Erzählung (Beredsamkeit)

[352] Erzählung. (Beredsamkeit)

Ein Haupttheil derjenigen gerichtlichen Reden, in denen es auf die Beurtheilung einer geschehenen Sache ankommt. Der Zwek der Erzählung ist dem Zuhörer den Verlauf der Sachen so vorzustellen, daß sein Urtheil darüber gelenkt werde. Die alten Lehrer der Redner sind, wie man beym Hermogenes, Cicero und Quintilian sehen kann, sehr weitläuftig hierüber. Da hier die Absicht gar nicht ist den Advocaten Anleitung zu geben, wie durch eine schlaue Erzählung eine böse Sache als gut, oder eine gute als bös vorzustellen sey, sondern vorausgesetzt wird, der Redner wolle das, was er selbst gesehen oder erzählen gehört hat, so wie er die Sachen würklich faßt, wieder erzählen, so werden wir uns nur bey Betrachtung einiger allgemeinen Eigenschaften einer guten Erzählung aufhalten. Die Kunst zu erzählen erfodert eigene Gaben, die man nicht durch Regeln bekommt; alles, was die Critik hier thun kann, ist, daß sie einige Winke und Warnungen giebt.

Die Erzählung ist in der Beredsamkeit gerade das, was das historische Gemähld in der Mahlerey ist: beyde werden durch einerley Eigenschaften gut oder schlecht. Jede Erzählung muß die geschehene Sache klar und wahrhaft oder wahrscheinlich vorstellen, damit der Zuhörer über keinen zur Sache gehörigen Umstand in Ungewißheit oder Zweifel bleibe. Zur Klarheit gehört ausser dem guten und richtigen Ausdruk, wodurch die Begriffe auf das genaueste bestimmt werden, die Ordnung und die Vermeidung alles dessen, was eigentlich zur Sache nicht gehört, was keinen Einflus, weder auf den Ausgang der Sache, noch auf das Urtheil, das man von der Sache fällt, haben kann. Bey jeder Erzählung hat man eine gewisse Absicht, aus welcher beurtheilt werden muß, was zur Sache gehört oder nicht. Der Erzähler muß den Zwek der Erzählung, die Vorstellung, die durch dieselbe in völlige Klarheit kommen soll, auf das deutlichste fassen, um zu beurtheilen, was jeder einzele Umstand dazu beytragen könne. Er muß sich auf das genaueste in die Stelle seiner Zuhörer setzen, um zu erkennen, was sie eigentlich durch seinen Vortrag erfahren wollen oder müssen. Eine nothwendige Eigenschaft der Erzählung in Absicht auf die Klarheit ist die Gruppirung der Sachen, das ist, die genaue Unterscheidung der Haupttheile. Die Erzählung muß nicht so unabgesetzt in einem fortgehen, daß der Zuhörer gar nichts begreife, bis man fertig ist. Sie muß in ihre Hauptperioden abgetheilt seyn, deren jede besonders kann gefaßt werden. [352] Zur Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit ist vor allen Dingen nothwendig, daß keine Lüke in der Erzählung gelassen, daß nichts übergangen werde, daraus das, was hernach folget, begreifflich wird. Aber dieses ist noch nicht allemal hinlänglich. Gewisse Theile der Erzählung müssen genau, umständlich und durch solche Kleinigkeiten ausgezeichnet seyn, daß der Zuhörer bey der Sache gegenwärtig zu seyn glaubet. Dadurch wird die Erzählung um so mehr wahrscheinlich, da der Zuhörer sich nicht vorstellen kann, daß alles so umständlich würde können bezeichnet werden, wenn sich die Sachen nicht würklich so verhielten. So wie es gewisse Gemählde giebt, von denen man leicht urtheilen kann, daß sie blos aus der Phantasie, nach einem Ideal gemacht sind, andre hingegen, wo man aus verschiedenen sehr zufälligen Kleinigkeiten gewiß erkennt, daß sie nach der Natur gemacht sind; so ist es auch mit den Erzählungen beschaffen, deren Wahrheit oder Erdichtung man aus Kleinigkeiten am besten beurtheilet. Folgendes Beyspiel aus dem Quintilianus1 kann zur Erläuterung dienen. In portum veni, navim prospexi, quanti veheret interrogavi, de pretio convenit, conscendi, sublatæ sunt anchoræ, solvimus oram, profecti sumus. Alles dieses sagt im Grunde nichts anders, als die zwey Worte: E portu navigavi. Aber das ausgezeichnete Gemählde macht, daß man die Sache zu sehen glaubt. Da bey jeder Erzählung etwas die Hauptsach ist, das, wornach alles andre beurtheilt wird, diese Hauptsach aber, wie die Hauptgruppe des Mahlers2 in dem Gemählde, voranstehen und am deutlichsten ins Gesicht fallen muß; so muß der Redner durch Bezeichnung kleiner Umstände, die Hauptsache nahe vor das Gesicht bringen. Darin ist Homer ein großer Meister der Kunst. Die Hauptsachen heben sich in seinen Gemählden vom Grund heraus, und kommen ganz nahe.

