Einbildungskraft

[291] Einbildungskraft. (Schöne Künste)

Das Vermögen der Seele die Gegenstände der Sinnen und der innerlichen Empfindung sich klar vorzustellen, wenn sie gleich nicht gegenwärtig auf sie würken. Es ist also eine Würkung der Einbildungskraft, daß wir uns eine Gegend, die wir ehedem gesehen haben, mit einiger Klarheit wieder vorstellen, ob sie gleich nicht vor unsern Augen ist. Insgemein erstrekt sich der Begriff dieser Fähigkeit noch etwas weiter, indem man ihr auch noch das zuschreibt, was wir die Dichtungskraft genennt haben.1

Die Einbildungskraft ist eine der vorzüglichsten Eigenschaften der Seele, deren Mangel den Menschen noch unter die Thiere erniedrigen würde; weil er alsdenn, als eine blosse Maschine, nur durch gegenwärtige Eindrüke und allemal nach Maaßgebung ihrer Stärke würd in Würksamkeit gesetzt werden. Wir betrachten sie aber hier nur, in so fern sie eine der vorzüglichsten Gaben des Künstlers ist, und ihre Würkung an den Werken des Geschmaks bewundern läßt. Sie ist eigentlich die Mutter aller schönen [291] Künste, und durch sie unterscheidet sich der Künstler vorzüglich vor andern Menschen, so wie der Philosoph sich durch Verstand unterscheidet.

Zwar wird kein Mensch ohne Einbildungskraft gefunden, aber nur der kann ein Künstler werden, in dessen Seele sie mit vorzüglicher Lebhaftigkeit würket. Das Wesen der schönen Künste besteht darin, daß sie für jeden gegebenen Fall, da man auf die Gemüther andrer Menschen würken soll, die Vorstellungen in denselben erweken, welche die verlangte Würkung mit vorzüglicher Kraft hervorbringen. Da aber nichts stärker auf uns würkt, als die Gegenstände der Sinnen und der unmittelbaren Empfindung, so müssen die Künste durch Hülfe der Einbildungskraft des Künstlers, aus der ganzen Natur die sinnlichen Gegenstände zusammenbringen, deren Würkung in jedem Fall nöthig wird. Wessen Einbildungskraft leicht und schnell, bey jeder natürlichen Veranlasung, das, was er jemal von sinnlichen Dingen mit vorzüglicher Würkung gefühlt hat, wieder gleichsam an seine Sinnen zurükbringt, der kann, wenn es ihm sonst nicht an Erfahrung fehlt, fast allezeit, welche Empfindung er will, in sich selbst hervorbringen. Kommt nun zu dieser Würkung der Einbildungskraft die Gabe und die Fertigkeit, durch die schiklichsten Zeichen, von dem was er selbst sich vorstellt, ähnliche Vorstellungen auch in andern zu erweken, so ist er ein Künstler. Demnach ist die Einbildungskraft, wie gesagt worden, die Mutter der schönen Künste. Durch sie liegt die Welt, so weit wir sie gesehen und empfunden haben, in uns, und mit der Dichtungskraft verbunden wird sie die Schöpferin einer neuen Welt. Dadurch erschaffen wir uns mitten in einer Wüste, paradisische Scenen von überfliessendem Reichthum und von reizender Annehmlichkeit; versammeln mitten in der Einsamkeit diejenige Gesellschaft von Menschen, die wir haben wollen, um uns, hören sie sprechen, und sehen sie handeln.

Man schreibet der Einbildungskraft Leichtigkeit zu, wenn sie bey der geringsten Veranlasung eine grosse Menge sinnlicher Gegenstände sich wieder vorstellt; Lebhaftigkeit, wenn diese wiederkommende Vorstellungen einen grossen Grad der Klarheit haben; Ausdähnung, wenn sie viel solcher Vorstellungen auf einmal mit Klarheit hervorbringt: diese drey Eigenschaften hat die Einbildungskraft des Künstlers in höhern Graden, als sie bey andern Menschen sind. Durch die Leichtigkeit der Einbildungskraft wird sein Werk reich an Vorstellungen; durch ihre Lebhaftigkeit geräth er in Begeisterung und sein Werk gewinnt dadurch das Feuer, das auch uns anflammet; ihrer Ausdähnung haben wir hauptsächlich Ordnung, Plan und Ebenmaaß in grössern Werken zu danken, und sie macht dem Künstler auch die Wahl des Bessern möglich.

