Natürlich

[812] Natürlich. (Schöne Künste)

Dieses Beywort giebt man den Gegenständen der Kunst, die uns so vorkommen, als wenn sie ohne Kunst, durch die Würkung der Natur da wären. Ein Gemählde, das gerade so in die Augen fällt, als sähe man die vorgestellte Sach in der Natur; eine dramatische Handlung, bey der man vergißt, daß man ein durch Kunst veranstaltetes Schauspiehl sieht; eine Beschreibung, die Vorstellung eines Charakters, die uns die Begriffe von den Sachen geben, als wenn wir sie gesehen hätten; der Gesang, wobey uns dünkt, wir hören das Klagen, oder die freudigen, zärtlichen, zornigen Aeußerungen einer von würklichen Leidenschaften durchdrungenen Person – Alles dieses wird natürlich genennt. Bisweilen wird auch insbesondere, das Ungezwungene, Leichtfließende in Darstellung einer Sache mit diesem Worte bezeichnet; weil in der That alles, was die Natur unmittelbar bewürkt, diesen Charakter an sich hat. Daher kann man auch einen Gegenstand natürlich nennen, den der Künstler nicht aus der Natur genommen, sondern durch seine Dichtungskraft gebildet hat, wenn er ihm nur das Gepräg der Natur zu geben gewußt hat.

Auch außer der Kunst nennet man das natürlich, was keinen Zwang verräth, was nicht nach Regeln, die man durch die That entdeken kann, abgepaßt, sondern so da ist, oder so geschieht, daß es das gerade, einfache Verfahren der Natur zu erkennen giebt. So nennet man den Menschen natürlich, der sich in seinen Reden, Gebehrden, Bewegungen, mit vollkommener Einfalt, ohne alle Nebenabsichten, ganz seinem Gefühl überläßt, ohne daran zu denken, daß er auf eine gewisse gelernte Weise handeln müsse.

Das Natürliche ist eine der vorzüglichsten Eigenschaften der Werke der Kunst; weil das Werk, dem es mangelt, nicht völlig das ist, was es seyn soll, und weil diese Eigenschaft schon an sich die Kraft hat, uns zu gefallen. Diese beyden Säze verdienen etwas entwikelt zu werden.

Der Zwek der schönen Künste macht es nothwendig, daß uns Gegenstände vorgehalten werden, die uns intereßiren, die unsre Aufmerksamkeit fesseln, und denn die besondere ihrem Zwek gemäße Würkung auf die Gemüther thun. Nun ist zwischen den in der Natur vorhandenen Dingen und dem menschlichen Gemüth eine so genaue Harmonie, als zwischen dem Element, darin ein Thier zu leben bestimmt ist, und dem Bau seines Körpers: die Natur hat unsere Sinnen, und die Empfindsamkeit daraus alle Begierden entstehen, nach den in der Schöpfung vorhandenen Gegenständen, die uns intereßiren sollten, genau abgepaßt; und wir haben kein Gefühl, als für die Dinge, die von der Natur selbst für uns gemacht sind. Will man uns also durch die Kunst rühren, so muß man uns Gegenstände vorlegen, welche die Art und den Charakter der natürlichen haben. Je genauer der Künstler dieses erreicht, je gewisser kann er die gesuchte Würkung von seinem Werk erwarten.

Daraus folget nicht nur, daß er uns nichts schimärisches, nichts phantastisches, der Natur wiederstreitendes vorlegen soll; sondern daß auch die nach der Natur gebildeten Gegenstände ganz natürlich seyn müssen, um die völlige Würkung zu thun. [812] Sie müssen uns täuschen, daß wir ihre Würklichkeit zu empfinden vermeinen. Kinder kann man dadurch rühren, daß man die Hände vor das Gesicht hält, und sich anstellt, als ob man weinte; aber erwachsene Menschen würden dabey den Betrug bald merken. Diese zu täuschen erfodert eine genauere Nachahmung des Weinens.