Einen großen Grad der Wahrheit kann auch der Ton der Rede einer Erzählung geben. Ein den Sachen, die man erzählt, völlig angemessener Ton, der sich währender Erzählung immer nach der Beschaffenheit der Dinge, die erzählt werden, abändert, ist beynahe allein hinreichend die ganze Sache wahrscheinlich zu machen; so wie ein falscher Ton, besonders da man zur Unzeit wichtig thut, oder ins declamatorische verfällt, einen sehr großen Verdacht der Unwahrheit erweken kann.3

Es erhellet hieraus hinlänglich, daß es eine höchst schweere Sach ist, gut zu erzählen, und vielleicht erfodert kein Theil der Beredsamkeit fleißigere Uebung, als dieser.

Hermogenes unterscheidet drey Hauptgattungen die Erzählung zu behandeln, die einfache, die ausgeführte, die zierliche. Die erste erzählt die Sache schlechtweg, wie sie geschehen ist, ohne sich in irgend eine Art der Ausschweiffung einzulassen. Sie wird da gebraucht, wo die geschehene Sache an sich selbst mit den dabey vorkommenden Umständen hinreichend ist, dem Zuhörer die Begriffe zu geben, die unsrer Absicht gemäß sind. Von dieser Art ist die Erzählung in des Demosthenes Rede gegen den Conon. Die Sache war an sich so klar, daß der natürlichste Vortrag derselben am geschicktesten war, die Zuhörer gegen den Beklagten einzunehmen.

Die ausgeführte Art besteht darin, daß der Redner verschiedenes beybringt, das in der geschehenen Sache nicht offenbar liegt, indem er Ursachen davon angiebt, Absichten aufdekt, und etwa Umstände ergänzt, alles in der Absicht die Sache gut oder schlecht vorzustellen. Er hilft also dem Urtheil des Zuhörers dabey, da er im erstern Fall es ihm gänzlich frey gelassen hat. Diese Art ist nöthig, wo die vorzutragende Sache etwas zweydeutig ist, so daß der Zuhörer, wenn ihm die Sache einfach erzählt würde, auch wol ein ander Urtheil davon fällen, oder sie anders fassen könnte, als es die Absicht des Redners erfodert.

Die zierliche Art trägt die Sache mit Zusätzen vor, welche die Einbildungskraft des Zuhörers einnehmen. Er mischt Bilder und Nebenumstände in die Sache, welche ihn für oder gegen die Begebenheit einnehmen, welche er entweder auf eine vortheilhafte oder verhaßte Weise vorstellt, so daß er das Urtheil des Zuhörers schon in der Erzählung selbst lenkt. Er braucht die Farben der Beredsamkeit sein Gemähld desto kräftiger zu machen. Dieses ist bey gerichtlichen Erzählungen ein Kunstgriff, der den Sachen den Ausschlag geben kann; und darin war Cicero ein großer Meister. Man überlege folgende Stelle. Anstatt blos zu sagen: Quinctius trauete dem Versprechen des Nävius, trägt er die Sache so vor: Quia, quod virum bonum facere oportebat, id loquebatur Nævius; credit Quinctius eum, qui orationem bonorum imitaretur, facta quoque imitaturum. Dergleichen Wendungen sind um [353] so viel würksamer zur Ueberredung, weil der Zuhörer kaum merkt, daß der Redner seinem Urtheil vorgreift.

Es kann zwar geschehen, daß ein Redner seine Erzählung nur nach einer dieser drey Arten vorträgt. Wenn die Sache sehr klar und jedem hinlänglich einleuchtend ist, so thut die erste Art die allerbeste Würkung. Denn so wie ein Grundsatz durch den Beweis, den man davon geben wollte, nicht nur keine Stärke gewinnt, sondern von seiner Kraft verlieret, so geht es einer offenbar guten oder schlechten Sache, durch eine ausgeführte oder zierliche Erzählung. Die andre Art schiket sich für Begebenheiten, die zwar wenigem Zweifel unterworfen, aber doch durch Erläuterung verschiedener Umstände klärer können gemacht werden. Die dritte Art ist für zweifelhafte Fälle. Indessen geschieht es ofte, daß ein Redner alle drey Arten in einer einzigen Erzählung anbringt; nachdem die besondern Theile der Sache mehr oder weniger klar sind.

1L. IV. C. § 41.
2Gruppe.
3S. Ton der Rede.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 352-354.
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