Gemähld (Musik)

[455] Gemähld. (Musik)

Man nennt in der Musik diejenigen Stellen einer Melodie, dadurch man Töne und Bewegungen aus der leblosen Natur genau nachzuahmen sucht, Gemählde, oder Mahlereyen. Der Wind, der Donner, das Brausen des Meeres oder das Lispeln eines Baches, das Schießen des Blitzes und dergleichen Dinge, können einigermaaßen durch Ton und Bewegung nachgeahmt werden, und man findet, daß auch verständige und geschikte Tonsetzer es thun. Aber diese Mahlereyen sind dem wahren Geist der Musik entgegen, die nicht Begriffe von leblosen Dingen geben, sondern Empfindungen des Gemüths ausdruken soll. Man kann diese Gemählde mit den falschen Gebehrden unwissender Redner vergleichen, wodurch sie uns alles vormahlen; die das Hohe und Tiefe, das Weite und Nahe, das Grade und Krumme, durch die Bewegung der Arme vorzeichnen. Es ist offenbar, daß durch solche kindische Künsteleyen die Aufmerksamkeit von der Hauptsach abgezogen und auf Nebensachen gelenkt wird. Gemählde in der Musik sind gerade so hoch zu achten, als bloße Wortspiele in der Rede. Einem Kenner von Geschmak wird allemal übel zu Muthe, wenn er hört, daß solche Dinge, die seinen Geschmak beleidigen, von unverständigen Liebhabern, als vorzügliche Schönheiten gelobt werden.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 455.
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