Das letzte in einer Sache, wodurch ihr solche Schranken gesetzt werden, daß nichts mehr folgen kann, das ihr zugehöret. Jeder schöne Gegenstand [316] muß ein Ganzes ausmachen, überall so beschränkt seyn, daß kein Mangel mehr daran zu merken ist. Er muß einen Anfang und ein End haben. Eigentlich wird nur den Gegenständen ein Anfang und ein End zugeschrieben, deren Theile der Zeit nach auf einander folgen; einer Rede, einem Gesang, einer Begebenheit oder Handlung. Doch kann man einigermaaßen auch den Gegenständen, deren Theile auf einmal vorhanden sind, Anfang und Ende zuschreiben; denn wenn sie so sind, daß man an ihren beyden Enden nichts hinzusetzen kann, das noch dazu gehörte, so sagt man, sie seyen vollendet. So ist z. B. eine Säule, die ihren Fuß und ihren Knauf hat, vollendet, und man kann weder unten noch oben etwas hinzu thun, das noch zur Säule gehörte. Beyde, so wol das obere, als das untere Ende, sind daran; deßwegen nennt man sie vollendet, ganz fertig, und betrachtet sie als ein Ganzes.1 Da von dieser Art der Vollendung im Art. ⇒ Ganz hinlänglich gesprochen worden; so bleibt hier übrig die Beschaffenheit des Endes in der Folge der Dinge zu betrachten.
Darum, daß eine Sache das Letzte in der Vorstellung ist, kann sie noch nicht das Ende derselben genennt werden. Wenn eine Erzählung in ihrer Mitte abgebrochen wird, so ist allerdings etwas das Letzte in dem, was erzählt worden, aber die Erzählung hat darum kein Ende. Eben so wenig hat ein aufgegebenes Unternehmen, das weder gelungen noch mißgelungen ist, sondern abgebrochen worden, eh' alles, was dazu gehörte, angewendet worden, ein Ende. Nur alsdann ist das Lezte in einer Sache das Ende derselben, wenn man daraus erkennt, daß die Sache nun Ganz sey, und daß nichts mehr darinn folgen könne.
Je bestimmter und ausdrüklicher das End kann bemerkt werden, je vollkommener ist es, weil alsdann der Geist den Geist den Gegenstand völlig fasset, und ihm nichts mehr zu suchen oder zu verlangen übrig bleibet. Indem man sich die Theile eines wolgeordneten Werks nach und nach vorstellt, so merkt man eine gewisse Bestimmung derselben. Man erkennt oder vermuthet eine Absicht, warum sie auf einander folgen. An dem End erkennet man die völlige Erreichung der Absicht, zu deren Vollkommenheit nichts mehr hinzu gethan werden kann.
Es kann sich aber eine Vorstellung auf zweyerley Art enden, deren jede eine besondere Beschaffenheit des Endes erfodert. Entweder hat man gleich anfangs einen allgemeinen Begriff von der Beschaffenheit des Ganzen, und weiß also, womit dasselbe sich enden muß. Wenn ein Redner oder Dichter den Inhalt der Rede, oder des Gedichts angezeiget hat, so weiß man überhaupt, wo er das Ende derselben setzen wird, nähmlich, da der Inhalt seines Werks vollendet ist. So erwartet man in der Ilias das Ende, wo der Zorn des Achilles und die übeln Folgen desselben erschöpft, oder die Paßion selbst gedämpft ist; in der Odyssee erwartet man es bey der Zurükkunft und Einsetzung des Ulysses in sein Reich; von der Aeneis erwartet man das End da, wo dieser Held einen ruhigen Sitz in Italien gefunden hat.
Eine andre Art des Endes aber ist das, von dessen Beschaffenheit man keine bestimmte Erwartung hat, weil man sich vorher von dem Ganzen keinen Begriff hat machen können, da man die Einheit desselben erst durch das End einsieht. In diesem Fall ist das End der Schlüssel zum Ganzen, ohne den man sich keinen Begriff von der Beschaffenheit der Sache hat machen können. Von dieser Art ist das End einer solchen Rede, deren Absicht man nicht eher erkennt, bis sie ganz vollendet ist. Deutliche Beyspiele eines solchen Endes haben wir an den Gleichnissen, darin die vergliechene Sache erst zuletzt, wenn das ähnliche Bild ganz ausgezeichnet ist, genennt wird. Ein solches End ist auch der moralische Satz einer Fabel, der erst den ganzen Aufschluß zu der Erzählung giebt.