Aber alle diese Vorzüge sind nur noch ein Theil des dem Künstler nöthigen Genies. Denn die Einbildungskraft ist an sich leichtsinnig, ausschweiffend und abentheuerlich, wie die Träume, die ihr Werk sind, wenn sie allein in der Seele würkt: allein kann sie den Künstler nicht groß machen. Ein feines Gefühl der Ordnung und Uebereinstimmung muß sie beständig begleiten, um dem Werk, das sie erschafft, Wahrheit und Ordnung zu geben; eine durchdringende Beurtheilungskraft, und starke aber allezeit auf Wahrheit und auf die wichtigsten Beziehungen der Dinge gegründete Empfindungen, müssen die Herrschaft über sie behalten. Denn Weh dem Künstler von vorzüglicher Einbildungskraft, der diese Begleiter und Beherrscher mangeln: sein Leben wird ein immerwährender Traum seyn, und seine Werke werden mehr den Abentheuern einer bezauberten Welt, als den schönen Scenen der würklichen Natur gleichen. Was für ausschweiffende Dinge würde uns nicht Homer von seinen Helden erzählt haben, wenn nicht seine ausserordentliche Einbildungskraft durch jene höhere Gaben wäre regiert worden? Wir sehen es an dem Ariost, dem diese Gaben zwar nicht gemangelt haben, bey dem sie aber nicht so herrschend gewesen, daß nicht die stärkere Einbildungskraft bisweilen sich ihres Einflusses entzogen hätte.

Die Einbildungskraft ist zwar unmittelbar eine Gabe der Natur, die sich vielleicht auf feinere Sinnen, auf eine vorzügliche Sinnlichkeit der ganzen Seele, und auf eine grosse Lebhaftigkeit des Geistes gründet; sie kann aber ohne Zweifel, wie alle andre Gaben der Natur, durch Uebung gestärkt werden, und diese Uebung gehört zur Bildung des Künstlers.

Scharfe Sinnen sind der Erfolg einer glüklichen Organisation, aber die Weltweisen lehren uns, daß sie durch Uebung noch mehr geschärft werden. Durch sie erlanget der Mahler ein schärferes Gesicht, mißt Verhältnisse, sieht feinere Abänderungen der Umrisse und Schattirungen der Farben, wo ein [292] andrer mit gleich scharfem Auge sie nicht sieht. Wer sein Gehör wenig in Bemerkung der feinern Modification des Klanges geübt hat, der empfindet bey dem Klang einer Gloke etwas ganz einförmiges, darin er nichts unterscheidet, da das geübtere Ohr des Tonkünstlers eine Menge einzeler Töne darin bemerket.2 Darum befahl Pythagoras seinen Schülern, ihr Gehör täglich an dem Monochord zu üben. Ohne die fleißigsten Uebungen der Sinnen, für welche der Künstler arbeitet, wird seine Einbildungskraft da, wo er sie am meisten nöthig hat, mittelmäßig bleiben. Aber der Dichter, der allein für alle Sinnen arbeitet, muß auch alle durch Uebung verfeinern.

