Oratorium

[852] Oratorium. (Poesie, Musik)

Ein mit Musik aufgeführtes geistliches aber durchaus lyrisches und kurzes Drama, zum gottesdienstlichen Gebrauch bey hohen Feyertagen. Die Benennung des lyrischen Drama zeiget an, daß hier keine sich allmählig entwikelnde Handlung, mit Anschlägen, Intrigen und durch einanderlaufenden Unternehmungen statt habe, wie in dem für das Schauspiehl verfertigten Drama. Das Oratorium nihmt verschiedene Personen an, die von einen erhabenen Gegenstand der Religion, dessen Feyer begangen wird, stark gerührt werden, und ihre Empfindungen darüber bald einzeln, bald vereiniget auf eine sehr nachdrükliche Weise äußern. Die Absicht dieses Drama ist die Herzen der Zuhörer mit ähnlichen Empfindungen zu durchdringen.

Der Stoff des Oratorium ist also allemal eine sehr bekannte Sache, deren Andenken das Fest gewiedmet ist. Folglich kann er durchaus lyrisch behandelt werden, weil hier weder Dialog, noch Erzählungen, noch Nachrichten von dem was vorgeht nöthig sind. Man weiß zum Voraus, durch was für einen Gegenstand die Sänger in Empfindung gesezt werden, und die Art, die besonderen Umstände derselben, unter denen der Gegenstand sich jedem zeiget. Dies alles kann aus der Art, wie sich die singenden Personen darüber [852] auslassen, ohne eigentliche Erzählung hinlänglich erkannt werden.

Wenn gleich das Oratorium eine Begebenheit zum Grund hat, z.B. die Kreuzigung, oder die Auferstehung, so macht dieses darum den Erzählenden Vortrag nicht nothwendig; die Begebenheit kann in vollem Affekt lyrisch geschildert werden. So fängt Ramlers Oratorium vom Tode Jesu, mit dieser höchst rührenden lyrischen Schilderung an.1


Ihr Palmen in Gethsemane,

Wen hört ihr so verlassen trauren?

Wer ist der ängstlich sterbende? –

Ist das mein Jesus? u.s.f.


Dieses ist lyrisch erzählt, oder geschildert, und ist die einzige für das Oratorium schikliche Weise, ob sie gleich wenig beobachtet wird.

Dialogische Reden haben da gar nicht statt, weil sie für die Musik sich gar nicht schicken, die weder Begriffe noch Gedanken, sondern blos Empfindungen schildert. Es ist höchst abgeschmakt solche Reden, wie man noch bisweilen im Oratorium hört: »Da sprach die Magd zu Petrus, auch du bist einer von ihnen – Petrus antwortete – Nein ich kenne ihn nicht« in musikalischen Tönen vorzutragen.

Also muß der Dichter im Oratorium den epischen und den gewöhnlichen dramatischen Vortrag gänzlich vermeiden, und wo er etwas erzählen, oder einen Gegenstand schildern will, es im lyrischen Ton thun. Von der lyrischen Schilderung haben wir eine Probe zum Beyspiel gegeben; hier ist eine von der lyrischen Erzählung, aus dem angeführten Stük.


–– Wehe! Wehe!

Nicht Ketten, Bande nicht, ich sehe

Gespizte Keile! – Jesus reicht die Hände dar,

Die theuren Hände, deren Arbeit wohlthun war.

Auf jeden wiederholten Schlag durchschneidet

Die Spize Nerv', und Ader, und Gebein. u.s.f.


Bey dem durchaus herrschenden lyrischen Ton, hat dennoch mannigfaltige Abwechslung statt. Das Recitativ, das Arioso, die Arie, Chöre, Duette und alle gewöhnliche Formen der zum Singen abgepaßten Texte, können verschiedentlich abgewechselt auf einander folgen.

Eine sehr wesentliche Sache hiebey ist dieses, daß der Dichter mehrere Charaktere einführe. Vollkommen Gottesfürchtige, denn noch etwas schwache, auch wol gar verzagte Sünder; Menschen von feueriger Andacht, und denn zärtliche sanft empfindende; denn dadurch bekommt der Tonsezer Gelegenheit jedes Gemüth zu rühren.