Daher geschieht es gar ofte, besonders im Schauspiel, daß der Mangel des Natürlichen, er komme von dem Dichter, oder von der schlechten Vorstellung des Schauspiehlers, eine der abgeziehlten gerad entgegenstehende Würkung thut, daß man lacht, wo man weinen sollte, und verdrießlich wird, wo man sollte lustig seyn. So sehr kann der Mangel des Natürlichen die gute Würkung der künstlichen Gegenstände vernichten. Es geschiehet in dem Leben nicht selten, daß bey einer betrübten Scene ein einziger unschiklicher und unnatürlicher Umstand Lachen erwekt: wieviel leichter muß dieses bey blos nachgeahmten Scenen dieser Art geschehen? Darum erfodert das Drama, vornehmlich die höchste Natur sowol in der Handlung selbst, als in der Vorstellung, da der geringste unnatürliche Umstand alles so leicht verderbt.

Aber auch ohne Rüksicht auf die der Natur des Gegenstandes angemessene Würkung, hat das Natürliche an sich eine ästhetische Kraft, wegen der vollkommenen Aehnlichkeit. Ein Gegenstand der in der Natur keines Menschen Aufmerksamkeit nach sich ziehen würde, kann durch die Vollkommenheit der Nachahmung in der Kunst ausnehmend Vergnügen, wovon wir anderswo den Grund angezeiget haben.1 Da das Interesse des Künstlers erfodert, daß sein Werk gefalle, so muß er es auch deswegen natürlich machen.

Aber höchst schweer ist dieser Theil der Kunst: denn in den meisten Fällen hänget das, was eigentlich dazu gehört, von so kleinen und in einzeln beynahe so unmerklichen Umständen ab, daß der Künstler selbst nicht recht weiß, wie er zu verfahren hat. So wußte jener griechische Mahler nach vielen vergeblichen Versuchen nicht, wie das Schäumen eines in Wuth gesezten Pferdes natürlich vorzustellen sey, und der Zufall, da er aus Verdruß den Pensel gegen das Gemählde warf, bewürkte, was er durch kein Nachdenken zu erreichen vermögend gewesen. Die völlige Erreichung des Natürlichen scheinet allerdings das schweereste der Kunst zu seyn.

In Handlungen die sich zur epischen und dramatischen Poesie schiken, wird die Verwiklung und allmählige Auflösung ofte durch eine Menge kleiner Umstände bestimmt, die zusammengenommen, das Ganze bewürken. Läßt der Dichter einen davon weg, oder sezet er einen falschen, an die Stell eines wahrhaften, so wird alles unnatürlich. Oft aber, wenn er alles, was zur Natur der Sache gehöret, anbringen will, wird er schweerfällig, oder verworren. Darum ist es so sehr schweer im Drama das Natürliche in Anlegung der Fabel und Entwiklung der Handlung zu erreichen. Eine Menge französischer Schauspiele werden gleich vom Anfang schweer und verdrießlich; weil man die Bemühung des Dichters gewahr wird, uns verschiedenes bemerken zu lassen, wodurch das folgende natürlich werden sollte. Es ist nicht genug, daß im Drama alles da sey, was die Folge der Handlung bestimmt; es muß auf eine ungezwungene Weise da seyn. Dieses wußten Sophokles und Terenz am vollkommensten zu veranstalten. Euripides aber wird nicht selten durch die Ankündigung des Inhalts in den ersten Scenen unnatürlich.

Auch in den Charakteren, Sitten und Leidenschaften ist das Natürliche oft ungemein schweer zu erreichen. Entweder sind gewisse charakteristische Züge für sich schweer zu bemerken, oder es ist schweer sie, ohne steif zu werden, zu schildern. Darum gelingen auch vollkommen natürliche Schilderungen dieser Art nur großen Meistern. Unter unsern einheimischen Dichtern kenne ich außer Wielanden keinen, dem die natürliche Schilderung dieser sittlichen Gegenstände so vollkommen gelinget; doch will ich weder Hagedorn noch Klopstoken noch Geßnern ihr Verdienst hierin streitig machen. In Leidenschaften ist Shakespear vielleicht von allen Dichtern der glüklichste Schilderer. Ueberhaupt aber können in Absicht auf das Natürliche in allen Arten der dichterischen Schilderungen die Alten, vornehmlich Homer und Sophokles als vollkommene Muster vorgestellt werden. In zärtlichen Leidenschaften aber steht Euripides keinem nach.