Auch der Hang nach einer allgemeinen Sinnlichkeit, wodurch die Einbildungskraft unterstützt wird, kann durch Uebung vermehrt werden. Hier ist nicht von der gröbern Sinnlichkeit die Rede, von dem blos thierischen Hang, undeutliche, von allem geistigen Wesen entblößte, nur den Körper reizende Empfindungen zu haben. Je mehr die Seele des Künstlers sich von dieser groben Sinnlichkeit entfernt, je mehr gewinnt seine Einbildungskraft, weil diese Sinnlichkeit die Seele mit Trägheit erfüllt, und ein blos leidendes Wesen aus ihr macht. Die feinere Sinnlichkeit des Künstlers ist ein Hang, sich den sinnlichen Eindrüken mit Geschmak und Ueberlegung so zu überlassen, daß man jedes reizbare darin bemerkt, ohne es ergründen oder es der Prüfung des Verstandes unterwerfen zu wollen. Der Künstler überläßt sich der angenehmen Empfindung, die der Regenbogen in ihm erwekt, mit Geschmak, indem er jedes einzele dieser Empfindung besonders, aber doch immer auch alles zugleich empfinden will; er fühlt die Schönheit der Farben, die Harmonie derselben, und die liebliche Wölbung des Bogens, einzeln und doch alles zugleich: da der weniger sinnliche Naturforscher beschäftiget ist, bey dieser Empfindung mehr seinen Verstand, als seine untern Seelenkräfte zu üben. Er will die Entstehung der Farben, und die geometrische Bestimmung der Rundung deutlich erkennen. Dieser Hang in jeder Vorstellung das einzele aufzusuchen, abzusöndern und mit Deutlichkeit zu fassen, ist der Grund des Untersuchungsgeistes, und zerstöhrt die Sinnlichkeit, die eine Stütze der Einbildungskraft ist.

Es kann einem künftigen Künstler, dessen Einbildungskraft an das Ausschweiffende gränzet, nützlich seyn, die strengern Uebungen des Verstandes durch Erlernung der Wissenschaften, bis auf einen gewissen Grad zu treiben. Ein grosser Dichter nennt die Meßkunst ganz richtig den Zaum der Phantasie;3 aber der zum Künstler berufene Jüngling muß sich, wo er nicht ein ausserordentliches zu allem gleich aufgelegtes Genie hat, nicht zu tief in abgezogene Untersuchungen einlassen, er muß sich vorzüglich bemühen, Begriffe, Wahrheit und allgemeine Kenntnis mehr anschauend in sinnlichen Gegenständen zu empfinden, als durch den reinern Verstand zu erkennen.

Wir haben eine vorzügliche Lebhaftigkeit und Thätigkeit des Geistes mit zu den Grundlagen einer lebhaften und leichten Einbildungskraft gezählt, und auch diese muß durch Uebung vermehrt werden. Jede Seele kann durch Hemmung der Thätigkeit träg werden. Man gebe nur auf die Würkungen der weibischen Erziehung Achtung, bey der das erste Gesez ist, das vornehme Kind von allem, was es in Verlegenheit setzen, von allem, was ihm Mühe machen könnte, von allem, wobey ihm eigene Ueberlegung und Anstrengung seiner Kräfte nöthig wären, zurükzuhalten; jeder Begierde und jeder Aeusserung seiner Würksamkeit zuvorzukommen. Durch eine solche Erziehung wird der Seele ihre männliche Kraft weggeschnitten, alle Nerven werden schlaff, und man macht aus dem Menschen eine Mißgebuhrt, der die wesentlichste Eigenschaft eines vernünftigen Geschöpfes, die innere thätige Würksamkeit benommen ist.

Aber durch fleißige Uebung seiner Vorstellungskräfte erlangt der Geist die Lebhaftigkeit, der er fähig ist. Glüklich hierin ist der, dessen Erziehung frey und thätig gewesen, dessen noch unentwikelte Seelenkräfte hinlängliche Reizung zur Würksamkeit empfunden, der schon früh fühlen gelernt, daß durch Auffoderung seiner Kräfte das Gebieth seiner eigenen Würksamkeit erweitert, durch Unthätigkeit aber in enge Schranken eingeschlossen werde. Dadurch bekommt der Geist seine Lebhaftigkeit, daß er unaufhörlich gegen alle ihm vorkommende Gegenstände würksam wird. Dieses sind also die Mittel der Einbildungskraft ihre völlige Stärke zu geben.