Aber die wichtigste Lehre, die man dem Dichter für diese Gattung geben kann, ist diese, daß in den Empfindungen selbst nichts vorkomme, das nicht unmittelbar aus der Hoheit des Hauptgegenstandes entstehe, oder sich darauf beziehe. Der Dichter muß keinen Augenblik vergessen, daß die Personen, die er reden läßt zu einer sehr feyerlichen Gelegenheit versammelt sind, wo alles groß seyn muß. Man muß von den hohen Gegenständen die man vor sich hat, keine besondere Anwendung aufs kleine, auf das, was wenigen Menschen persönlich ist machen, vielweniger sich in allgemeine moralische Betrachtungen einlassen. So ist die erste Arie in dem erwähnten Ramlerischen Oratorium,


Held, auf den der Tod den Köcher ausgeleert,

Hör' am Grabe den, der schwächer Trost begehrt!


ob sie gleich, bey einer andern Gelegenheit schön und wichtig seyn möchte, hier nicht groß genug, da sie aus einem blos besondern Umstand des hohen Gegenstandes erwächst. Wenn der Tod Jesu, als die Versöhnung des ganzen menschlichen Geschlechts angesehen wird; so erwekt besonders der erste Blik auf diese unendlich große Handlung nothwendig auch ganz hohe Empfindungen. Noch weit weniger ist die so schöne Arie:


Ihr weichgeschaffne Seelen,

Ihr könnt nicht lange fehlen: u.s.f.


hier am rechten Orte, wo alles feyerlich seyn soll.

Ich zeige diese Mängel deswegen in dem besten Oratorium, das ich kenne, an, damit es desto deutlicher in die Augen falle, wie nothwendig die gegebenen Erinnerungen sind, da auch unsre besten Dichter dagegen fehlen.

Die Musik muß hier in ihrer vollen Pracht, aber ohne allen Prunk, ohne alle gesuchte Zierlichkeit erscheinen. Hier ist es nicht darum zu thun, schön und angenehm, sondern durchdringend und erhaben zu seyn. Da wir aber von dem Geschmak der Kirchenmusik in einem besondern Artikel gesprochen haben, so wollen wir hier das, was schon dort gesagt worden nicht wiederholen, sondern nur in eben der guten Absicht, in der vorher das Ramlerische Oratorium in einigen Stüken getadelt worden, auch einige schweere Fehler, in der auf eben dasselbe von dem großen Graun selbst verfertigten Musik begangen [853] worden, anzeigen. Die meisten Arien unterscheiden sich nicht genug von Opernarien; fast eben die Weichlichkeit und der übertriebene, beynahe wollüstige Puz der Melodien, und an einigen Orten so gar Spiehlereyen, die die Empfindung tödten; Passagen, die sich zu jeder Leidenschaft gleich gut schiken; weil sie gar nichts sagen. Z.B. in der Arie: So stehet ein Berg Gottes etc. eine Passage auf das Wort stehet, und ein langer Lauf auf das Wort strahlen. In dem so feyerlichen Solo: Weinet nicht, es hat überwunden der Löwe vom Stamm Juda, sind würkliche, bis zum Ekel wiederholte Tändeleyen über die Worte überwunden, der Löwe und dem Stamm Juda. Ich verehre den Mann, der mein Freund war, in seiner Asche, so sehr, als jemand; aber über solche schweere Versehen, bey so höchst feyerlicher Gelegenheit, kann ich, zur Warnung andrer nicht schweigen. Wenn das warme Interesse für das Wahre und Gute mir diesen Tadel zweyer gegen mich freundschaftlich gesinnter Männer abgedrungen; so ist es auch nicht Freundschaft, sondern würkliche Empfindung der Sache, wenn ich beyden über die Arie: Singt dem göttlichen Propheten, meinen lauten Beyfall gebe: viel andrer fürtreflicher Stellen dieser beyden Werke nicht zu gedenken.

1Nach der neueste Ausgabe.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 852-854.
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