Moral. Moralisches Gemähld

[776] Moral. Moralisches Gemähld. (Mahlerey)

Unter diesem Namen verstehen wir ein Gemähld von der historischen Gattung, das nämlich handelnde Personen vorstellt, wobey der Mahler die Absicht [776] hat, durch das Besondere, was er vorstellt, dem Verstand etwas Allgemeines zu sagen. Von dieser Art sind Hogarths Kupfer, die den Titel the harlots progress führen. Der Historienmahler hat seinem Beruf genug gethan, wenn er das Besondere mit der vollen Kraft, die darin liegt, vorstellt; der Mahler der Moral aber muß überdem noch durch sein Gemählde den Uebergang von dem Besondern auf das Allgemeine veranlassen. Wenn jener einen bekannten für sein Vaterland sterbenden Helden so mahlt, daß jeder ihn erkennet, seine Großmuth bewundert, und mit Ehrfurcht und Liebe für ihn erfüllt wird, so hat er alles gethan, was man von ihm fodern konnte; dieser, der sich vorgesezt hätte, durch ein ähnliches Gemähld uns die Wahrheit empfinden zu machen, es sey rühmlich und angenehm fürs Vaterland zu sterben, müßte noch mehr thun um sicher zu seyn, daß dieser Gedanken durch das Gemähld in uns erwekt würde, und daß wir ihn lebhaft fühlten. Doch giebt es auch Historien, die unmittelbar lehrreich sind, wenn sie blos rein historisch behandelt würden. So sind der Tyran, Dionisius, wie er in Corinth unter den gemeinen Bürgern, ohne Ehr und Ansehen herumwandelt, oder gar mit Schulhalten sein Brod verdienet; und C. Marius, wie er auf dem Schutt von Carthago von allen Menschen verlassen, sizet, große Beyspiele, aus denen jederman sogleich die darin liegende Lehre zieht. Doch könnte der Mahler die Vorstellung davon durch wol ausgesonnene Zusäze weit rührender machen. Dieses muß allemal die Hauptabsicht des moralischen Gemähldes seyn. So könnten in dem ersten, der beyden angeführten Beyspiele in dem Gemähld ein paar Personen eingeführt werden, davon die eine mit viel bedeutender Gebehrde der andern den erniedrigten Tyrannen zeigte; die andre aber ihre Bewundrung über diesen außerordentlichen Fall mit redender Gebehrde und Miene zu verstehen gäbe.

Der Historienmahler muß seinen Inhalt aus der Geschichte nehmen; aber für die Moral kann er erdichtet seyn, und da kann der Mahler ohne Unschiklichkeit auch allegorische Wesen mit einmischen, wo nicht die Vorstellung schon an sich selbst, hinlänglich spricht, wie in den angeführten Kupferstichen des Hogarths und in den anderswo1 erwähnten schönen Zeichnungen des Herrn Chodowiecky, das Leben eines Mannes nach der Welt, betitelt. Anstatt der Allegorie kann eine wol angebrachte Aufschrift die Deutung der Moral anzeigen. Durch eine solche wird das berühmte Arkadien des Poußins zur Moral.2

Es wäre zu wünschen, daß Künstler und Liebhaber ihre Aufmerksamkeit auf diese Gattung richteten, damit man anstatt der ewigen Wiederholungen mythologischer Stüke, oder sonst unbedeutender biblischer Geschichten, etwas bekäme, wobey der Mahler mehr, als bloße Kunst zu zeigen, und der Liebhaber mehr als blos Zeichnung und Colorit zu bewundern hätte. Nichts beweißt mehr die Armuth des Genies der Mahler, und den Mangel des Geschmaks der Liebhaber, als die Sammlungen historischer Gemählde und Kupferstiche. Wie selten sind nicht darin die Stüke, die sich durch einen wichtigen Inhalt empfehlen? Ich bin mir selbst mit Zuverläßigkeit bewußt, daß eine schön gezeichnete Figur, und Harmonie der Farben, einen starken Eindruk auf mich machen: dennoch kann ich nicht sagen, daß dieser Reiz jemals hinlänglich gewesen wäre, selbst in den prächtigsten Bildergallerien mich vor dem Ueberdruß zu verwahren, den das Leere und Gedankenlose des Inhalts des größten Theiles der Historien, verursachet. Und leyder! ist es mir mehr als einmal in Kirchen nicht besser geworden.

Würde man anstatt der heidnischen Mythologie und der christlichen Legenden gute sittliche Gemählde sehen, was für gute Eindrüke könnte man nicht daher erwarten? An Stoff kann es dem Künstler, der ein Mann von Nachdenken ist, nicht fehlen. Die heilige und weltliche Geschichte, die Schauspiele, die Werke der epischen, dramatischen und lyrischen Dichter, die äsopische Fabel, das tägliche Leben, alles dieses ist reich an einzelen Fällen, die durch ein Wort, oder durch einen Nebenumstand zu allgemeinen Lehren werden können. Was für ein Beyspiel für einen Tyrannen, wenn Dyonisius sich von seinen Töchtern den Bart muß abbrennen lassen, weil er sich vor dem Messer, selbst wenn es in den Händen seiner eigenen Kinder wäre, fürchtet? Was für eine Lehre wenn Damocles in der größten Herrlichkeit ein an dünnen Faden aufgehangenes Schwerdt über seinem Kopfe sieht, und darüber alle vor ihm liegende Güter vergißt?

Otto Vänius hat Denkbilder aus Horazens Gedichten gezogen, herausgegeben, deren Erfindung größtentheils sehr elend ist; und doch ist der Dichter sehr reich an moralischen Gemählden, die wol verdienten[777] von einem Chodowieczky herausgezogen zu werden. Was für ein fürtrefliches Gemählde von der gottlosen Härte eines mächtigen und zugleich geizigen Mannes könnte nicht aus folgender Stelle gezogen werden?


Quid quod usque proximos

Revellis agri terminos et ultra

Limites Clientum

Salis, avarus? Pellitur paternos

In sinu ferens Deos,

Et uxor et vir, sordidosque natos.3


Wie wollte man die Schändlichkeit der Gewinnsucht besser mahlen, als in einer Moral nach folgender Erfindung des Plautus.


–– Nam si sacruficem summo Jovi

Atque in manibus exta teneam ut porrigam; intera loci

Si lucri quid detur, potius rem divinam deseram.4


An wichtigem Stoff zu solchen Gemählden sind alle gute Poeten reich; wenn nur die Künstler sie in der Absicht Gebrauch davon zu machen, lesen wollten.

1S. Mahlerey.
2S. Aufschrift.
3Od. L. II. 18.
4Pseudol.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 776-778.
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776 | 777 | 778
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