Das nächste, was hierauf zur Bildung eines grossen Künstlers gehört, ist, daß er seine Phantasie bereichere. Denn sie ist das Zeughaus, woraus er die Waffen nihmt, die ihm die Siege über die Gemüther [293] der Menschen erwerben helfen. Die Einbildungskraft erschafft nichts neues, sie bringt nur das, was unsere Sinnen gerührt hat, wieder heran. Also muß sie durch Erfahrung bereichert werden. Der Künstler muß die Gegenstände seiner Kunst zuerst in der Natur gesehen oder empfunden haben, damit sie ihm hernach, wenn er sie gebraucht, wieder gegenwärtig seyen, damit ihre Menge und Mannigfaltigkeit ihm entweder eine gute Wahl verstatten, oder seiner Dichtungskraft Gelegenheit geben, desto glüklicher neue zu erfinden. Also muß er unaufhörlich seine Sinnen für jeden Gegenstand offen halten, daß ihm nichts entgehe; er muß den mannigfaltigen Scenen der Natur und des sittlichen Lebens der Menschen überall nachgehen, sie in mehrern Ländern und unter mehrern Völkern aufsuchen; aber ein scharfer Beobachtungsgeist muß ihn überall begleiten. Was ein guter Kenner4 dem Mahler anräth, kann jedem Künstler zur Lehre dienen; er soll dem Philopömen nachahmen, der auf allen Reisen, auch mitten im Frieden, jede Gegend die ihm fürs Gesicht kam, mit dem Aug eines Heerführers betrachtete; hier stekte er in Gedanken ein Lager ab; da stellte er seine Posten zur Sicherheit aus; hier rükte er gegen den Feind an; durch diesen Weg nahm er einen verdekten Marsch vor; durch dergleichen Betrachtungen bereicherte er seine Einbildungskraft mit allem, was ein Heerführer zur Beurtheilung der guten und schlechten Lage der Oerter nöthig hat. So hat Homer durch Reisen, durch Beobachtung der Menschen, der Sitten, der Künste, der Beschäftigungen im öffentlichen und im Privatleben, seine Einbildungskraft dergestalt angefüllt, daß sie unerschöpflich an jeder Art der Gegenstände geworden. So muß der Mahler sein Aug, der Tonkünstler sein Ohr, aber der Dichter jeden Sinn unaufhörlich gespannt halten, damit seiner Beobachtung von allen ihm dienenden Gegenständen nichts entgehe. Es würde überaus nützlich seyn, wenn jemand mit hinlänglicher Kenntnis der Sachen jungen Künstlern zugefallen, ein Werk schriebe, wodurch sie alle Mittel ihre Phantasie zu bereichern, könnten kennen lernen. Einen Versuch hierüber hat Bodmer gemacht,5 und der Mahler wird in dem fürtreflichen Werk des Leonhard Vinci viel dahin dienendes antreffen.6

Einer lebhaften und mit hinlänglichem Reichthum angefüllten Einbildungskraft, die Geschmak und Beurtheilung zur Begleitung hat, fehlt denn, um die glänzendsten Werke hervorzubringen, nichts weiter, als daß sie zu rechter Zeit gehörig erwärmet werde, und nach Beschaffenheit der Sache eine stärkere oder gemäßigtere Begeisterung in der Seele des Dichters hervorbringe. Wir haben aber an einem andern Orte, so wol die Entstehung, als die wunderbaren Würkungen dieser erhöhten Wärme der Einbildungskraft in nähere Betrachtung gezogen, und das was über die Begeisterung gesagt worden, ist als eine Fortsetzung des gegenwärtigen Artikels anzusehen.

1S. Dichtungskraft.
2S. Harmonie.
3Haller an Hrn D. Geßner.
4Junius da Pictura Vett. L. I. c. 2.
5Von den poetischen Gemählden im 1 Cap.
6Traitté de la peinture.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 291-294.
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