[728] Machtspruch. (Redende Künste)
Ein Saz, der sich durch eine vorzügliche Kraft der Wahrheit, oder durch besondere Größe auszeichnet, oder auch von der Zuversichtlichkeit, womit der Redner ihn vorträgt, Stärke oder Gewißheit bekommt. Cicero hat die in der Rede hervorstechenden Gedanken Lichter, lumina Orationis genennt; die Machtsprüche könnten Blize fulgura Orationis genennt werden. Von dieser Art ist der Ausspruch des Stoikers Hierokles: die Wollust für den lezten Endzwek halten, ist eine Lehre für H. –1 Diese wenigen Worte zeigen uns die Lehre der ausgearteten Epicuräer2 in einem Lichte, das uns ihre völlige Falschheit und Niederträchtigkeit anschauend erkennen läßt. Von dieser Art ist auch das Wort des Philosophen Bias: als einige nichtswürdige Kerle, mit denen er sich auf der See befand, bey entstandenem Sturm zu beten anfingen, ruft er ihnen zu: Schweigt ihr! damit die Götter nicht merken, daß ihr da seyd.3
Der Charakter der Machtsprüche besteht demnach in Wahrheit, oder Größe, mit ungemeiner Kürze und Nachdruk verbunden. Sie bewürken ohne Veranstaltung, Ueberzeugung und Bewundrung, und man fühlt sich dabey so mächtig ergriffen, daß man nicht anders denken, oder empfinden kann. Sie gehören deswegen unter die höchsten und wichtigsten Schönheiten der Beredsamkeit und Dichtkunst, weil sie wichtige und zugleich dauerhafte Eindrüke machen. Was man erst durch langes Nachdenken würde erkennet, oder nach langem Bestreben würde gefühlt haben, kommt uns dabey plözlich, und wie durch ein Wunderwerk in das Gemüth. Sie sind als kostbare Juweelen anzusehen, sowol durch den Glanz ihrer Schönheit, als durch innerlichen Werth, höchst schäzbar.
Man sieht wol ein, daß nur die größten Geister fähig sind, solche Machtsprüche zu thun; Köpfe denen nach langem und gründlichem Nachdenken die wichtigsten sittlichen Wahrheiten in der höchsten Klarheit so geläufig worden, daß sie dieselben mit dem vollesten Nachdruk auf die einfacheste und kürzeste Art sagen können; Seelen die durch lange Uebung ihrer sittlichen Kräfte, sie zu einer Höhe gebracht haben, wo ihnen leicht wird, was andern starke Anstrengung kostete.
Wenn der Redner ein Mann von Ansehen ist, für dessen Denkungsart wir zum voraus eingenommen sind, so hat ein Machtspruch, dessen Wahrheit wir nicht einsehen, in seinem Munde die Kraft uns zu überreden. Die Denker selbst unterstehen sich kaum an den Aussprüchen, die große Männer mit völlig zuversichtlichem und entscheidendem Ton vortragen, zu zweifeln; aber für andre, selber wenig denkende Köpfe, macht das Vorurtheil des Ansehens, sie völlig zu unzweifelhaften Wahrheiten. Ein solcher Mann därf nur, um alle seine Zuhörer von einer gewissen Classe plözlich gegen eine Meinung einzunehmen, ihrer mit Verachtung erwähnen. Wenn er z.B. einen Saz etwa so anfienge: Es hat Narren gegeben, die dieses, oder das geglaubt haben; so kann sicher seyn, daß der größte Theil seiner Zuhörer sich nun nicht getraut, diese Sache zu glauben. Solche Machtsprüche gehören unter die Kunstgriffe zur Ueberredung. Hingegen werden sie auch den denkenden Köpfen, wenn der Redner selbst ein Mann von zweifelhaftem Ansehen ist, nur lächerlich. Darum sollen junge Redner und Schriftsteller, deren Ansehen noch nicht feste gesezt ist, fürnehmlich in Sachen, die noch einigem Zweifel unterworfen, sich solcher Machtsprüche, wodurch sie wegen ihres geringen Ansehens mehr verderben, als gut machen würden, sich sorgfältig enthalten.