In den Werken der erstern Art muß die Handlung oder die Erzählung ein solches End haben, daß die Erwartung völlig befriediget wird, und alles Versprochene gänzlich erfüllt worden. Da Virgil in der Ankündigung der Acneis gesagt hat, er wolle seinen Helden von Troja aus, durch mancherley Gefahren bis nach Italien begleiten, wo er einen ruhigen Sitz finden soll; so hätte dies Werk kein End, wenn er eher aufgehört hätte. Das Ende der Odyssee wär' unvollkommen, wenn das Werk da aufhörte, als Ulysses wieder in seinem Hause angekommen, und ehe man sähe, ob er ruhigen Besitz von seinem kleinen Staat genommen habe. In dem Drama muß das End so beschaffen seyn, daß die völlige Auflösung der ganzen Verwiklung, und der ganze Zwek der Handlung erfüllt ist. Dieses hat Plautus nicht allemal in Acht genommen. [317] In seiner Casina beruhet die ganze Handlung auf der Verheyrathung dieser Person. Sie wird am Ende blos zum Schein dem Stalino gegeben, und erst, da die Handlung auf der Bühne schon gänzlich aufgehört hat, kommt einer von den Schauspielern noch einmal hervor, und sagt, der Sohn des Stalino werde sie bekommen. Bisweilen geht es gar nicht an, daß die Handlung auf der Bühne oder überhaupt im Drama ganz zu Ende gebracht werde, weil durch die weitläuftigen Veranstaltungen, um das Ende natürlich vorzustellen, der Zuschauer wieder erkalten würde.
Am vollkommensten ist das End dieser Art, wenn es mit einer Handlung, Verrichtung oder Begebenheit endiget, die ein offenbares Zeichen ist, daß alles vollendet sey, so daß es ungereimt wär' einen Zweifel daran zu haben
Das End von der andern Art ist vollkommen, wenn es alles vorhergehende in einen einzigen Gesichtspunkt vereiniget, so daß man nun dasjenige, worauf alle Theile zusammen gestimmt haben, völlig einsieht, und an der gänzlichen Erreichung des Zweks keinen Zweifel mehr haben kann. Sind aber die Theile, welche vorhergegangen, zu mannigfaltig gewesen, als daß sie kurz in einen Gesichtspunkt könnten vereiniget werden, so muß dem End eine Zusammenfassung des vorhergehenden, welche die Lateiner Recapitulatio nennen, vorhergehen. Denn ie kürzer alsdenn das würkliche End ist, je schöner wird es.
Die möglichste Kürze muß bey dem End um so viel mehr in Acht genommen werden, weil es sonst als ein merklich großer Theil wieder ein Ende haben müßte.
Wenn also das, was eigentlich das End einer Handlung ausmacht, selbst eine etwas weitläuftige Handlung wäre, so läßt sie sich würklich weder ganz erzählen noch vorstellen. In der Erzählung muß sie sehr abgekürzt werden; in der Vorstellung muß sie lieber ganz wegbleiben, wenn nur der Zuschauer gewiß ist, daß sie vorgeht. Es geschieht im Drama bisweilen, daß das eigentliche End der Handlung sich nicht vorstellen läßt, und daß der Dichter mit dem Terenz sagen muß: intus transigetur, si quid est quod restet.2 Aber ein solches End ist doch weniger vollkommen.
In der Musik wird das End eines Gesanges dadurch fühlbar, daß man in den Hauptton, in welchem man angefangen hat, und aus dem man in verschiedene andre Töne ausgewichen ist, wieder zurük kehret, und alles mit einer ganzen und vollkommenen Cadenz in diesem Ton beschließt.3 Auch der Tanz muß, sowol in der Musik, als in der Handlung der Personen seinen förmlichen Schluß haben; denn es ist kindisch, daß die Tänzer ohne Schluß der Handlung von der Bühne weglaufen, als wenn sie wären verjagt worden.
Buchempfehlung
Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.
110 Seiten, 4.40 Euro