Wir können diesen Artikel nicht schließen, ohne vorher eine wichtige hier einschlagende Materie zu berühren. In sittlichen Gegenständen giebt es eine rohere und eine feinere Natur; jene herrscht unter Völkern bey denen die Vernunft sich noch wenig entwikelt hat; diese zeiget sich in sehr verschiedenen [813] Graden nach dem Maaße nach welchem die Künste, Wissenschaften, die Lebensart und die Sitten, den Einfluß einer langen Bearbeitung erfahren haben. In der rohen sittlichen Natur liegt mehr Stärke; die Leidenschaften eines Hurons sind weit heftiger, seine Unternehmungen kühner, als sie in ähnlichen Umständen bey einem Europäer sind. So sind auch Homers Krieger in ihren Handlungen heftiger und in ihren Reden nachdrüklicher, als man izt unter uns ist. Seyt kurzem scheinen einige deutsche Dichter und Kunstrichter es zur Regel zu machen, jene rohere Natur, wegen ihrer vorzüglichen Energie zu poetischen Schilderungen vorzuziehen. Dagegen haben wir schon an einem andern Ort2 einige Erinnerungen vorgebracht. Hier merken wir noch an, daß überhaupt ein Dichter den besondern Zwek seines Werks wol zu überlegen hat, um die Wahl der Gegenstände danach zu bestimmen. Ist es seine Absicht bloße Schilderungen zu machen, die durch die Stärke der natürlichen Empfindungen rühren sollen; so mag er immer den Stoff aus der rohesten Natur nehmen: wir werden seine Schilderungen mit Vergnügen sehen, und sie werden uns zu verschiedenen Betrachtungen über die menschliche Natur Gelegenheit geben; so wie die Erzählungen der Reisebeschreiber die unter die wildesten Völker gerathen, oder in die ausserordentlichsten Unglüksfälle gestürzt worden sind, uns in Erstaunen sezen, und mancherley Betrachtungen veranlassen. Wir werden solche Gedichte lesen, wie wir die Schilderungen eines Homers, Oßians und Theokrits lesen. Aber so bald der Dichter nicht blos interessant, sondern nüzlich seyn will; so muß er bey der Natur bleiben, wie sie sich izt unter uns zeiget. Es ist schweerlich abzusehen, was für einen Nuzen ein Drama auf einer europäischen Schaubühne haben könnte, dessen handelnde Personen Caraiben, oder Huronen in ihrer wahren, höchst kräftigen Natur wären. Zum unterricht für den Philosophen, der gerne den Menschen in seiner rohesten Natur vollkommen gut geschildert zu sehen wünschet, könnte das Werk allerdings dienen. Aber dieses liegt außer dem Zwek der schönen Künste.

Ich weiß wol, daß man die französischen Tragödiendichter durchgehends darüber tadelt, daß sie griechischen Helden französische Sitten und Charaktere geben. Aber ihre Trauerspiele würden darum noch nicht besser seyn, wenn sie einen Agamemnon und andre Personen aus jener Zeit nach der Wahrheit schilderten. Der Fehler liegt in der Wahl des Stoffs selbst, der sich für Frankreich und für die Sitten des Landes nicht schiket. Je mehr eine Nation ihre Sitten durch Vernunft und Geschmak verfeinert hat, je mehr müssen auch die Werke der Kunst diese Stimmung haben, wenn sie einen der Kunst anständigen Zwek erreichen sollen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 812-814.
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