus dem Staub empor zu heben. Die Gelegenheit dazu scheinen die reichen Handlungsstädte dieses Landes, besonders Pisa, gegeben zu haben. Der erworbene Reichthum machte ihnen Lust zu bauen; man ließ Baumeister und Bildhauer aus Griechenland kommen, und man brachte auch antikes Schnitzwerk, aus den Trümmern der ehemaligen griechischen Gebäude, nach Italien. Man erwähnt namentlich eines gewissen Nicolaus aus Pisa, vom 13ten Jahrhundert, der von den Griechen die Bildhauerkunst gelernt, und seinen Geschmak nach dem, was er von dem Antiken gesehen hat, soll gebildet haben. Um dieselbe Zeit soll auch in Rom, in Bologna und in Florenz, die Kunst aufs neue aufgekeimt haben. Auch wird ein Andreas von Pisa um dieselbe Zeit als ein guter Bildhauer genennt. Um das Jahr 1216 verfertigte ein gewisser Marchione das Grabmal Pabst Honorius III. in einer zu Sta. Maria Maggiore gehörigen Capelle, welches schon Spuren des wiederkommenden guten Geschmaks zeigen soll. Zu Anfang des 15ten Jahrhunderts finden wir schon einen Mann, dessen Arbeit selbst Michel Angelo soll bewundert haben: nämlich Lorenzo Ghiberti, der aus einem Goldarbeiter ein Bildhauer und Stempelschneider geworden. Von ihm sind die aus Erzt gegossenen Thüren der Kirche des h. Johannis des Täufers in Florenz, die Mich. Angelo für würdig erklärt hat, an dem Eingange des Paradieses zu stehen. Um dieselbe Zeit lebten auch in Florenz noch andre geschikte Bildhauer, Donat oder il Donatello, Bruneleschi und Andr. Verochio. Von diesem ist das gegossene Bild zu Pferde, des Bartolomeo Cleone von Bergamo, das in Venedig auf dem Platz des heil. Johannis und des heil. Paulus steht. Bald nach diesen kam Michel Angelo, den man mit Recht unter die größten Bildhauer der neuern Zeit setzet. Durch ihn ward also diese Kunst einigermaassen in[177] Italien wieder hergestellt, und von da breitete sie sich auch hernach in andre Länder, diesseits der Alpen aus.

Allein den Glanz und die Grösse, die sie vormals in Griechenland gehabt hat, konnte sie aus mehrern Ursachen, unter den Händen der Neuern nicht wieder bekommen. Athen hat wahrscheinlicher Weise so viel Bildhauer gehabt, als gegenwärtig in ganz Europa sind. Was ist aber natürlicher, als daß unter hundert Menschen, die sich auf eine Kunst legen, eher ein grosser Kopf sich findet, als unter zehen? Und daß, bey einerley Genie, die Nacheyferung, und die daher entstehende vollkommene Entwiklung der Talente stärker seyn müsse, wo viel Künstler zusammen sind, als wo sie einzeln leben? Daraus allein läßt sich schon abnehmen, daß die Neuern in dieser Kunst überhaupt hinter den Griechen zurük bleiben.

Ein andrer sehr starker Grund, der den Vorzug der Griechen über die Neuern vermuthen liesse, wenn wir ihn nicht durch die Erfahrung wüßten, liegt in dem Gebrauch der Kunst. Es scheint sehr widersinnig, und doch ist es wahr, daß die eingebildeten Gottheiten der Griechen den Künstlern mehr Stoff zum grossen Ausdruk gegeben haben, als die Heiligen geben, die von den Christen verehrt werden, (denn die Gottheit selbst abzubilden, untersteht sich niemand mehr,) deren Tugenden mehr stille Privattugenden, als grosse und heldenmüthige Bestrebungen der Seele gewesen sind. Welcher von beyden Künstlern natürlicher Weise zu grössern Gedanken werde gereizt werden, der, der einen Herkules, oder der andre, der einen heiligen Anachoreten zu bilden hat, läßt sich ohne alle Mühe erkennen. Eben so grosse Vortheile lagen auch in der politischen Anwendung der Kunst unter den Griechen. Niemand, der nicht in der Geschichte der Menschlichkeit ganz fremd ist, kan daran zweifeln, daß die Bildhauer in Athen grössere Helden, und überhaupt grössere Männer, und beyde in grösserer Zahl, vor ihren Augen gehabt, als irgend ein neuer Künstler haben könnte; daß die Thaten und Tugenden dieser Männer, natürlicher Weise, die Einbildungskraft und das Herz der damaligen Künstler weit mehr müsse erwärmt haben, als ähnliche Fälle gegenwärtig thun würden.

Was von den Rednern in Athen angeführt worden,5 gilt auch von den Bildhauern. Jederman war ein Kenner, und der Künstler hatte das Lob und den Tadel aller seiner Mitbürger zu erwarten. Ein ganzes Publicum, unter dessen Augen er beständig war, hatte auch seine Arbeit täglich vor Augen, und wußte sie zu beurtheilen. Daß auch dieses eine grosse Würkung auf die Künstler müsse gehabt haben, kann nicht in Zweifel gezogen werden. Das honos alit artes, ist nicht nur von der Menge der Künstler zu verstehen, sondern vornehmlich von der Nahrung, die der Geist, zu Erhöhung der Talente, von der Hochachtung bekommt, die man Künstlern erweißt.

Daß endlich auch die Bildung des Menschen, oder die Natur, deren Studium dem Künstler die Begriffe an die Hand giebt, die sein Genie hernach veredelt, und bis zum Ideal erhöhet, in Griechenland vollkommener gewesen, und durch die griechischen Sitten sich freyer entwikelt habe, als es unter den neuern Völkern geschieht, ist von Winkelmann gründlich dargethan worden.

Wenn also in dieser Kunst, wie in so manchen andern Dingen, die Griechen unsre Meister sind, so ist es nicht dem Mangel an Genie, sondern verschiedenen, theils natürlichen, theils zufälligen Ursachen zuzuschreiben, die den Griechen günstiger als uns gewesen sind.

Wiewol nun die Neuern würklich einige grosse Bildhauer gehabt haben, so kann man doch nicht eigentlich sagen, daß die Bildhauerkunst jemal in den neuern Zeiten, in würklichem Flor gewesen sey: denn dazu gehört in der That mehr, als daß etwa alle zehen Jahre in irgend einer Hauptkirche, oder in einer grossen Hauptstadt, ein Bild von einiger Wichtigkeit, zur öffentlichen Verehrung aufgestellt werde. Daß bey günstigen Umständen ein Michel Angelo, und auch unsre Deutsche, ein Schlüter und ein Balthasar Permoser, sich zu der Grösse der guten griechischen Bildhauer würden erhoben haben, daran läßt sich mit Grund nicht zweifeln.

1Statue.
2Marcellus – – ornamenta urbis, signa tabulasque, quibus abundabant Syracusæ, Romam devexit. Hostium quidem illa spolia & parta jure belli. Cœterum inde primum initium mirandi grœcarum artium opera licentiaque hinc sacra profanaque omnia vulgo spoliandi, factum est. Liv. L. XXV. 40
3Aen. VI.
4Histoire des arts qui ont rapport au dessein par Mr. Monier.
5S. Beredsamkeit.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 174-178.
Lizenz:
Faksimiles:
174 | 175 | 176 | 177 | 178
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon